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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gianrico Carofiglio hat erstmals eine Frau als Ermittlerin erdacht - und was für eine: Die ehemalige Staatsanwältin Penelope Spada hat mit ihrer bewegten Vergangenheit und unsicheren Zukunft alle Anlagen zur Klassikerin. Ihr erster deutscher Auftritt in "Groll" beweist es.
Der 1961 in Bari geborene und auch heute dort lebende Gianrico Carofiglio legt seit zwanzig Jahren eine enorme schriftstellerische Produktivität an den Tag. In seinem früheren Leben als Staatsanwalt und Senator in Rom hat er so viele Geschichten aus der Illegalität erlebt, dass er über Inspiration im Übermaß verfügt. Als einer der wenigen italienischen Autoren schafft er es, seinen Heimatmarkt zu bedienen und als Europäer Wehre für sein Land einzulegen. Seine Fernsehduelle mit dem Rechtspopulisten Salvini haben in Italien diesen Ruf nur untermauert.
In der seit 2002 laufenden Serie um den Avvocato Guido Guerrieri sind bislang sechs Romane erschienen, in jener um Maresciallo Pietro Fenoglio drei, dazu kommen sechs Einzelgänger, Erzählungen, Essays ("Die Kraft der Worte", 2019) , Drehbücher und eine Graphic Novel. Und nun gibt es bereits wieder zwei Romane um eine neue Ermittlerin, deren erster, bei Mondadori erschienener bislang unübersetzt blieb ("La disciplina di Penelope", 2021) und deren zweiter "Rancore" (2022) nun im Folio-Verlag, der sich Carofiglios deutsche Übersetzungen mit dem Goldmann-Verlag teilen muss, unter dem Titel "Groll" erschienen ist. Dieser Tage ist Carofiglio auf Lesereise in Deutschland.
Mit Penelope, genannt "Penny", ist ihm eine Figur geglückt, über die man mehr wissen möchte, und das ist die Voraussetzung für eine Fortsetzung. Zusammen mit seiner weiblichen Hauptfigur hat sich Carofiglio weiterentwickelt, er schreibt nicht immer das gleiche Buch noch einmal. Es geht noch mehr Richtung philosophische Kriminalromane mit deutlichen Einschüben von Psychologie. Keine Serienmörder, keine zerstückelten Leichen, keine autistischen Psychopathen mit paranormalen Kräften bevölkern "Groll", sondern ganz normale italienische Menschen, und manche davon haben etwas Böses getan. Und wie das Gefühl selbst schaukelt sich die Entwicklung im Roman ganz langsam auf.
Schauplatz ist nicht wie gewohnt Bari, sondern das Mailand des Jahres 2019. Der sehr wohlhabende Halbgott in Weiß Vittorio Leonardi wurde tot in seinem Schlafzimmer gefunden. Der Arzt, ein alter Schulfreund Leonardis, attestiert einen natürlichen Tod, sehr wahrscheinlich Herzinfarkt. Die dreiunddreißig Jahre jüngere zweite Gattin Lisa Sereni war nicht in der Stadt. Dennoch sucht die Tochter aus erste Ehe, Marina Leonardi, zwei Jahre nach dem Ereignis nach Wegen, ihr Erbe zu retten. Doch ihr Vater wurde eingeäschert, den Plan, sein Testament zu ändern, hat er nicht umgesetzt. Der Löwenanteil geht an die junge Witwe.
Penelope Spada soll es richten. Die ehemalige Staatsanwältin Mitte vierzig ist extrem sportlich und suchtgefährdet. Nach diversen Affären ist sie Single, teilt ihr Leben mit Olivia. Die Bullterrier-Dame ist unverzichtbarer Gesprächspartner, sie kennt alle Macken ihres Frauchens. Penelope agiert als Privatdetektivin, die sie nicht ist, sie versucht im Auftrag der Erstgeborenen den Fall aufzurollen. Parallel führt eine Zeitebene in ihr altes Leben zurück, in den Fall, der ihr ihre Karriere gekostet hat. Dabei ging es um eine anonyme Anzeige gegen eine geheime Freimaurer-Loge Boemia, die das Heft des Handelns an sich gerissen hat. Erinnerungen an den P2-Skandal sind in Italien ebenso wenig fern wie an den "Kalten Sommer" von 1992, als die Mafia die Staatsanwälte Falcone und Borsellino ermordete. Carofiglio hat einen Roman unter diesem Titel vorgelegt (F.A.Z. vom 2. Juli 2018).
Da die Beweislage äußerst dünn ist, greift Dottoressa Spada zu illegalen Mitteln. Geschickt montiert der Autor diese im Jahr 2014 angesiedelte Erzählebene in die Haupthandlung, in der es lange so aussieht, als bliebe der Cold Case kalt. Auch als Penelope einen Weg findet, sich das Vertrauen der jungen, schönen und klugen Witwe zu erschleichen, um festzustellen, dass sie Lisa gern zur Freundin hätte. Noch ein Dilemma mehr in ihrem beschädigen Leben.
Schwert und Sturm: Sie lernt einen Mann kennen, der sich auf einer freundschaftlichen Ebene für die attraktive Mittvierzigerin interessiert. Dieser Alessandro Tempesta (italienisch: Sturm) spricht über Hunde, Bücher, Fotografie, das Leben, aber er macht ihr keine Avancen. Das findet Penelope Spada (italienisch: Schwert) geradezu herausfordernd. Carofiglio, ein besessener Leser, steckt auch diesmal einen Zitatrahmen ab, der seine Streifzüge durch die Literatur protokolliert. Von Plutarch bis Leonardo Sciascia, über Xavier de Maistre und Steve Martin bis Vita Sackville-West und Natalie Goldberg ist wieder viel Überraschendes dabei.
Woher könnte ein mögliches Motiv für die Ermordung des Chirurgen gekommen sein? Wer hätte es haben können? Der Groll, ein sich lang aufstauender Ableger des Zorns, werde als Motiv unterschätzt, sagt im Roman ein Geheimdienstmitarbeiter, den Penelope anzapft, um illegal an Telefondaten zu kommen. Am Ende besticht der Roman mit seinen Überlegungen zu Verbrechen und Strafe. Letztere sei eine "optische Täuschung" - "was die Opfer wirklich wollen, ist die Wahrheit". HANNES HINTERMEIER
Gianrico Carofiglio: "Groll". Krimi.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, Bozen/Wien 2023. 236 S., geb.,
25,- Euro.
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