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Schöner als Psychoanalyse: Ein Liebesroman von David Foenkinos
"Jeder, der einer Trennung oder Zerstörung ausgesetzt ist, erfährt dies als das Negative und das Besondere, während ihm das Zusammenbleiben als das Positive und das Allgemeine erscheint. In Wahrheit liegen die Verhältnisse jedoch umgekehrt, und das Negative, das Scheitern, die Trennung, der Irrtum machen das Allgemeine aus, wofür allein schon Zahlen und Tatsachen sprechen." So konnten wir es vor beinahe dreißig Jahren bei Botho Strauß in seiner Erzählung "Die Widmung" lesen, einem der schönsten Prosastücke, die in den letzten Jahrzehnten über den Verlust und das Verlassenwerden geschrieben wurden. Die damals gestellte Diagnose ist bis heute nur erhärtet worden. Die Scheidungszahlen steigen, und die durchschnittliche Dauer, in der Ehepaare zusammenbleiben, nimmt ab.
Die Gründe dafür, daß ein Ehepartner den anderen verläßt, sind naturgemäß vielfältig. Für Claire ist der Auslöser die Tatsache, daß sie eines Sonntags ihren Mann nach dem traditionellen Mittagessen bei ihren Eltern in einer Hängematte liegen sieht und diesen Anblick nicht ertragen kann. "Als sie auf Höhe der Hängematte angelangt war, sah sie Jean-Jacques an und teilte ihm in der natürlichsten Art, die man sich vorstellen kann, mit: ,Ich verlasse dich.'" Allerdings weiß Claire zu diesem Zeitpunkt bereits, daß ihr Mann eine Affäre mit seiner Kollegin Sonia hat, weil sie ihn durch Igor, den Mitarbeiter einer Detektivagentur, beschatten läßt, mit dem sie ihrerseits eine Affäre beginnen wird. Später wird Jean-Jacques seine Frau durch Ibàn beschatten lassen, einen anderen Mitarbeiter derselben Agentur und zugleich Igors Cousin.
Spätestens hier wissen wir, daß wir uns nicht mehr bei Botho Strauß befinden, sondern in einem französischen Roman, der auch ein französischer Film sein könnte. Nicht umsonst hat David Foenkinos auch Drehbücher geschrieben, und das Kino ist eines der kulturellen Referenzsysteme in seiner Geschichte. Sehr viel später werden die beiden Detektive eine ähnliche Rolle spielen wie die Engel in Wenders' Himmel über Berlin, welcher der Kultfilm des Paars aus der Zeit ihrer ersten Verliebtheit war. Sie werden den Zufall inszenieren und Schicksal spielen, und die getrennten Eheleute kommen wieder zusammen.
Foenkinos' Buch selbst allerdings wäre eher die Vorlage für einen Film von Eric Rohmer. Daran erinnert nicht nur das Personal dieses Romans, sondern auch die Art und Weise, wie die einzelnen Figuren ihre Versuchsanordnungen entwickeln und durchspielen. Denn als einen Versuch kann man schon Jean-Jacques' Affaire mit Sonia ansehen. Daß er eine Geliebte braucht, hat ihm zunächst sein bester Freund Èdouard eingeredet, der bereits vor längerer Zeit verlassen wurde und nun als Single das Programm des seriellen Verführers abspult, während er in Wahrheit ein recht jämmerlicher und bemitleidenswerter Kerl ist. Als Versuch ist desgleichen Claires Trennung von Jean-Jacques zu betrachten, auch wenn diese an jenem Sonntag ganz spontan erfolgt sein mag, und ein Versuch ist ihre Liebesgeschichte mit Igor. Da der Ehemann eine Geliebte hat, braucht sie einen Geliebten. Da sie mit dem Ehemann die Leidenschaft für "Der Himmel über Berlin" geteilt hat, muß sie mit Igor nach Berlin fliegen, was zu einer großen Enttäuschung führt.
Jeder spiegelt sich in diesem Roman in einem anderen: Claire in Jean-Jacques, Jean-Jacques in Èdouard, die beiden Detektivcousins ineinander und Claires Mutter Renée in Claire. Nachdem sie zunächst an dem Schritt ihrer Tochter im Wortsinn irre zu werden scheint und ins Krankenhaus muß, kehrt sie schließlich geheilt nach Hause zurück und beobachtet eines Nachmittags nach dem Kaffee, wie ihr Mann René, ein Chirurg im Ruhestand, sich im Garten in eben der Hängematte niederläßt, die schon seinem Schwiegersohn zum Verhängnis geworden war. "Da stand Renée auf und ging entschlossenen Schrittes auf ihn zu. Als sie auf der Höhe der Hängematte angelangt war, sah sie ihn an und teilte ihm in der natürlichsten Art, die man sich vorstellen kann, mit: ,Ich verlasse dich.'"
Allein die arme Sonia, von Jean-Jacques bald wieder aufs Abstellgleis geschoben, hat niemanden, in dem sie sich spiegeln kann, und verschwindet irgendwie lautlos aus dem Roman, auch wenn sie sehr spät noch einmal auftaucht. Was auf den ersten Blick wie eine dramaturgische Schwäche des Autors aussieht, könnte aber sehr wohl Programm sein. Schließlich wissen wir aus den einschlägigen Frauenzeitschriften, daß das Los der Geliebten des verheirateten Mannes immer das mieseste ist und sie am Ende allemal allein bleibt.
Nachdem nämlich Jean-Jacques verlassen wurde, setzt er alles in Bewegung, um Claire wiederzugewinnen. Daß der Zufall, der die beiden wieder zusammenführt, in Wahrheit keiner ist, sondern von den beiden Engeln Igor und Ibàn gemacht, werden sie nie erfahren. In dem Moment, da die beiden in Aktion treten und Claire und Jean-Jacques wieder vereint sind, tritt der Roman in die Sphäre des Märchenhaften ein. Das ist ganz folgerichtig, wo doch, siehe oben, so etwas ganz und gar den von Botho Strauß benannten Zahlen und Tatsachen zuwiderläuft. Und Foenkinos ist ein viel zu intelligenter Autor, als daß er das Märchen ungebrochen erzählte.
Denn seinen Epilog fängt er so an: "Die Geschichten aus unserem Leben sind runde Sachen. Einige Monate später war die Anordnung des Prologs wiederhergestellt." Soll heißen, die Familie (es gibt da noch eine sechsjährige Tochter, die nebenher in diesem Roman das Drama des begabten Kindes durchläuft) ist wieder zusammen. Soll aber auch heißen: Hier handelt es sich nicht um das Leben, sondern um Literatur, um den Willen des Autors, und deshalb ist das so. Im übrigen kommt ein anderes Paar, das sich über Claires und Jean-Jacques' vorübergehende Trennung erst gefunden hat, bei einem Flugzeugunglück ums Leben, so daß auch hier das Glück wieder seine Spiegelung im Unglück erfährt. Die Geschichten aus unserem Leben sind eben wirklich runde Sachen, wenn sie erst einmal Literatur werden.
Das soll nicht bedeuten, daß Foenkinos uns nicht über das Leben und über die Mechanismen, denen wir als Liebende, Geliebte, Verlassende und Verlassene folgen, eine Menge mitteilt. Manchmal ist das schon zu klug und wirkt dann etwas geschwätzig und auftrumpfend, zumal dieser Autor den durchgearbeiteten, vieldeutigen, treffenden Satz liebt, den Satz, der vor innerer Spannung beinahe zerspringt, mit einem Wort: die Sentenz. Das hat zur Folge, daß das Erzählen zugunsten der Pointe öfter in den Hintergrund tritt. Immer da jedoch, wo die Versuchsanordnung nicht nur angetippt, sondern auch ausagiert und ihre ganze Komik durchgespielt wird, entstehen wunderbare Miniaturen und ist die Lektüre ein Genuß.
Ein Genuß, der durch die Übersetzung im großen und ganzen gestützt wird, von einigen Schwächen abgesehen, die durchs Lektorat schnell zu beheben gewesen wären. Leider trifft schon der erste Satz voll daneben und verkehrt den Sinn des Originals ins Gegenteil. "Es war lange her", heißt es, "daß Jean-Jacques sich nicht mehr gemüht hatte, in seinem vollen Glanz zu erstrahlen." Gemeint ist aber: "Schon seit langem hatte sich Jean-Jacques nicht mehr bemüht." Und auch, wenn im Original von den "allures" des Wortes "bientôt" die Rede ist, kann ein Wort im Deutschen keine "Allüren" haben, sondern höchstens einen Unterton, eine Färbung, einen Beigeschmack. Sonst aber trifft Christian Kolb die überaus komplexe und ambivalente Lakonie von Foenkinos' Sprache ziemlich genau.
Nur scheinbar ist der Grundton des Buches leicht und ironisch. Darunter liegt eine immer wieder durchscheinende Bitterkeit, ja Trauer. Wenn das Ende erreicht ist, geht es einem ein bißchen wie nach dem erfolgreichen Abschluß einer Psychoanalyse. Es hat sich eigentlich nicht viel geändert, und ein Rezept fürs künftige Leben hat man ohnehin nicht in der Tasche. Aber dafür weiß man jetzt viel besser, warum das meiste schiefgeht. Das ist als Lektüregewinn nicht wenig, und vergnüglicher und weniger aufwendig als vier oder fünf Jahre auf der Couch ist es auch.
JOCHEN SCHIMMANG
David Foenkinos: "Größter anzunehmender Glücksfall". Roman. Aus dem Französischen von Christian Kolb. C.H. Beck Verlag, München 2006. 221 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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