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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Der gewaltige Hunger nach Freiheit: Ingeborg Villingers aufwühlende Biographie Gretha Jüngers
Wer Ernst Jünger liest, kennt Perpetua. In den "Strahlungen", Jüngers tagebuchähnlichen Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg, taucht sie das erste Mal im April 1939 im Teilband "Gärten und Straßen" auf: Gretha Jünger, geborene von Jeinsen, von ihrem Mann mit dem Pseudonym einer frühchristlichen Märtyrerin versehen. Eine treffende Wahl, wie Ingeborg Villingers Biographie von Jüngers erster, 1960 einem Krebsleiden erlegenen Ehefrau zeigt. Denn Perpetua, "die Beständige", war eine beständig Leidende. Wer meinte, Thomas Manns Beschreibung Jüngers als "eiskalter Genüssling" wäre nur politisch zu verstehen, dürfte nach der Lektüre dieses Buches anders denken, wird vielleicht auch die "Strahlungen" anders lesen.
Villinger, bereits als Mitherausgeberin des Briefwechsels zwischen Gretha Jünger und Carl Schmitt in Erscheinung getreten, stützt sich bei ihrer Lebensbeschreibung auf bisher unveröffentlichte Briefe, so auf die ergiebige Korrespondenz des Ehepaars. Obschon im Schatten ihres berühmten Mannes kaum sichtbar, war Gretha Jünger selbst eine Autorin von Talent, wie Villinger belegt. Doch lässt sich ihre Biographie auch als Geschichte einer Ehe lesen - oder zweier Ehen. Ernst Jünger mag glücklich verheiratet gewesen sein. Gretha Jünger war es nicht.
Die beiden lernen sich in Hannover kennen, wo Gretha von Jeinsen ihm zuliebe ihre Schauspielkarriere aufgibt. Das junge Paar zieht in das unruhigere Leipzig, dann ins gärende Berlin der Weimarer Zeit. Dort bunter Freundeskreis, nationalrevolutionär besaitet. Der Philosoph Ernst Hugo Fischer, der Nationalbolschewist Ernst Niekisch, der frühere Freikorpsler und Zuchthäusler Ernst von Salomon, der Maler Rudolf Schlichter, der (spätere) Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich und natürlich Carl Schmitt gehören dazu. Man ist antirepublikanisch, will antibürgerlich sein, übt sich dabei aber vor allem in "Ritualen des Antiritualismus", vorzugsweise mit Zentralheizung. Die Männer geben den Ton an, ihre Partnerinnen sind oft nur Beiwerk, abgesehen von Arnolt Bronnens Frau Olga, die als Geliebte von Goebbels und Zuträgerin des sowjetischen Geheimdienstes ein frühes Beispiel für die Vereinbarkeit von Familie und Landesverrat gibt.
Gretha Jünger akzeptiert die männliche Dominanz, bejaht sie gar. Ironisiert sie zwar, bricht aber nie endgültig damit. Leidet daran, stellt sie dennoch nie grundsätzlich in Frage. Sieht letztlich in Frauen die Ursache für viele Fehler von Männern. Das beginnt bei ihrem systematisch untreuen Ehemann. Der pflege "Bewunderung und Begehren der Weiblichkeit stets ,charmant zu berücksichtigen'", wie die perpetuell Betrogene sarkastisch feststellt.
Auf Berlin folgen von 1933 an die zunehmend auf Weltabgewandtheit angelegten Lebensstationen Goslar, Überlingen und Kirchhorst sowie die Nachkriegsrefugien Ravensburg und Wilflingen. Das entspricht nicht nur Ernst Jüngers wachsendem Bedürfnis nach Rückzug und Kontemplation, sondern auch der Hoffnung seiner Frau, ihr Gatte möge weitab vom Schuss ansatzweise treu sein. Diese Hoffnung wird enttäuscht. Jüngers Jahre als Wehrmachtsoffizier im besetzten Paris werden zum Brandbeschleuniger einer längst schwelenden Ehekrise. Nur politisch ist man sich einig: Ernst Jünger hofft beim Vormarsch 1940 noch, wie 1914 ins Gefecht zu kommen. Seine Frau schreibt derweil einem Freund angesichts des Blitzsiegs der Wehrmacht: "Ein Fieber hat uns erfasst, namentlich mich, die ich immer schon das Feuer der Begeisterung in mir spürte, wenn diese schönste Seite der Deutschen zum Durchbruch gelangte." Trotz ihrer Distanz zum Nationalsozialismus, die ähnlich wie bei ihrem Mann stark elitär und ästhetisch grundiert ist, feiert sie die Tilgung des Versailler Vertrages als "so gewaltig, dass es uns fast den Atem benimmt, und es gibt wohl kein Herz unter den Deutschen, das am Tage des Einzuges in Paris nicht eine tiefe Befriedigung empfunden hat". Dass nun deutsche Fahnen (welche?) über Paris wehten, "ist eine Rache, wie sie mir süßer nicht sein kann, und jenseits alles Hurrah-Patriotismus fühle ich mich glücklich, dies alles miterleben zu dürfen". Von 1943 an wird der Ton dann trister: "Dieser Alltag mit seinen teuflischen Paragraphen, die Jagd nach Butter, einer Zigarette, oder zum Arbeitsamt, der Haushalt, die Steuerberechnungen, und zuletzt der stündliche Alarm, dies alles kotzt mich an", schreibt sie Freunden.
Hinzu kommt, dass ihr Mann die entscheidenden Schlachten seines zweiten Weltkriegs in Pariser Hotelzimmern und Schlafgemächern schlägt. Die Kinderärztin Sophie Ravoux wird seine Titularmätresse, der er lebenslang die Untreue hält. Obwohl er sie in den Tagebüchern als "Doctoresse", "Mme Dancart", "Charmille", "Camilla", "Mme d'Armenoville" und "Armand" maskiert, wie der Jünger-Forscher Tobias Wimbauer nachgewiesen hat, vertieft sich die Jünger'sche Familienkrise, als die "Strahlungen" 1949 erscheinen und die Ehebruchkaskade des Autors damit literarisch kaum verbrämt offenkundig wird. "Arme Gretha!", schreibt Carl Schmitt, selbst kein praktizierender Anhänger des sechsten Gebots, in seiner Ausgabe an den Rand.
Dennoch wird Gretha Jünger, deren ältester Sohn Ende 1944 in Italien gefallen war, in dieser Zeit zweimal kurz nacheinander schwanger. Eine Totgeburt und eine Abtreibung sind die Folgen. Als sie die zweite Schwangerschaft entdeckt, schreibt sie einem Freund, sie sei "auf den Urheber nicht gut zu sprechen; wenn es nach mir ginge, so wäre ich zu einem klösterlichen Leben in dieser Hinsicht längst bereit". Aber es geht nicht nach ihr. Ihr "gewaltiger Hunger nach Freiheit und eigenen Lebensräumen", den sie in einem Brief schildert, bleibt ungestillt. Die später eingereichte Scheidung zieht sie dennoch wieder zurück.
Ein Rätsel in dieser aufwühlenden und insgesamt überzeugenden Biographie gibt allerdings mitunter die Quellenauswahl auf. Wo ist etwa der fulminante zweiseitige Brief Gretha Jüngers an Sophie Ravoux von 1948? Stolz, kühl, souverän und verletzt zugleich fordert sie darin die Pariser Hauptgeliebte ihres Mannes auf, doch nach Deutschland zu kommen, um ihn sich zu holen. Sie werde nicht im Wege stehen. Dass die Biographin diesen eindrucksvollen und für den Charakter Gretha Jüngers grundlegenden Brief nicht nur nicht zitiert, sondern ihn nicht einmal erwähnt, ist etwas seltsam für ein Buch, das immer wieder um den deplorablen Zustand der Jünger'schen Ehe kreist.
Beeindruckend ist Villingers Schilderung dieses Lebens gleichwohl. Sie lässt an einen Eintrag aus den "Strahlungen" vom Mai 1941 denken, in dem Jünger eine junge Französin beschreibt, in der er vollkommene Schönheit und große Kälte vereint sah: "Eine Eisblume. Wer sie auftaut, zerstört die Form." So hätte Ernst Jünger, dem die Stilisierung seiner Existenz oberstes Gebot war, auch sich selbst beschreiben können. Die Kosten dieser nur bei Minusgraden möglichen Formwahrung trugen jene, die das Unglück hatten, ihn zu lieben.
MICHAEL MARTENS
Ingeborg Villinger:
"Gretha Jünger".
Die unsichtbare Frau.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 464 S., geb., 26,- [Euro].
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