"Dieses Epos ist Weltliteratur." (Tempo) Billy Parham und sein Bruder Boyd überschreiten noch einmal die Grenze nach Mexiko. Sie sind auf der Suche nach gestohlenen Pferden und den Mördern ihrer Eltern. Abenteuer in der Wildnis, Leben am Rand der Zivilisation - Cormac McCarthys überwältigender Roman ist ein apokalyptisches Epos über die Liebe, den Tod und die Suche nach Identität. Band zwei der Border-Trilogie.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Gestreichelt und gestriegelt
Den Wolf im Schlepptau: Cormac McCarthys "Grenzgänger" / Von Hubert Spiegel
Man hat Cormac McCarthy mit James Joyce und William Faulkner verglichen, mit Hemingway und Walker Percy, mit Cervantes, Gertrude Stein, Mark Twain, Kafka und Flannery O'Connor. Keiner dieser Vergleiche ist völlig aus der Luft gegriffen, für jeden von ihnen gibt es mehr oder weniger gute Gründe. Den einleuchtendsten hat McCarthy selbst genannt, als er lakonisch darauf hinwies, daß Bücher aus Büchern gemacht würden. In den Augen McCarthys folgen die Werke der Weltliteratur vermutlich aufeinander wie alte, längst verblichene Zaunpfosten in der Einsamkeit der nordmexikanischen Ebenen: "Die Zaundrähte hatte man längst abgerissen, aufgerollt und entfernt, die kleinen nackten Mesquitpfähle zogen wie eine Prozession gebeugter, verwachsener Pensionäre im Gänsemarsch in die Nacht."
Mittlerweile bilden die Bücher McCarthys eine eigene kleine Prozession: "Grenzgänger", sein jüngstes Buch, eingerechnet, hat der Zweiundsechzigjährige jetzt sieben Romane veröffentlicht, und im vergangenen Jahr ist auch ein Theaterstück mit dem Titel "The Stonemason" (Ecco Press) erschienen. Bevor 1992 der Roman "All the Pretty Horses" herauskam, zogen McCarthys Bücher hochgelobt, aber kaum gelesen dem unerbittlichen Dunkel der Bibliotheken entgegen. Erst der sechste Roman scherte aus dem Trauerzug aus und verschaffte seinem Autor einen Platz auf den Bestseller-Listen. Daß McCarthy sich dort nicht sehr wohl fühlt, hat er deutlich gesagt. Es ist in literarischer Hinsicht nicht unbedingt die beste Gesellschaft, die sich dort tummelt. Aber das Unbehagen, das McCarthy überfallen hat, mag nicht zuletzt aus der Erkenntnis rühren, daß es schon seine Richtigkeit hat, wenn "All die schönen Pferde" auf den Bestseller-Listen zu finden ist.
Der erste Teil von McCarthys Border-Trilogie, von Hans Wolf kompetent, aber etwa zu eigenmächtig ins Deutsche übertragen, versammelte eine ansehnliche Menge von Versatzstücken amerikanischer Trivialmythen. Es gibt die kaputte Familie und den jungen Rebellen, die Vater-Sohn-Geschichte und die unverbrüchliche Männerfreundschaft, es gibt den armen Jungen und das reiche Mädchen, Sonnenuntergänge, Badeszenen im Mondlicht und natürlich die Titelhelden, die eingefangen und zugeritten, gestreichelt und gestriegelt, gestohlen und zurückerobert werden. Das Buch ist ein Road Movie zu Pferde, ein Abenteuerroman, eine Liebes-und Initiationsgeschichte, die Ende der vierziger Jahre in Mexiko und im amerikanischen Bundesstaat New Mexico spielt und so alt ist wie der amerikanische Traum von Freiheit und Unabhängigkeit - zumindest aber so alt wie Hollywood. Wer den Roman liest, denkt nicht an Joyce, Percy oder Kafka, sondern an Sam Peckinpah und John Ford, James Dean und River Phoenix.
Folglich hat man McCarthy mit ebensoviel Häme wie Berechtigung vorgeworfen, der Roman klage mit jeder Seite lauthals seine Verfilmung ein. Mittlerweile, so ist zu hören, sind die Filmrechte verkauft, und auch ein Regisseur ist gefunden. Aber bevor "All die schönen Pferde" ins Kino kommt, ist der zweite Teil der Border-Trilogie erschienen. Nun muß sich erweisen, ob McCarthy den alten Tugenden abgeschworen und sich tatsächlich der Fabrikation von Bestsellern verpflichtet hat.
Es dauert 180 Seiten, bis der Roman dort angelangt ist, wo sein Vorgänger begonnen hatte: Zwei Halbwüchsige satteln ihre Pferde, lassen die Farmen ihrer Eltern und ihr bisheriges Leben zurück und überqueren die Grenze, die Mexiko von den Vereinigten Staaten trennt. "Sie ritten los, neugierig, was der Tag ihnen bringen würde", heißt es einmal, als die beiden Brüder schon einige Tage unterwegs sind, "nach einer Stunde verhielten sie die Pferde am Ostrand des Steilhangs und betrachteten die Sonne, die sich wie siedendes Glas über den Ebenen von Chihuahua blähte, um die Welt aus dem Dunkel neu zu erschaffen".
Aber es ist nur zum Teil die Neugierde auf eine unbekannte Welt jenseits der Grenze, die Billy Parham und seinen Bruder Boyd auf den Weg gebracht hat. Sie sind auf der Suche nach den Pferden ihres Vaters und den Mördern ihrer Eltern. War es im ersten Teil der Trilogie noch reine Abenteuerlust, die John Grady und seinen Kumpel Lacey Rawlins aufbrechen ließ, so kommt im Folgeband das Motiv der Blutrache ins Spiel. Es ist nur eines unter vielen atavistischen und archaischen Elementen des Romans, der zwar motivisch an "All die schönen Pferde" anknüpft, aber als eigenständiges Buch zu lesen ist.
"Grenzgänger" beginnt mit der Geschichte einer Jagd, wie sie absonderlicher kaum vorstellbar ist. Denn als der Jäger die Beute endlich gefangen hat, tut er alles, um das Wild zu schützen, und riskiert sogar sein eigenes Leben für das Tier. Mit größter Detailgenauigkeit, gleichsam in fotorealistischer Manier, beschreibt McCarthy die Jagd auf eine trächtige Wölfin, von der Vorbereitung der Fangeisen, die präpariert und ausgelegt werden, bis zu dem Moment, in dem der Jäger das Tier in der Falle findet. Nun ist die Jagd beendet, und ein größeres Abenteuer beginnt, bei dem der Junge lernt, daß Freiheit immer leichter zu nehmen als zu geben ist. Billy tötet die Wölfin nicht, sondern befreit sie vorsichtig aus dem Fangeisen, bandagiert den verletzten Vorderlauf und reitet, das mit einem kunstvoll improvisierten Maulkorb versehene Tier im Schlepptau, über die Grenze nach Mexiko, um die Wölfin zurück ins Gebirge zu bringen.
Diese 140 Seiten, die mit dem ersten großen Verlust, der ersten großen Niederlage im Leben des Sechzehnjährigen enden, lesen sich wie eine abgeschlossene Novelle, so meisterhaft erzählt, daß man sich nach der Lektüre kaum vorzustellen vermag, wie McCarthy die noch folgenden dreihundert Seiten gestalten will. Er löst das Problem auf beeindruckende Weise: In der Konstruktion des Romanganzen ist die zunächst so geschlossen wirkende Wolfs-Episode nur ein grandioses Vorspiel, das spätere Handlungselemente präfiguriert. In dem Bildungsroman, der McCarthys Buch auch ist, gehört die Wölfin zu Billys wichtigsten Lehrmeistern.
McCarthy beschreibt die Jagd auf den Wolf zunächst als Ritual einer vergangenen Zeit. In der verlassenen Hütte eines alten Jägers findet Billy Parham alles, was er dafür braucht. In Einmachgläsern, alten Chemikalienflaschen und Kolben mit eingeschliffenen Glasstöpseln schwimmen Leber, Galle, Nieren erlegter Wölfe, deren Sekrete als Lockstoffe dienen. Im Halbdunkel der Hütte stößt Billy auf die "Innereien des Tiers, das vom Menschen träumt und seit über hunderttausend Jahren immer nur diesen Traum von Flucht träumt. Den Traum vom bösen geringeren Gott, der, bleich, nackt und fremdartig geworden, seine Familie und Sippe metzelt und aus dem gemeinsamen Haus vertreibt. Ein unersättlicher Gott, den weder Nachgeben noch Unmengen Blut beschwichtigen können. Staub umwob die Gefäße, das Licht dazwischen machte aus dem kleinen Raum mit den Glasbehältern eine bizarre Basilika, einem Brauch geweiht, der unter den Menschen ebenso rasch aussterben würde wie das Tier, dem er seine Existenz verdankte."
Die Wölfin soll getötet werden, weil sie Kälber reißt. Billy schont sie, aus Mitleid, aus Neugierde und weil er in ihr die Botin einer anderen Welt erkennt, die Hüterin eines verschollenen Wissens. Das Wesen des Wolfes, so hatte ihm einer jener alten Männer gesagt, die in der Border-Trilogie regelmäßig die Wege der jungen Helden zu kreuzen pflegen, sei für den Menschen unergründlich. Der Wolf habe "ein großes Verständnis für Ordnung, er habe dem Menschen etwas voraus, nämlich das Wissen, daß es auf der Welt keine Ordnung gebe, es sei denn die des Todes". Was der Wolf im Blut hat, muß der Junge erst lernen: die Ordnung des Todes und die Furcht vor dem Menschen, dem bösen geringeren Gott, der seine eigene Sippe metzelt.
Es sind grausame Lektionen, denen Cormac McCarthy seine jungen Helden unterzieht. Sie geraten in Hinterhalte, Messerstechereien und mexikanische Gefängnisse, sie werden überfallen und verraten, ausgeraubt, betrogen, gefoltert und erschossen. Die Bilder der Gewalt und des Schreckens werden begleitet von kargen, lakonischen Dialogen, in denen jedes Wort dem Schweigen abgerungen scheint, sie wechseln mit Momenten großer Poesie, mit lyrischen Naturbeschreibungen und Szenen von drastischer, zumeist aber trockener und hintersinniger Komik. Die archaische Welt, die man von McCarthy schon kennt, wird im neuen Roman noch konsequenter und kraftvoller geschildert als im vorangegangenen Buch. Es ist eine Welt, in der die Bösen mehr wissen als die Guten, in der die Untat nicht bestraft und Güte nicht belohnt wird. Eine Welt, in der die Liebe der Verzweiflung entspringt und in Verzweiflung mündet, in der das Leben immer fremd bleibt und die einzige Wahrheit vom Tod verkündet wird.
In dieser Welt sind McCarthys Helden reine Toren, die ausziehen, das Leben zu erfahren. Es geht ihnen nicht um Ruhm und Ehre, sondern um die Erfüllung eines Auftrags, den der Autor erteilt hat. McCarthys Halbwüchsige müssen Abenteuer und Prüfungen bestehen, Prinzessinnen und Pferde kosen, Freunde verlieren und Feinde töten, damit an ihrem Schicksal das Antlitz einer Welt kenntlich wird, die feindlich, verdorben, böse und absurd ist. Naturgemäß stellt der einsame Reiter keine Fragen über das Wesen dieser Welt. Er handelt, weil ihn die Umstände dazu zwingen. Seine Zweifel, Ängste und Qualen bleiben ungesagt, was er gelernt und erfahren hat, sprechen andere für ihn aus.
Blinde Revolutionäre, mit Gott hadernde Priester, alte Frauen, greise Indianer oder namenlose, plötzlich aus dem nichts auftauchende Reiter sind die Instanzen, die zu sagen vermögen, was dem Helden, vermutlich aber auch dem Erzähler auf der Seele liegt. Diese Zufallsbekanntschaften verwickeln die Reisenden in Gespräche über ihr Leben, über das Wesen der Welt, über das Reisen und auch über das Erzählen. McCarthy entfaltet grandiose Binnenerzählungen wie etwa das Gleichnis von den drei Flugzeugen oder die Erzählung von dem Mann, der in einer zerfallenen Kirche haust, ein mexikanischer Hiob, der den Sinn seines Schicksals darin sieht, wider Gott zu sprechen und so, als Zeuge der Anklage, den Gottesbeweis anzutreten.
Später trifft Billy Parham auf einen Greis, der ein Ochsenpaar vor sich hertreibt. Sie reden über das Wetter. Der Alte trägt einen "fleckigen weißen Umhang, die Tracht, in der die Ackerknechte hierzulande die Felder bestellten, wie schmutzbesudelte Insassen eines fernen Tollhauses, die sich auf die Felder verirrt hatten, um dort in träger, sinnloser Wut die Erde zu hacken".
Nur ein einziges Mal darf Billy Parham die Frage stellen, die der Autor ihm von Anbeginn so bleischwer auf die Brust gesenkt hat: "Glauben Sie an Gott? sagte er." Sein Gegenüber zuckt die Achseln: "An göttlichen Tagen." Daß McCarthy nach vierhundert Seiten, auf denen das Metaphysische wie eine Gewitterwolke über allen Köpfen schwebte, auf denen vergangene Welten, uralte Instinkte und die Macht des Blutes beschworen wurden, ein solcher Dialog gelingt, ironisch und federnd leicht, gehört nicht zu den geringsten Kunststücken dieses Buches. An seinem Ende steht ein Bild, das auf grandiose Weise zu der Wolfs-Novelle des Anfangs zurückfindet.
"Er saß gerade da, aß eine Büchse Sardinen und beobachtete den Regen, da tappte plötzlich ein gelber Hund um die Hausecke, kam zur offenen Tür herein und blieb stehen." Die Schnauze grau, die Hinterbeine verkrüppelt, den Kopf schief auf dem Rumpf sitzend, fast blind und arthritisch, schiebt sich das Tier kriechend voran. "Es verharrte ein Stück von der Tür entfernt, hinter ihm fiel der Regen auf Unkraut und Kies; naß, voller Narben und verkrüppelt, sah es aus, als hätten es geistesgestörte Vivisektoren aus Teilen von anderen Hunden zusammengesetzt." Der Junge wirft mit Steinen nach dem verkrüppelten Jagdhund, bis das Tier jaulend verschwindet. Am nächsten Tag macht Billy sich auf, den Hund zu suchen. Er ist, nach der Wölfin, der Botin einer anderen, unerreichbaren Welt, die erste Kreatur, in der der Junge sich wiedererkennt.
Cormac McCarthy: "Grenzgänger". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans Wolf. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 447 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Den Wolf im Schlepptau: Cormac McCarthys "Grenzgänger" / Von Hubert Spiegel
Man hat Cormac McCarthy mit James Joyce und William Faulkner verglichen, mit Hemingway und Walker Percy, mit Cervantes, Gertrude Stein, Mark Twain, Kafka und Flannery O'Connor. Keiner dieser Vergleiche ist völlig aus der Luft gegriffen, für jeden von ihnen gibt es mehr oder weniger gute Gründe. Den einleuchtendsten hat McCarthy selbst genannt, als er lakonisch darauf hinwies, daß Bücher aus Büchern gemacht würden. In den Augen McCarthys folgen die Werke der Weltliteratur vermutlich aufeinander wie alte, längst verblichene Zaunpfosten in der Einsamkeit der nordmexikanischen Ebenen: "Die Zaundrähte hatte man längst abgerissen, aufgerollt und entfernt, die kleinen nackten Mesquitpfähle zogen wie eine Prozession gebeugter, verwachsener Pensionäre im Gänsemarsch in die Nacht."
Mittlerweile bilden die Bücher McCarthys eine eigene kleine Prozession: "Grenzgänger", sein jüngstes Buch, eingerechnet, hat der Zweiundsechzigjährige jetzt sieben Romane veröffentlicht, und im vergangenen Jahr ist auch ein Theaterstück mit dem Titel "The Stonemason" (Ecco Press) erschienen. Bevor 1992 der Roman "All the Pretty Horses" herauskam, zogen McCarthys Bücher hochgelobt, aber kaum gelesen dem unerbittlichen Dunkel der Bibliotheken entgegen. Erst der sechste Roman scherte aus dem Trauerzug aus und verschaffte seinem Autor einen Platz auf den Bestseller-Listen. Daß McCarthy sich dort nicht sehr wohl fühlt, hat er deutlich gesagt. Es ist in literarischer Hinsicht nicht unbedingt die beste Gesellschaft, die sich dort tummelt. Aber das Unbehagen, das McCarthy überfallen hat, mag nicht zuletzt aus der Erkenntnis rühren, daß es schon seine Richtigkeit hat, wenn "All die schönen Pferde" auf den Bestseller-Listen zu finden ist.
Der erste Teil von McCarthys Border-Trilogie, von Hans Wolf kompetent, aber etwa zu eigenmächtig ins Deutsche übertragen, versammelte eine ansehnliche Menge von Versatzstücken amerikanischer Trivialmythen. Es gibt die kaputte Familie und den jungen Rebellen, die Vater-Sohn-Geschichte und die unverbrüchliche Männerfreundschaft, es gibt den armen Jungen und das reiche Mädchen, Sonnenuntergänge, Badeszenen im Mondlicht und natürlich die Titelhelden, die eingefangen und zugeritten, gestreichelt und gestriegelt, gestohlen und zurückerobert werden. Das Buch ist ein Road Movie zu Pferde, ein Abenteuerroman, eine Liebes-und Initiationsgeschichte, die Ende der vierziger Jahre in Mexiko und im amerikanischen Bundesstaat New Mexico spielt und so alt ist wie der amerikanische Traum von Freiheit und Unabhängigkeit - zumindest aber so alt wie Hollywood. Wer den Roman liest, denkt nicht an Joyce, Percy oder Kafka, sondern an Sam Peckinpah und John Ford, James Dean und River Phoenix.
Folglich hat man McCarthy mit ebensoviel Häme wie Berechtigung vorgeworfen, der Roman klage mit jeder Seite lauthals seine Verfilmung ein. Mittlerweile, so ist zu hören, sind die Filmrechte verkauft, und auch ein Regisseur ist gefunden. Aber bevor "All die schönen Pferde" ins Kino kommt, ist der zweite Teil der Border-Trilogie erschienen. Nun muß sich erweisen, ob McCarthy den alten Tugenden abgeschworen und sich tatsächlich der Fabrikation von Bestsellern verpflichtet hat.
Es dauert 180 Seiten, bis der Roman dort angelangt ist, wo sein Vorgänger begonnen hatte: Zwei Halbwüchsige satteln ihre Pferde, lassen die Farmen ihrer Eltern und ihr bisheriges Leben zurück und überqueren die Grenze, die Mexiko von den Vereinigten Staaten trennt. "Sie ritten los, neugierig, was der Tag ihnen bringen würde", heißt es einmal, als die beiden Brüder schon einige Tage unterwegs sind, "nach einer Stunde verhielten sie die Pferde am Ostrand des Steilhangs und betrachteten die Sonne, die sich wie siedendes Glas über den Ebenen von Chihuahua blähte, um die Welt aus dem Dunkel neu zu erschaffen".
Aber es ist nur zum Teil die Neugierde auf eine unbekannte Welt jenseits der Grenze, die Billy Parham und seinen Bruder Boyd auf den Weg gebracht hat. Sie sind auf der Suche nach den Pferden ihres Vaters und den Mördern ihrer Eltern. War es im ersten Teil der Trilogie noch reine Abenteuerlust, die John Grady und seinen Kumpel Lacey Rawlins aufbrechen ließ, so kommt im Folgeband das Motiv der Blutrache ins Spiel. Es ist nur eines unter vielen atavistischen und archaischen Elementen des Romans, der zwar motivisch an "All die schönen Pferde" anknüpft, aber als eigenständiges Buch zu lesen ist.
"Grenzgänger" beginnt mit der Geschichte einer Jagd, wie sie absonderlicher kaum vorstellbar ist. Denn als der Jäger die Beute endlich gefangen hat, tut er alles, um das Wild zu schützen, und riskiert sogar sein eigenes Leben für das Tier. Mit größter Detailgenauigkeit, gleichsam in fotorealistischer Manier, beschreibt McCarthy die Jagd auf eine trächtige Wölfin, von der Vorbereitung der Fangeisen, die präpariert und ausgelegt werden, bis zu dem Moment, in dem der Jäger das Tier in der Falle findet. Nun ist die Jagd beendet, und ein größeres Abenteuer beginnt, bei dem der Junge lernt, daß Freiheit immer leichter zu nehmen als zu geben ist. Billy tötet die Wölfin nicht, sondern befreit sie vorsichtig aus dem Fangeisen, bandagiert den verletzten Vorderlauf und reitet, das mit einem kunstvoll improvisierten Maulkorb versehene Tier im Schlepptau, über die Grenze nach Mexiko, um die Wölfin zurück ins Gebirge zu bringen.
Diese 140 Seiten, die mit dem ersten großen Verlust, der ersten großen Niederlage im Leben des Sechzehnjährigen enden, lesen sich wie eine abgeschlossene Novelle, so meisterhaft erzählt, daß man sich nach der Lektüre kaum vorzustellen vermag, wie McCarthy die noch folgenden dreihundert Seiten gestalten will. Er löst das Problem auf beeindruckende Weise: In der Konstruktion des Romanganzen ist die zunächst so geschlossen wirkende Wolfs-Episode nur ein grandioses Vorspiel, das spätere Handlungselemente präfiguriert. In dem Bildungsroman, der McCarthys Buch auch ist, gehört die Wölfin zu Billys wichtigsten Lehrmeistern.
McCarthy beschreibt die Jagd auf den Wolf zunächst als Ritual einer vergangenen Zeit. In der verlassenen Hütte eines alten Jägers findet Billy Parham alles, was er dafür braucht. In Einmachgläsern, alten Chemikalienflaschen und Kolben mit eingeschliffenen Glasstöpseln schwimmen Leber, Galle, Nieren erlegter Wölfe, deren Sekrete als Lockstoffe dienen. Im Halbdunkel der Hütte stößt Billy auf die "Innereien des Tiers, das vom Menschen träumt und seit über hunderttausend Jahren immer nur diesen Traum von Flucht träumt. Den Traum vom bösen geringeren Gott, der, bleich, nackt und fremdartig geworden, seine Familie und Sippe metzelt und aus dem gemeinsamen Haus vertreibt. Ein unersättlicher Gott, den weder Nachgeben noch Unmengen Blut beschwichtigen können. Staub umwob die Gefäße, das Licht dazwischen machte aus dem kleinen Raum mit den Glasbehältern eine bizarre Basilika, einem Brauch geweiht, der unter den Menschen ebenso rasch aussterben würde wie das Tier, dem er seine Existenz verdankte."
Die Wölfin soll getötet werden, weil sie Kälber reißt. Billy schont sie, aus Mitleid, aus Neugierde und weil er in ihr die Botin einer anderen Welt erkennt, die Hüterin eines verschollenen Wissens. Das Wesen des Wolfes, so hatte ihm einer jener alten Männer gesagt, die in der Border-Trilogie regelmäßig die Wege der jungen Helden zu kreuzen pflegen, sei für den Menschen unergründlich. Der Wolf habe "ein großes Verständnis für Ordnung, er habe dem Menschen etwas voraus, nämlich das Wissen, daß es auf der Welt keine Ordnung gebe, es sei denn die des Todes". Was der Wolf im Blut hat, muß der Junge erst lernen: die Ordnung des Todes und die Furcht vor dem Menschen, dem bösen geringeren Gott, der seine eigene Sippe metzelt.
Es sind grausame Lektionen, denen Cormac McCarthy seine jungen Helden unterzieht. Sie geraten in Hinterhalte, Messerstechereien und mexikanische Gefängnisse, sie werden überfallen und verraten, ausgeraubt, betrogen, gefoltert und erschossen. Die Bilder der Gewalt und des Schreckens werden begleitet von kargen, lakonischen Dialogen, in denen jedes Wort dem Schweigen abgerungen scheint, sie wechseln mit Momenten großer Poesie, mit lyrischen Naturbeschreibungen und Szenen von drastischer, zumeist aber trockener und hintersinniger Komik. Die archaische Welt, die man von McCarthy schon kennt, wird im neuen Roman noch konsequenter und kraftvoller geschildert als im vorangegangenen Buch. Es ist eine Welt, in der die Bösen mehr wissen als die Guten, in der die Untat nicht bestraft und Güte nicht belohnt wird. Eine Welt, in der die Liebe der Verzweiflung entspringt und in Verzweiflung mündet, in der das Leben immer fremd bleibt und die einzige Wahrheit vom Tod verkündet wird.
In dieser Welt sind McCarthys Helden reine Toren, die ausziehen, das Leben zu erfahren. Es geht ihnen nicht um Ruhm und Ehre, sondern um die Erfüllung eines Auftrags, den der Autor erteilt hat. McCarthys Halbwüchsige müssen Abenteuer und Prüfungen bestehen, Prinzessinnen und Pferde kosen, Freunde verlieren und Feinde töten, damit an ihrem Schicksal das Antlitz einer Welt kenntlich wird, die feindlich, verdorben, böse und absurd ist. Naturgemäß stellt der einsame Reiter keine Fragen über das Wesen dieser Welt. Er handelt, weil ihn die Umstände dazu zwingen. Seine Zweifel, Ängste und Qualen bleiben ungesagt, was er gelernt und erfahren hat, sprechen andere für ihn aus.
Blinde Revolutionäre, mit Gott hadernde Priester, alte Frauen, greise Indianer oder namenlose, plötzlich aus dem nichts auftauchende Reiter sind die Instanzen, die zu sagen vermögen, was dem Helden, vermutlich aber auch dem Erzähler auf der Seele liegt. Diese Zufallsbekanntschaften verwickeln die Reisenden in Gespräche über ihr Leben, über das Wesen der Welt, über das Reisen und auch über das Erzählen. McCarthy entfaltet grandiose Binnenerzählungen wie etwa das Gleichnis von den drei Flugzeugen oder die Erzählung von dem Mann, der in einer zerfallenen Kirche haust, ein mexikanischer Hiob, der den Sinn seines Schicksals darin sieht, wider Gott zu sprechen und so, als Zeuge der Anklage, den Gottesbeweis anzutreten.
Später trifft Billy Parham auf einen Greis, der ein Ochsenpaar vor sich hertreibt. Sie reden über das Wetter. Der Alte trägt einen "fleckigen weißen Umhang, die Tracht, in der die Ackerknechte hierzulande die Felder bestellten, wie schmutzbesudelte Insassen eines fernen Tollhauses, die sich auf die Felder verirrt hatten, um dort in träger, sinnloser Wut die Erde zu hacken".
Nur ein einziges Mal darf Billy Parham die Frage stellen, die der Autor ihm von Anbeginn so bleischwer auf die Brust gesenkt hat: "Glauben Sie an Gott? sagte er." Sein Gegenüber zuckt die Achseln: "An göttlichen Tagen." Daß McCarthy nach vierhundert Seiten, auf denen das Metaphysische wie eine Gewitterwolke über allen Köpfen schwebte, auf denen vergangene Welten, uralte Instinkte und die Macht des Blutes beschworen wurden, ein solcher Dialog gelingt, ironisch und federnd leicht, gehört nicht zu den geringsten Kunststücken dieses Buches. An seinem Ende steht ein Bild, das auf grandiose Weise zu der Wolfs-Novelle des Anfangs zurückfindet.
"Er saß gerade da, aß eine Büchse Sardinen und beobachtete den Regen, da tappte plötzlich ein gelber Hund um die Hausecke, kam zur offenen Tür herein und blieb stehen." Die Schnauze grau, die Hinterbeine verkrüppelt, den Kopf schief auf dem Rumpf sitzend, fast blind und arthritisch, schiebt sich das Tier kriechend voran. "Es verharrte ein Stück von der Tür entfernt, hinter ihm fiel der Regen auf Unkraut und Kies; naß, voller Narben und verkrüppelt, sah es aus, als hätten es geistesgestörte Vivisektoren aus Teilen von anderen Hunden zusammengesetzt." Der Junge wirft mit Steinen nach dem verkrüppelten Jagdhund, bis das Tier jaulend verschwindet. Am nächsten Tag macht Billy sich auf, den Hund zu suchen. Er ist, nach der Wölfin, der Botin einer anderen, unerreichbaren Welt, die erste Kreatur, in der der Junge sich wiedererkennt.
Cormac McCarthy: "Grenzgänger". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans Wolf. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 447 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man kann die Romane von Cormac McCarthy bereisen wie die Landschaften des amerikanischen Südwestens, Passagen wiederlesen wegen ihrer visuellen Kraft und ihres eigentümlichen Rhythmus: nah an der Überwältigung, fasziniert von der Schroffheit und dem sprachlichen Spiel der Proportionen, der Fiebertraumschärfe einer sinnlichen Erfahrung, die einen vielleicht irgendetwas von «zeitloser Schönheit» murmeln läßt, bevor man den Sog auf die Spur zu kommen versucht. Viel mehr kann man von Literatur eigentlich nicht erwarten. Frankfurter Rundschau