Acht Jahre lang lebt und arbeitet Evan Osnos in China - in dieser Zeit wird er Zeuge einer unglaublichen Transformation: Das Land verändert sich in einem Tempo und Ausmaß, das selbst das der industriellen Revolution übertrifft. (Tatsächlich berührt der Wandel alle Gesellschaftsbereiche und jeden Einzelnen.) Osnos spürt diesen Umwälzungen nach und zeichnet ein eindrückliches Bild des Kampfes um Glück, Erfolg und Wahrheit, der China und seine Einwohner im 21. Jahrhundert prägt. Sein einzigartiges Porträt Chinas versammelt die Geschichten der Männer und Frauen, die alles dafür geben, ihr eigenes Leben oder gleich das ganze Land zu verändern - Osnos spricht mit Glücksrittern auf der Jagd nach Reichtum, begleitet den Künstler Ai Weiwei und den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, trifft lyrikverliebte Straßenkehrer und Internetmillionäre. Die Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen werden durch seine fundierten Schilderungen greifbar und erlauben ein tieferes Verständnis der heutigen chinesischen Gesellschaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2015Ganz schön verrückt, diese Chinesen!
Einblicke in die strukturelle Nervosität einer Gesellschaft: Der Journalist Evan Osnos beschreibt das große Sozialexperiment des neuen China in ziemlich schrägen Geschichten.
Seit den Zeiten des legendären "Times"-Reporters George Ernest Morrison, der halb China zu Fuß durchquerte, im Sommer 1900 mitten in den Boxer-Aufstand geriet und 1919 die chinesische Regierung auf der Versailler Friedenskonferenz vertrat, hat kaum ein westlicher China-Korrespondent darauf verzichtet, die vor Ort gesammelten Erfahrungen in einem Buch zusammenzufassen. Von Morrisons "An Australian in China" (1895) bis zu Evan Osnos' "Age of Ambition", das ein Jahr nach seinem Erscheinen nun auf Deutsch vorliegt, hat sich eine stattliche Bibliothek der China-Berichterstattung angehäuft. Als die akademische Sinologie das China ihrer Gegenwart ignorierte, waren Reportagen alternativlos wichtige Quellen. Einige wurden zu Klassikern wie Edgar Snows Bericht über seinen Besuch bei Mao Tse-tungs Guerrillakämpfern im Jahre 1936. Heute gibt es Hunderte von ausgezeichneten Fachleuten zu Politik, Gesellschaft und Ökonomie Chinas. Da ihre Analysen aber nur selten eine breitere Öffentlichkeit erreichen, bleibt die Deutungshoheit von Medienvertretern intakt. Journalisten waren und sind die einflussreichsten Interpreten Chinas, und manche gehören zu den besten überhaupt.
Anders als Morrison sprechen und lesen sie heute fast alle Chinesisch. Sie füllen deshalb ihre Bände mit Gesprächen quer durch die chinesische Gesellschaft und beziehen sich immer wieder auf die chinesischen Medien und den besonders ergiebigen Debattenraum des Internets. Anders als ihre Vorgänger vor dreißig oder vierzig Jahren können sie sich im Land relativ frei bewegen. Im Unterschied zu früheren Generationen von Berichterstattern müssen sie damit rechnen, dass viele ihrer Leser selbst schon in China waren und deshalb statt elementarer Landeskunde Blicke hinter wahre oder vermeintliche Kulissen erwarten. Neu ist schließlich der konzeptionelle Rahmen, in den sich alle Reportagen einschreiben: Die "Revolution" ist vorüber, die brutal-langweilige Parteiherrschaft einstweilen stabil, ein medial reizvoller Kampf zwischen "Linien" innerhalb des Machtapparats - "Pragmatiker" versus "Ideologen", wie das früher hieß - nicht zu erkennen. So konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf zwei Themen: die Kraftquellen des unheimlichen "Aufstiegs" Chinas in der Welt und die Frage, was aus den Menschen in einer Gesellschaft wird, in der - mit Karl Marx zu sprechen - die "Entfesselung der Produktivkräfte" und ihre mentalen Folgen durch kein verbindliches Wertesystem gebändigt werden.
Evan Osnos vertrat zwischen 2005 und 2013 erst die "Chicago Tribune", dann den "New Yorker" in Peking. Er ist hervorragend informiert und ergänzt seine Augen- und Ohrenzeugenschaft durch Vergewisserung bei der China-Forschung. Die inzwischen im englischen Sprachraum üblich gewordenen Stilmittel der China-Reportage, wie sie sich in fast allen dieser "Mein China"-Bücher finden, beherrscht er routiniert: viele human interest stories, am liebsten grelle Geschichten von rasantem Erfolg und dramatischem Absturz, der durchs Land rasende Reporter als Kumpel, dem zufällig die interessantesten Leute über den Weg laufen. Das Material für eine bitterernste Comédie humaine hat Osnos, nicht aber die Unbarmherzigkeit eines Balzac und die Lakonik Ryszard Kapuscinskis. Das Buch liest sich kurzweilig, und man wartet auf die nächste bizarre Anekdote. Doch es fehlt an Form; die Einordnung des lebenssatten Stoffes unter die drei Rubriken "Wohlstand, Wahrheit, Glaube" wirkt etwas willkürlich; und es bleiben Zweifel, weshalb Osnos ausgerechnet diese Geschichten erzählt und nicht andere. Am einfachsten beantwortet sich diese Frage, wenn von Skandalfällen die Rede ist, die in China selbst für Aufsehen sorgten.
Was will das Buch sagen? Osnos hält keine einfachen Botschaften bereit. Er verzichtet auf die üblichen Prognosen. Ein kohärentes Bild von der Gesellschaft Chinas stellt sich nicht ein (Statistiken fehlen ganz), eher ein atmosphärischer Eindruck von Haltungen, Stimmungen, kollektiven Einstellungen und Emotionen. Der Untertitel der sonst gelungenen Übersetzung nimmt dem Buch seinen Stachel. "Chinas grenzenloser Traum" lautet er. Doch für Evan Osnos gibt es kein China, sondern nur Chinesen, die meist in scharfem Wettbewerb gegeneinander konkurrieren - und dennoch manchmal zu Fürsorglichkeit und Solidarität fähig sind. Und diese Chinesen träumen nicht still vor sich hin. Sie sind voller exaltierter Sehnsüchte und ständig in gehetzter Eile, niemals ganz zufrieden, auch nie ganz sicher im Besitz des Erreichten, denn die gottgleiche oberste Führung kann selbst die höchsten Funktionäre und die reichsten Tycoons ins Elend stürzen. "Chasing fortune, truth and faith in the new China" heißt der Untertitel im Original, und genau dies ist die Grundaussage des Buches: Eine ganze Gesellschaft begibt sich auf die Jagd nach Glück. Diese Jagd hat mit der Vergangenheit wenig zu tun. Das neue China geht bestenfalls auf die 1990er Jahre zurück. Es ist die rohe und polternde Parvenu-Nation schlechthin.
Das riesige Sozialexperiment, das Deng Xiaoping einst auslöste, führt zu den seltsamsten Exzessen. Osnos malt sie breit aus, ohne immer der Versuchung des Exotismus zu widerstehen: ganz schön verrückt, diese Chinesen. Der beunruhigende Kern des analytisch etwas anspruchslosen Buches tritt freilich in vielen der Geschichten hervor: Die strukturelle Nervosität in der chinesischen Gesellschaft ist hoch, die Versicherung der Partei, alles unter Kontrolle zu haben, nicht frei von Illusion. Angesichts extremer Erwartungen können Enttäuschungen nur umso kräftiger ausfallen. Eine niedrige Frustrationstoleranz der Bevölkerung setzt auch die Parteispitze unter Druck, die sich allein durch wirtschaftliche Erfolge und nationalistischen Prestigegewinn legitimiert. Auch wenn das Regime seit der Niederschlagung der Tiananmen-Unruhen 1989 alle seine Gegner gebrochen, vertrieben oder mundtot gemacht hat, sind Flächenbrände des Protests stets möglich. China ist entzündlich.
Die Diagnose, mit der das Buch endet, ist von unausgesprochener Ambivalenz. Mitten im Leben der chinesischen Bevölkerung klaffe eine abgründige spirituelle Leere. Trauert Osnos dem, wie er sagt, "alten Glaubensgerüst Chinas" nach? Das verschwand aber schon im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Und wurde nicht - darin liegt die Ambivalenz - erst vor drei Jahrzehnten im Westen die Ideologisierung Chinas angeprangert, ein Übermaß an Gläubigkeit? Wie viel "Pragmatismus" brauchen Gesellschaften und wie viel "Spiritualität"?
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Evan Osnos: "Große
Ambitionen". Chinas
grenzenloser Traum.
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 533 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einblicke in die strukturelle Nervosität einer Gesellschaft: Der Journalist Evan Osnos beschreibt das große Sozialexperiment des neuen China in ziemlich schrägen Geschichten.
Seit den Zeiten des legendären "Times"-Reporters George Ernest Morrison, der halb China zu Fuß durchquerte, im Sommer 1900 mitten in den Boxer-Aufstand geriet und 1919 die chinesische Regierung auf der Versailler Friedenskonferenz vertrat, hat kaum ein westlicher China-Korrespondent darauf verzichtet, die vor Ort gesammelten Erfahrungen in einem Buch zusammenzufassen. Von Morrisons "An Australian in China" (1895) bis zu Evan Osnos' "Age of Ambition", das ein Jahr nach seinem Erscheinen nun auf Deutsch vorliegt, hat sich eine stattliche Bibliothek der China-Berichterstattung angehäuft. Als die akademische Sinologie das China ihrer Gegenwart ignorierte, waren Reportagen alternativlos wichtige Quellen. Einige wurden zu Klassikern wie Edgar Snows Bericht über seinen Besuch bei Mao Tse-tungs Guerrillakämpfern im Jahre 1936. Heute gibt es Hunderte von ausgezeichneten Fachleuten zu Politik, Gesellschaft und Ökonomie Chinas. Da ihre Analysen aber nur selten eine breitere Öffentlichkeit erreichen, bleibt die Deutungshoheit von Medienvertretern intakt. Journalisten waren und sind die einflussreichsten Interpreten Chinas, und manche gehören zu den besten überhaupt.
Anders als Morrison sprechen und lesen sie heute fast alle Chinesisch. Sie füllen deshalb ihre Bände mit Gesprächen quer durch die chinesische Gesellschaft und beziehen sich immer wieder auf die chinesischen Medien und den besonders ergiebigen Debattenraum des Internets. Anders als ihre Vorgänger vor dreißig oder vierzig Jahren können sie sich im Land relativ frei bewegen. Im Unterschied zu früheren Generationen von Berichterstattern müssen sie damit rechnen, dass viele ihrer Leser selbst schon in China waren und deshalb statt elementarer Landeskunde Blicke hinter wahre oder vermeintliche Kulissen erwarten. Neu ist schließlich der konzeptionelle Rahmen, in den sich alle Reportagen einschreiben: Die "Revolution" ist vorüber, die brutal-langweilige Parteiherrschaft einstweilen stabil, ein medial reizvoller Kampf zwischen "Linien" innerhalb des Machtapparats - "Pragmatiker" versus "Ideologen", wie das früher hieß - nicht zu erkennen. So konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf zwei Themen: die Kraftquellen des unheimlichen "Aufstiegs" Chinas in der Welt und die Frage, was aus den Menschen in einer Gesellschaft wird, in der - mit Karl Marx zu sprechen - die "Entfesselung der Produktivkräfte" und ihre mentalen Folgen durch kein verbindliches Wertesystem gebändigt werden.
Evan Osnos vertrat zwischen 2005 und 2013 erst die "Chicago Tribune", dann den "New Yorker" in Peking. Er ist hervorragend informiert und ergänzt seine Augen- und Ohrenzeugenschaft durch Vergewisserung bei der China-Forschung. Die inzwischen im englischen Sprachraum üblich gewordenen Stilmittel der China-Reportage, wie sie sich in fast allen dieser "Mein China"-Bücher finden, beherrscht er routiniert: viele human interest stories, am liebsten grelle Geschichten von rasantem Erfolg und dramatischem Absturz, der durchs Land rasende Reporter als Kumpel, dem zufällig die interessantesten Leute über den Weg laufen. Das Material für eine bitterernste Comédie humaine hat Osnos, nicht aber die Unbarmherzigkeit eines Balzac und die Lakonik Ryszard Kapuscinskis. Das Buch liest sich kurzweilig, und man wartet auf die nächste bizarre Anekdote. Doch es fehlt an Form; die Einordnung des lebenssatten Stoffes unter die drei Rubriken "Wohlstand, Wahrheit, Glaube" wirkt etwas willkürlich; und es bleiben Zweifel, weshalb Osnos ausgerechnet diese Geschichten erzählt und nicht andere. Am einfachsten beantwortet sich diese Frage, wenn von Skandalfällen die Rede ist, die in China selbst für Aufsehen sorgten.
Was will das Buch sagen? Osnos hält keine einfachen Botschaften bereit. Er verzichtet auf die üblichen Prognosen. Ein kohärentes Bild von der Gesellschaft Chinas stellt sich nicht ein (Statistiken fehlen ganz), eher ein atmosphärischer Eindruck von Haltungen, Stimmungen, kollektiven Einstellungen und Emotionen. Der Untertitel der sonst gelungenen Übersetzung nimmt dem Buch seinen Stachel. "Chinas grenzenloser Traum" lautet er. Doch für Evan Osnos gibt es kein China, sondern nur Chinesen, die meist in scharfem Wettbewerb gegeneinander konkurrieren - und dennoch manchmal zu Fürsorglichkeit und Solidarität fähig sind. Und diese Chinesen träumen nicht still vor sich hin. Sie sind voller exaltierter Sehnsüchte und ständig in gehetzter Eile, niemals ganz zufrieden, auch nie ganz sicher im Besitz des Erreichten, denn die gottgleiche oberste Führung kann selbst die höchsten Funktionäre und die reichsten Tycoons ins Elend stürzen. "Chasing fortune, truth and faith in the new China" heißt der Untertitel im Original, und genau dies ist die Grundaussage des Buches: Eine ganze Gesellschaft begibt sich auf die Jagd nach Glück. Diese Jagd hat mit der Vergangenheit wenig zu tun. Das neue China geht bestenfalls auf die 1990er Jahre zurück. Es ist die rohe und polternde Parvenu-Nation schlechthin.
Das riesige Sozialexperiment, das Deng Xiaoping einst auslöste, führt zu den seltsamsten Exzessen. Osnos malt sie breit aus, ohne immer der Versuchung des Exotismus zu widerstehen: ganz schön verrückt, diese Chinesen. Der beunruhigende Kern des analytisch etwas anspruchslosen Buches tritt freilich in vielen der Geschichten hervor: Die strukturelle Nervosität in der chinesischen Gesellschaft ist hoch, die Versicherung der Partei, alles unter Kontrolle zu haben, nicht frei von Illusion. Angesichts extremer Erwartungen können Enttäuschungen nur umso kräftiger ausfallen. Eine niedrige Frustrationstoleranz der Bevölkerung setzt auch die Parteispitze unter Druck, die sich allein durch wirtschaftliche Erfolge und nationalistischen Prestigegewinn legitimiert. Auch wenn das Regime seit der Niederschlagung der Tiananmen-Unruhen 1989 alle seine Gegner gebrochen, vertrieben oder mundtot gemacht hat, sind Flächenbrände des Protests stets möglich. China ist entzündlich.
Die Diagnose, mit der das Buch endet, ist von unausgesprochener Ambivalenz. Mitten im Leben der chinesischen Bevölkerung klaffe eine abgründige spirituelle Leere. Trauert Osnos dem, wie er sagt, "alten Glaubensgerüst Chinas" nach? Das verschwand aber schon im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Und wurde nicht - darin liegt die Ambivalenz - erst vor drei Jahrzehnten im Westen die Ideologisierung Chinas angeprangert, ein Übermaß an Gläubigkeit? Wie viel "Pragmatismus" brauchen Gesellschaften und wie viel "Spiritualität"?
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Evan Osnos: "Große
Ambitionen". Chinas
grenzenloser Traum.
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 533 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein fesselnder Plauderton und assoziatives Springen in größter Knappheit von einem Thema zum anderen, beides ist der Vielfalt des Gegenstands angemessen. Hier liegt Osnos' Stärke und wohl auch der Grund für den verdienten National-Book-Award.« Volker Stanzel Süddeutsche Zeitung 20150818