Das Vermächtnis des großen Politikers: Wolfgang Schäuble ermutigt, über die Zukunft zu streiten
Die Pandemie hat vieles, was uns selbstverständlich erscheint, in Frage gestellt. Welchen Preis hat der Schutz des Lebens, wenn zugleich die Grundrechte eingeschränkt werden? Wie balancieren wir die verschiedenen Bedürfnisse in einer Gesellschaft, so dass alte Menschen besonders geschützt und zugleich die Zukunftschancen der nachfolgenden Generationen gewahrt bleiben? Was heißt europäische Solidarität im Lockdown? Wolfgang Schäuble erkundet die politischen Grenzerfahrungen in einem Krisenjahrzehnt und scheut sich nicht davor, auch unbequeme Debatten anzustoßen. Zugleich diskutiert er seine Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit – ob Schutz der Lebensgrundlagen, Umgang mit begrenzten Ressourcen, Exzesse der Globalisierung oder Migration – mit Persönlichkeiten wie Rutger Bregman, Ralf Fücks, Maja Göpel, Sylvie Goulard, Diana Kinnert, Ivan Krastev und Armin Nassehi. Das Buch stößt die Debatte darüber an, was es wertzuschätzen gilt und wo wir unserem Denken und Handeln eine neue Richtung geben sollten.
Die Pandemie hat vieles, was uns selbstverständlich erscheint, in Frage gestellt. Welchen Preis hat der Schutz des Lebens, wenn zugleich die Grundrechte eingeschränkt werden? Wie balancieren wir die verschiedenen Bedürfnisse in einer Gesellschaft, so dass alte Menschen besonders geschützt und zugleich die Zukunftschancen der nachfolgenden Generationen gewahrt bleiben? Was heißt europäische Solidarität im Lockdown? Wolfgang Schäuble erkundet die politischen Grenzerfahrungen in einem Krisenjahrzehnt und scheut sich nicht davor, auch unbequeme Debatten anzustoßen. Zugleich diskutiert er seine Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit – ob Schutz der Lebensgrundlagen, Umgang mit begrenzten Ressourcen, Exzesse der Globalisierung oder Migration – mit Persönlichkeiten wie Rutger Bregman, Ralf Fücks, Maja Göpel, Sylvie Goulard, Diana Kinnert, Ivan Krastev und Armin Nassehi. Das Buch stößt die Debatte darüber an, was es wertzuschätzen gilt und wo wir unserem Denken und Handeln eine neue Richtung geben sollten.
- Mit einem neuen Vorwort zur Paperback-Ausgabe
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2021Ratschläge und Rechtfertigungen
Wolfgang Schäuble diskutiert mit Intellektuellen über die großen Themen der Politik und über sein Herzensprojekt
Am Anfang stand der Lockdown, noch vor dem Ende entstand ein Buch. Unter dem Eindruck der Pandemie hat Wolfgang Schäuble mit Unterstützung der Publizisten Jacqueline Boysen und Hilmar Sack ein Werk herausgegeben, das eine Mischung aus Kompendium und Sammelsurium ist – angereichert mit Interviews und autobiografischen Details des CDU-Politikers. Vieles kommt einem bekannt vor: Es sind Standpunkte und Überlegungen, die Schäuble bereits als Bundestagspräsident in Interviews, Reden oder Beiträgen formuliert hat – gebündelt in einem Buch, das an diesem Montag erscheint: analytisch und klar, wie man es von ihm gewohnt ist.
Das Werk spannt den Bogen über die ganz großen Themen dieser Zeit – von der Freiheit über die Demokratie bis zu nachhaltigem Wachstum und Migration. Am Anfang jedes Kapitels gibt es intellektuell anspruchsvolle Abhandlungen, bei denen an den richtigen Stellen kluge Denker zitiert werden – auffallend viele Historiker von Christopher Clark über Dan Diner bis zu Heinrich August Winkler. Es ist ein Zitatenfundus für jeden, der zu einem dieser Themen mitreden will.
Zu jedem Thema gibt es ein Interview mit jeweils einer Expertin oder einem Experten, das von der Journalistin Tina Hildebrandt oder einem ihrer Kollegen, Rainer Hank oder Jacques Schuster, moderiert wird. Es sind Gespräche auf hohem Niveau, in dem man sich wechselseitig Wertschätzung zuteilwerden lässt. Selten, wie bei jenem Gespräch von Schäuble mit dem Soziologen Armin Nassehi, blitzt auch Humor auf.
Ein Streitgespräch ist es in den meisten Fällen nicht. Eine Ausnahme ist die Auseinandersetzung Schäubles mit der Polit-Ökonomin Maja Göpel, die das Berliner Büro des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie leitet. Hier werden unterschiedliche Standpunkte deutlich. Der CDU-Politiker macht dabei klar, dass er den von Kanzlerin Angela Merkel eingeleiteten abrupten Ausstieg aus der Atomenergie nach der Katastrophe von Fukushima für einen Fehler hält. „Das hatte etwas Zwanghaftes an sich“, so Schäuble. Er verweist auf das Festhalten an dieser Energiequelle in anderen Ländern: „Wenn alle in der anderen Richtung fahren, muss man sich schon gut überlegen, ob man selbst richtig unterwegs ist.“ Er plädiert für AKWs, für „den Bau einer neuen, effizienteren Generation von Kraftwerken mit höchsten Sicherheitsstandards“.
Direkte Kritik an Merkel vermeidet Schäuble. Der frühere Finanzminister nutzt das Buch auch als Rechtfertigung seiner bekannten Positionen – was manchmal etwas Rechthaberisches hat, etwa zur Begrenzung der Staatsausgaben: „Wenn in Deutschland in der Vergangenheit nicht so gut gewirtschaftet worden wäre, gäbe es jetzt nicht die notwendigen Handlungsspielräume, um die uns andere beneiden.“ Er fühlt sich auch bemüßigt, „einer weit verbreiteten Fehlannahme entgegenzuwirken“, dass die Regel zur Schuldenbegrenzung im Grundgesetz von ihm stamme – es sei vielmehr das Werk seines sozialdemokratischen Vorgängers Peer Steinbrück gewesen. „Die Schuldenbremse ist kein christdemokratischer Fetisch, aber sie hat einen ordnungspolitischen Sinn, den wir für die Zukunft nach Corona nicht ignorieren sollten.“
Diese Form von Ratschlägen erteilt Schäuble, der seit 1972 dem Bundestag angehört und vom Verlag als „Deutschlands erfahrenster Politiker“ angepriesen wird, immer wieder. Es geht ihm erkennbar um sein Vermächtnis, aber auch um das, was er noch weitergeben kann und will.
Dabei wird deutlich, dass er vor allem für ein Thema wirklich brennt: die EU. Da wird Schäuble emotional und konkret – was er in seinen anderen Analysen oft vermissen lässt. Schäuble treibt sein Modell eines Kerneuropa, das er erstmals 1994 in einem gemeinsam mit Karl Lamers verfassten Positionspapier vorgestellt hat, weiter – einzelne Staaten sollen in der Integration voranmarschieren und die anderen mitziehen. Am Ende würde eine Art Vereinigte Staaten von Europa stehen, ein „föderatives Europa“. Schäuble plädiert für eine Verschmelzung des Amtes des EU-Kommissionspräsidenten mit jenem des EU-Ratspräsidenten, der durch die EU-Wahl direkt gewählt werden und dann seine Mannschaft selbst zusammensuchen können soll.
Auch für eine Schuldenunion ist Schäuble – was er in der Euro-Krise in Zusammenhang mit Griechenland noch vehement abgelehnt hat. „Wenn wir eine ever closer union anstreben, dann muss diese Union sowohl Kredite aufnehmen dürfen als auch Einnahmen beziehen.“
Zu den schwächeren Passagen gehört der Anlass des Buches, was wir alle, aber insbesondere die Politiker aus der Pandemie lernen sollten. Schäuble plädiert dafür, die getroffenen Maßnahmen „immer wieder zu hinterfragen“, und rechtfertigt sich noch einmal für seinen Satz, „dass wir nicht um jeden Preis jedes Leben schützen können und alles andere dahinter zurücktreten muss“. Zumindest jene Stellen, in denen Schäuble feststellt, Deutschland sei „im letzten Jahr in vielem über sich hinausgewachsen“ und habe eine „ungeahnte Beweglichkeit“ erlebt, sollte angesichts des Missmanagements in vielen Bereichen noch einmal überarbeitet werden. Der nächste Lockdown bietet die Gelegenheit dazu.
ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Zu Deutschlands Rolle in der Welt hat Wolfgang Schäuble (CDU) klare Ansichten, hier ging es um konkret ein Gutachten eines neuen Bürgerrats.
Wolfgang Kumm / dpa
Wolfgang Schäuble:
Grenzerfahrungen.
Wie wir an Krisen
wachsen. Siedler-Verlag, München 2021.
320 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wolfgang Schäuble diskutiert mit Intellektuellen über die großen Themen der Politik und über sein Herzensprojekt
Am Anfang stand der Lockdown, noch vor dem Ende entstand ein Buch. Unter dem Eindruck der Pandemie hat Wolfgang Schäuble mit Unterstützung der Publizisten Jacqueline Boysen und Hilmar Sack ein Werk herausgegeben, das eine Mischung aus Kompendium und Sammelsurium ist – angereichert mit Interviews und autobiografischen Details des CDU-Politikers. Vieles kommt einem bekannt vor: Es sind Standpunkte und Überlegungen, die Schäuble bereits als Bundestagspräsident in Interviews, Reden oder Beiträgen formuliert hat – gebündelt in einem Buch, das an diesem Montag erscheint: analytisch und klar, wie man es von ihm gewohnt ist.
Das Werk spannt den Bogen über die ganz großen Themen dieser Zeit – von der Freiheit über die Demokratie bis zu nachhaltigem Wachstum und Migration. Am Anfang jedes Kapitels gibt es intellektuell anspruchsvolle Abhandlungen, bei denen an den richtigen Stellen kluge Denker zitiert werden – auffallend viele Historiker von Christopher Clark über Dan Diner bis zu Heinrich August Winkler. Es ist ein Zitatenfundus für jeden, der zu einem dieser Themen mitreden will.
Zu jedem Thema gibt es ein Interview mit jeweils einer Expertin oder einem Experten, das von der Journalistin Tina Hildebrandt oder einem ihrer Kollegen, Rainer Hank oder Jacques Schuster, moderiert wird. Es sind Gespräche auf hohem Niveau, in dem man sich wechselseitig Wertschätzung zuteilwerden lässt. Selten, wie bei jenem Gespräch von Schäuble mit dem Soziologen Armin Nassehi, blitzt auch Humor auf.
Ein Streitgespräch ist es in den meisten Fällen nicht. Eine Ausnahme ist die Auseinandersetzung Schäubles mit der Polit-Ökonomin Maja Göpel, die das Berliner Büro des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie leitet. Hier werden unterschiedliche Standpunkte deutlich. Der CDU-Politiker macht dabei klar, dass er den von Kanzlerin Angela Merkel eingeleiteten abrupten Ausstieg aus der Atomenergie nach der Katastrophe von Fukushima für einen Fehler hält. „Das hatte etwas Zwanghaftes an sich“, so Schäuble. Er verweist auf das Festhalten an dieser Energiequelle in anderen Ländern: „Wenn alle in der anderen Richtung fahren, muss man sich schon gut überlegen, ob man selbst richtig unterwegs ist.“ Er plädiert für AKWs, für „den Bau einer neuen, effizienteren Generation von Kraftwerken mit höchsten Sicherheitsstandards“.
Direkte Kritik an Merkel vermeidet Schäuble. Der frühere Finanzminister nutzt das Buch auch als Rechtfertigung seiner bekannten Positionen – was manchmal etwas Rechthaberisches hat, etwa zur Begrenzung der Staatsausgaben: „Wenn in Deutschland in der Vergangenheit nicht so gut gewirtschaftet worden wäre, gäbe es jetzt nicht die notwendigen Handlungsspielräume, um die uns andere beneiden.“ Er fühlt sich auch bemüßigt, „einer weit verbreiteten Fehlannahme entgegenzuwirken“, dass die Regel zur Schuldenbegrenzung im Grundgesetz von ihm stamme – es sei vielmehr das Werk seines sozialdemokratischen Vorgängers Peer Steinbrück gewesen. „Die Schuldenbremse ist kein christdemokratischer Fetisch, aber sie hat einen ordnungspolitischen Sinn, den wir für die Zukunft nach Corona nicht ignorieren sollten.“
Diese Form von Ratschlägen erteilt Schäuble, der seit 1972 dem Bundestag angehört und vom Verlag als „Deutschlands erfahrenster Politiker“ angepriesen wird, immer wieder. Es geht ihm erkennbar um sein Vermächtnis, aber auch um das, was er noch weitergeben kann und will.
Dabei wird deutlich, dass er vor allem für ein Thema wirklich brennt: die EU. Da wird Schäuble emotional und konkret – was er in seinen anderen Analysen oft vermissen lässt. Schäuble treibt sein Modell eines Kerneuropa, das er erstmals 1994 in einem gemeinsam mit Karl Lamers verfassten Positionspapier vorgestellt hat, weiter – einzelne Staaten sollen in der Integration voranmarschieren und die anderen mitziehen. Am Ende würde eine Art Vereinigte Staaten von Europa stehen, ein „föderatives Europa“. Schäuble plädiert für eine Verschmelzung des Amtes des EU-Kommissionspräsidenten mit jenem des EU-Ratspräsidenten, der durch die EU-Wahl direkt gewählt werden und dann seine Mannschaft selbst zusammensuchen können soll.
Auch für eine Schuldenunion ist Schäuble – was er in der Euro-Krise in Zusammenhang mit Griechenland noch vehement abgelehnt hat. „Wenn wir eine ever closer union anstreben, dann muss diese Union sowohl Kredite aufnehmen dürfen als auch Einnahmen beziehen.“
Zu den schwächeren Passagen gehört der Anlass des Buches, was wir alle, aber insbesondere die Politiker aus der Pandemie lernen sollten. Schäuble plädiert dafür, die getroffenen Maßnahmen „immer wieder zu hinterfragen“, und rechtfertigt sich noch einmal für seinen Satz, „dass wir nicht um jeden Preis jedes Leben schützen können und alles andere dahinter zurücktreten muss“. Zumindest jene Stellen, in denen Schäuble feststellt, Deutschland sei „im letzten Jahr in vielem über sich hinausgewachsen“ und habe eine „ungeahnte Beweglichkeit“ erlebt, sollte angesichts des Missmanagements in vielen Bereichen noch einmal überarbeitet werden. Der nächste Lockdown bietet die Gelegenheit dazu.
ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Zu Deutschlands Rolle in der Welt hat Wolfgang Schäuble (CDU) klare Ansichten, hier ging es um konkret ein Gutachten eines neuen Bürgerrats.
Wolfgang Kumm / dpa
Wolfgang Schäuble:
Grenzerfahrungen.
Wie wir an Krisen
wachsen. Siedler-Verlag, München 2021.
320 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 22,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Alexandra Föderl-Schmid sieht diese Sammlung von Gesprächen Schäubles mit Intellektuellen als "Vermächtnis" des Politikers an. Sie hat sie meistenteils gerne und mit Gewinn gelesen, verzeichnet intellektuelle Brillanz und Klarheit, manchmal sogar Witz, selten Streit - eigentlich nur zwischen Schäuble und Maja Göpel über Merkels Fukushima-Entscheidung. Vor allem beim Projekt der EU bringe Schäuble starke Gefühle ein, stehe er für eine Föderation und sogar die "Schuldenunion", bemerkt die aufmerksame Kritikerin, die er in der Griechenlandkrise noch weit von sich gewiesen habe. Die Corona-Krise und ihr Fortdauern nimmt sie dann zum Anlass, ein paar Korrekturen anzumahnen - etwa beim selbstzufriedenen Bezeugen von "ungeahnter Beweglichkeit" Deutschlands in Krisenzeiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine Art intellektuelles Vermächtnis, in dem er aber weder räsoniert noch monologisiert, sondern sich auf die Suche nach Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Krisen des vergangenen Jahrzehnts begibt.« DER SPIEGEL, Lothar Gorris