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Ein Handbuch über die Geschichte der EU gewährt Einblicke in zahllose Details der europäischen Integration
Die Europäische Union ist eines der größten Friedensprojekte weltweit. Es ist ein "in der Geschichte der Menschheit einzigartiges Unterfangen", wie Helmut Schmidt einmal gesagt hat. An Superlativen mangelt es also nicht, wenn man auf die Anfänge der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg blickt, an Wissen aber womöglich schon. Denn wer erinnert sich wirklich an die Streitgespräche zwischen dem ehemaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle und dem Quasi-Verteidigungsminister während der Besetzung Frankreichs, Jean Monnet. Schon im Exil hatten sie überlegt, wie eine zukünftige Kooperation zwischen den verfeindeten Ländern Frankreich und Deutschland nach dem Krieg aussehen könnte. Während de Gaulle von der Auflösung Deutschlands als Zentralstaat sprach, argumentierte Monnet für "irgendeine Art zentraler Union". Dazu gehörte für ihn ein europäischer Markt ohne Zollbarrieren und die Abtretung von Souveränität durch alle Mitgliedstaaten. Schon 1943 träumte Monnet also von einer EU.
"Am Anfang von Europa steht Jean Monnet", schreibt Christoph Driessen. Mit dem vorliegenden Buch versucht er über die Entstehung und Entwicklung der EU im Detail aufzuklären. Und wenn der Leser den 268 Seiten und sechs Kapiteln aufmerksam folgt, gelingt das auch. Aber schon im Vorwort erläutert Driessen, dass er sein Werk als Handbuch verstanden haben möchte, "das sich zum Nachschlagen eignet und nicht unbedingt von Anfang bis Ende gelesen werden muss". Das liegt daran, dass Driessen von Schauplatz zu Schauplatz springt - und die zentralen Figuren immer wieder wechseln. Einmal schreibt er in wenigen Absätzen vom Tode Josef Stalins, direkt darauf folgt eine Beschreibung des Indochinakriegs 1954, auf der nächsten Seite geht es um die Auswirkungen der Niederlage Frankreichs in jenem Krieg auf die französische Gesellschaft. Und all das hängt am Ende mit der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 zusammen.
Dabei spart Driessen auch nicht an Details. Dass die sechs EWG-Gründungsstaaten Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande einen gemeinsamen Binnenmarkt angestrebt haben, sei dem "Wunder von Messina" geschuldet. Bei der Konferenz in Italien sang der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak laut dem Autor vor Freude "O sole mio". Dabei stand Spaak in den Morgenstunden auf dem Balkon seines Hotels und hielt eine Flasche Champagner in der Hand.
Diese Details machen das Buch eindrucksvoll. Kurz fühlt es sich an, als sei man dabei gewesen. Als der britische Premierminister Harold Macmillan Besuch von de Gaulle bekam und es um den Beitritt Großbritanniens zur EWG ging, schlug Macmillans Familienköchin dem französischen Präsident die Bitte ab, seine Blutkonserven in den Küchenkühlschrank zu legen. Die hatte er laut Driessen immer für den Fall eines Attentats dabei. Das Detail zeigt im Kleinen das Große: Macmillan und de Gaulle waren zu dieser Zeit ebenso wenig große Freunde wie Frankreich und Großbritannien.
Außerdem sagte de Gaulle bei einem Treffen 1961 zu Macmillan: "Das insuläre Gefühl bleibt sehr stark ausgeprägt bei euch." Das mache die Mitgliedschaft schwierig. Erst 2016 kam heraus, wie viel Wahrheit in der Aussage steckte. Die Brexiteers in Großbritannien warben mit "Take back control", und eine Mehrheit der Inseleinwohner stimmte für die Unabhängigkeit von Brüssel. Driessen schreibt: "Es ist das Bild eines tapferen, freiheitsliebenden Volkes, das seine Unabhängigkeit notfalls auch gegen scheinbar übermächtige Gegner wie Hitler-Deutschland im Jahr 1940 verteidigt." Und mit dieser historischen Klammer bekräftigt er die Botschaft seines Buches: Alles hängt mit allem zusammen.
In dem letzten Kapitel "Europa in Aufruhr" geht es um die turbulenten Jahre der EU. Driessen beschreibt die jüngsten Herausforderungen, von der Finanzkrise, dem Rechtspopulismus, den Flüchtlingsströmen bis zum Brexit, der Corona-Pandemie und dem Krieg gegen die Ukraine. Er erklärt damit nicht nur, wie die Krisen ineinandergreifen, sondern auch, wie sie auf Ressentiments bauen, die es schon seit Jahrzehnten in Europa gibt. Dabei entsteht eine unterschwellige Warnung: Das, was so sorgfältig aufgebaut wurde, ist wieder in Gefahr. Er schließt mit dem Satz: "Ob die EU-Mitgliedstaaten die dafür erforderliche Standfestigkeit aufbringen können, liegt noch in der Zukunft verborgen."
Der Autor behält mit seinem Vorwort recht. Das Buch ist nicht fesselnd. So spannend und relevant die geschilderten Ereignisse auch sind, so schwer ist es, die Ballung der Informationen zu verarbeiten und dabei immer den roten Faden nachzuvollziehen. Aber in einem Handbuch geht es auch eher darum, das große Ganze zu verstehen: Die EU ist ein Langzeitprojekt, an dem einzelne Personen arbeiten, das einzelne Ereignisse beeinflusst und das erst gewisse Umstände möglich gemacht haben. Details, wie Reden von Robert Schumann, Konrad Adenauer, Winston Churchill, aber auch Zukunftsvisionen von Louise Weiss, Helmut Kohl oder Emmanuel Macron, haben die europäische Integration vorangetrieben. Andere, das zeigt der Erfolg der Rechtspopulisten bei der Europawahl 2014, arbeiten hingegen an der Rückabwicklung der Integration. Das sollte jeder EU-Bürger verstehen. Dieses Wissen geht über den Geschichtsunterricht in der Schule weit hinaus.Dieses Buch schafft genau das. CARLOTA BRANDIS
Christoph Driessen: Griff nach den Sternen. Die Geschichte der Europäischen Union.
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2024. 288 S., 29,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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