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Glänzend erzählt, kühn entworfen und historiographisch vom Feinsten: Bernd Schneidmüller zeigt, dass Europa nie eine Einheitskultur hatte.
Bis sie Afrika umsegelten und die Neue Welt eroberten, war die Geschichte der Europäer von nichts so tiefgreifend bestimmt wie durch ihr Verhältnis zu Asien. Von hier, vom Vorderen Orient, waren ja schon die ersten Menschenrassen selbst in die Wälder Europas eingedrungen; ihnen waren über den Balkan und entlang der Donau oder auch über die Küste bei Marseille vor mehr als 5000 Jahren die Ackerbauern gefolgt, die größten Revolutionäre in der Geschichte der Menschheit. Im 5. Jahrhundert v. Chr. verteidigten die Griechen, angeblich stellvertretend für Europa, ihre Freiheit gegen die Perser. Migranten oder auch Reisende aus dem Nahen Osten verbreiteten die Erlösungs- und Offenbarungsreligionen, ganz zu schweigen von den Errungenschaften in Technik und Wissenschaft, die teilweise sogar aus China, Indien oder Persien stammten.
Als im 7. und 8. Jahrhundert die Araber die Levante und Nordafrika okkupierten und den Islam als letzte der monotheistischen Buchreligionen mitbrachten, wurde Europa erstmals auf sich selbst beschränkt; umgekehrt scheiterten noch im hohen Mittelalter christliche Ritter auf Kreuzzügen mit dem Versuch, aus der Enge ihres Kontinents auszubrechen und den Muslimen Länder jenseits des Mittelmeeres abzunehmen.
In der Verlängerung dieses Spannungsverhältnisses zwischen West und Ost erscheint es plausibel, dass der Heidelberger Mediävist Bernd Schneidmüller die Geschichte des späten Mittelalters um drei Ereignisse anordnet, mit denen "Asien" in der Mitte des 13., 14. und 15. Jahrhunderts tiefgreifend auf "Europa" einwirkte: den Einfall der Mongolen, die über die Seidenstraßen und Schwarzmeerhäfen eingeschleppte Pest und die Eroberung der christlichen Kaiserstadt Konstantinopel durch die türkischen Osmanen. "Diese drei Katastrophen, die aus dem Osten kamen, ergriffen die Menschen mehr als anderes und formten Geschichte in Europa."
Als Opfern der Einbrüche aus dem Osten widmete sich Schneidmüller fast ausschließlich den Christen im westlichen Europa; er will aber eher von Herausforderungen sprechen, denen neue politische und gesellschaftliche Ordnungskonzepte in Europa selbst zur Seite traten. Im 13. Jahrhundert seien dies der Triumph des Papstes über Kaiser Friedrich II. und der neu artikulierte Anspruch westeuropäischer Monarchien auf Eigenständigkeit gewesen; im 14. hätten Fundamentalakte wie die Goldene Bulle von 1356 im Reich oder die drei Ordonnanzen von 1374 in Frankreich die Fragen der Thronfolge geregelt und die Grundmuster monarchischer Ordnung etabliert, und um die Mitte des 15. Jahrhunderts sei der Versuch gescheitert, die römische Kirche statt auf die Hierarchie des Papsttums auf die Autorität von Konzilien und Bischöfen zu gründen. Man könnte versucht sein, die "Ordnungsleistungen" als Antwort auf die induzierten Katastrophen aus Asien zu deuten und dabei an das Konzept der "kreativen Zerstörung" zu denken, mit dem der Ökonom Joseph A. Schumpeter im frühen 20. Jahrhundert die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu erklären versucht hat. Indessen leugnet Schneidmüller entschieden ursächliche Zusammenhänge; vielmehr sei er es selbst, der aus "bloßen Zufälligkeiten chronologischer Nähe" die "drei Knoten von Herausforderungen aus Asien und Ordnungsleistungen in Europa" geschlungen habe.
Um die Gleichzeitigkeit des Entfernten zu vergegenwärtigen, stellt Schneidmüller noch den drei Verknotungen als Leitthemen drei besondere Vorgänge ("Entwicklungsschritte") zur Seite: die Versuche zur Systematisierung von Herrschaft und Wissen im 13. Jahrhundert, die Inszenierung von Willensbildung als Kreation und Ausbildung von politisch-sozialer Ordnung im 14. Jahrhundert und die Aufbrüche der Westeuropäer über ihre Grenzen, die sogenannten "Entdeckungen", im letzten Jahrhundert des Mittelalters.
Bernd Schneidmüller hat mit kühnem Zugriff seinen immensen historischen Stoff zu bewältigen versucht. Vielleicht hat kein Historiograph des Mittelalters vor ihm mit gleicher Ernsthaftigkeit die neuen theoretischen Einsichten beherzigt, dass in der Geschichte allzu glatte Linearitäten zu vermeiden und ganze Epochen nicht homogenisiert werden dürfen. Größte Bewunderung verdient seine Erzählkunst, mit der er das Konstrukt seiner Geschichte mit Begebenheiten und anschaulichen Quellenzitaten aus der Welt der Politik und des Wissens zu beleben vermag. Glänzend gelungen ist ihm insbesondere das Kapitel über die Expeditionen der Portugiesen und anderer seefahrender Völker und Gruppen in den Indischen und über den Atlantischen Ozean.
Allerdings ist sich Schneidmüller selbst bewusst, dass er keine Geschichte Europas, sondern eine Geschichte des späten Mittelalters in Europa geschrieben hat. Für ihn ist der Kontinent bloß Schauplatz des historischen Geschehens und struktureller Wandlungen, ohne dass die Geschichte Europas selbst gedeutet würde. Dies lässt sich wiederum mit historischen Einsichten rechtfertigen, denn schon die Zeitgenossen haben Europa nicht als Einheit und als Gegenstand historischer Reflexion wahrgenommen.
Vielleicht noch wichtiger ist aber, dass Schneidmüller mit seinem Konzept einer transkontinentalen Beziehungsgeschichte den Tendenzen zur globalen Geschichte Rechnung getragen hat. Europa ist für ihn nur als Kreuzungspunkt im Netzwerk globaler und interkultureller Beziehungen zu begreifen. Soll man also annehmen, dass die nun schon jahrzehntelangen Bemühungen um eine Geschichte Europas in der Vormoderne zu nichts als Ratlosigkeit geführt haben und globale Geschichte der rettende Ausweg ist? Vorschnell abschreiben sollte man europäische Geschichte jedenfalls nicht. Zu bewältigen bleiben die unaufhebbaren kulturellen Verschiedenheiten Europas in ihren Wechselwirkungen untereinander und mit äußeren Einflüssen.
Wenn der Lektüreeindruck nicht täuscht, haben sich in Schneidmüllers Darstellung selbst als Sedimente ältere, von ihm verworfene Konzepte einer solchen europäischen Geschichtsschreibung niedergeschlagen. Zum einen betont er, dass die neuere Geschichtswissenschaft immer klarer erkenne, dass Europa keine Einheitskultur auf Grundlage des Christentums hervorgebracht habe, dass es aber noch zu früh sei, auf die Wirksamkeit aller drei monotheistischen Religionen zu rekurrieren. Es stehe die systematische Einbeziehung des Heidentums als einer Vielgötterreligion ins europäische Geschichtsbild noch aus. "Die heutzutage fortschreitende Paganisierung weiter Teile des Kontinents könnten dafür aufs Neue das Bewusstsein schärfen."
Freilich kann man Zweifel daran hegen, dass der "heidnische" Anteil zum tragenden Element einer Geschichte des späten Mittelalters hätte werden können. Anders steht es mit der unbezweifelbaren Feststellung, dass Migrationen Grundlage aller politischen Gemeinschaften in Europa gewesen sind. Die entsprechende historische Überlieferung und die Zeugnisse der mit ihr einhergehenden kulturellen Neuerungen sind überwältigend reich, aber noch durch keine systematischen Studien verfügbar. Hier musste sich Schneidmüller, so er diese Alternative erwogen haben sollte, dem Forschungsstand beugen. Migrationen und ihre transkulturellen Vernetzungen darzustellen wäre aber ein Weg, um, wie es heute geboten ist, Europas Geschichte mit globalhistorischen Fragestellungen in ihrer Eigenart erfahrbar zu machen.
MICHAEL BORGOLTE
Bernd Schneidmüller: "Grenzerfahrung und monarchische Ordnung". Europa 1200-1500.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 304 S., Abb., br., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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