In 'Große Erwartungen', dem berühmten Werk von Charles Dickens, nimmt der Leser an der Reise des Waisenjungen Pip teil, der von einem mysteriösen Gönner finanziell unterstützt wird und versucht, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Der Roman zeichnet sich durch Dickens' markanten sozialen Realismus, seine scharfe Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten und sein ausgeprägtes Gespür für die menschliche Natur aus. Durch seine lebendigen Charaktere und fesselnde Handlung führt uns Dickens in eine Welt voller Intrigen, Hoffnungen und Veränderungen des viktorianischen Englands. Er zeigt auf ergreifende Weise auf, wie soziale Schichten und persönliche Ambitionen miteinander verwoben sind, und öffnet dem Leser die Augen für die Komplexität der menschlichen Existenz. Charles Dickens, ein Meister des viktorianischen Romans, hat 'Große Erwartungen' geschrieben, um die Herausforderungen der Waisenkinder und die Ungleichheiten in der englischen Gesellschaft seiner Zeit anzuprangern. Seine eigene Erfahrung als Arbeiterkind beeinflusste seine Werke stark, und er schuf unvergessliche Charaktere wie Pip und Miss Havisham, die den Lesern bis heute im Gedächtnis geblieben sind. Mit seiner lebendigen und einfühlsamen Erzählweise gelang es Dickens, die Herzen seiner Leser zu berühren und sie zum Nachdenken über die sozialen Missstände seiner Zeit anzuregen. 'Große Erwartungen' ist ein zeitloses Meisterwerk, das bis heute Leser jeden Alters fesselt und zum Nachdenken anregt. Mit seiner tiefgründigen Charakterisierung und seiner mitreißenden Handlung bietet das Buch dem Leser nicht nur ein fesselndes Leseerlebnis, sondern auch einen einzigartigen Einblick in die gesellschaftlichen Strukturen des viktorianischen Englands und die universellen Themen von Hoffnung, Veränderung und Selbstfindung. Dieses Buch ist für alle Leser, die sich für Literatur, Sozialgeschichte und das menschliche Drama interessieren, ein absolutes Muss und eine Bereicherung für jedes Bücherregal.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Im Paradies der Untoten
Noch heute ist Charles Dickens der populärste Romancier Großbritanniens. Jetzt lässt die Neuübersetzung seiner "Großen Erwartungen" von Melanie Walz sein Geheimnis erahnen.
Von Markus Gasser
Es war, als hätte sein Vater im gewundenen Innern einer Muschel das Meer erblicken können. Das Dachzimmerfenster ging auf einen Friedhof hinaus, über die nebligen Marschen hinweg sah er die schwarzen Sträflingsschiffe in der dunstigen Themse vor Anker liegen, und während ihrer Spaziergänge von Gravesend nach Rochester zeigte ihm sein Vater jedes Mal den Herrensitz auf dem Hügel fernab und stellte ihm einen großen Traum in Aussicht, dem Charles Dickens zeitlebens unterworfen blieb: Wenn er sehr hart arbeite, werde er eines Tages vielleicht einmal dort wohnen können. Nach oft erniedrigenden Widrigkeiten - sein Vater eingesperrt im Schuldnergefängnis Marshalsea, Dickens zwölfjährig dazu gezwungen, zunächst als Lohnsklave in einer Schuhpoliturfabrik und dann als Kanzleischreiber sich beinah zu Tode zu arbeiten - und zehn Romane später verbrachte er sein letztes Jahrzehnt dann auch wirklich in jenem Gad's Hill Place, Kent, wo er auch "Große Erwartungen" schrieb und sein Anwesen zu Miss Havishams Spukschloss Satis House eindüstern ließ.
Wenn Autoren Menschen sind, an die nichts verlorengeht und die nur leben, um davon zu erzählen, war Dickens der Schriftsteller schlechthin. Seinem Vater im Schuldnergefängnis begegnen wir in "Little Dorrit" wieder, der Schuhcremefabrik in "David Copperfield" und in den "Großen Erwartungen" dem Luftschloss vom Erfolg, das Dickens für sich in Wirklichkeit verwandeln konnte wie kein anderer Romancier der Weltliteratur sonst.
Sein Triumph ging fast schon zu weit. Nachdem er in den letzten Kapiteln seines "Kuriositätenladens" - sie erschienen in Fortsetzungen und endeten je zum Verzweifeln packend - die engelhafte Waise Nelly in immer kehlenzuschnürendere Bedrängnis verstrickt hatte, flehten ihn selbst Adelige auf offener Straße an, doch bitte das Leben Klein Nells zu schonen, als wäre es das ihre, und Menschenmassen ballten sich am Hafen New Yorks, um die Reisenden aus England zu fragen, ob Nell denn nun gestorben sei. Erst durch die selten düstere "Geschichte von zwei Städten" hätte Dickens 1859 seine Beliebtheit beinahe verspielt, und so ging er mit Philip "Pip" Pirrips Lebensbericht "Große Erwartungen" wie zum letzten Mal aufs Ganze.
Auf dem Friedhof nahe Gad's Hill Place servierte er zu jener Zeit seinen Freunden - ganz Kellner, amüsiert servil, eine Serviette überm Arm - ein Picknick neben dreizehn Gräbern: von Geschwistern, die alle im Kindesalter gestorben waren. Gleich dreizehn tote Kinder nebeneinander auf einem Friedhof mochte dem Publikum etwas unwahrscheinlich vorkommen - doch was hieß das schon im Märchenland der Literatur? Es war, zugegeben, paradox: Die Lüge der Erfindung musste immer überzeugender erscheinen als die Wirklichkeit, und so waren es bloß fünf Geschwister, die der Erzähler Pip zu Beginn des Romans zu beklagen hat. Ein Waisenkind, buchstabiert er sich vom Grabstein seiner Eltern Name und Identität zusammen, als hätten Wesen aus dem Gespensterreich ihn getauft, deren Emissäre hinter jeder Ecke der "Großen Erwartungen" lauern: Untote, als wäre dieser Roman ihr Paradies, und Märchengestalten wie der Riese Abel Magwitch, "witch" und "magician", Hexer und Zauberer also schon dem Namen nach, ein entsprungener Sträfling, der Pip auf dem Friedhof im Marschland von Dickens' Kindheit am Weihnachtsabend androht, seine Eingeweide zu verspeisen, wenn er für sein Fußeisen keine Feile bei seinem Onkel, dem gutmütig biederen Dorfschmied Joe Gargery, besorgt.
Einst sah der kleine Dickens "die Verrückte von Oxford Street" ganz in Weiß und leichenbleich durch den winterlichen Schnee stapfen und in diesem Anblick das Ende seiner Kindheit: Hexisch böser noch als Magwitch erscheint Pip denn auch die stets brautweiß gewandete Miss Havisham, die ihn in den gruftartigen Bann des prachtvoll verfallenden Satis House lockt, das Gelobte Land der Spinnen, Schatten, des Staubs, wo Havisham die Hochzeitstafel samt Kuchen gedeckt und alle Uhren anhalten ließ, da ihr Bräutigam auf einmal verschwunden war.
Pip steht das Herz fast still, als er Miss Havisham erstmals zu Gesicht bekommt: "Damals hatte ich noch nicht davon gehört, dass bisweilen Leichname gefunden werden, die in uralten Zeiten begraben wurden und die in dem Augenblick, in dem man sie zu sehen bekommt, zu Staub zerfallen; doch seitdem dachte ich oft, dass Miss Havisham ausgesehen haben muss, als hätte das Eindringen des natürlichen Tageslichts sie unweigerlich in Staub verwandelt." So liest sich die berühmte Vampirpassage der "Großen Erwartungen" in der virtuosen Neuübertragung von Melanie Walz, die dieses Kap Hoorn von einem Roman derart natürlich gemeistert hat, als stünde sie mit Dickens in spiritistischem Kontakt: Eleganter, akkurater und bildkräftiger, in der Satzführung fließender und dem umgangssprachlichen Ton Pips gemäßer als die Übertragung von Margit Meyer 1977 oder die oft einfach sachlich ungenaue Ulrike Jung-Grells von 1993, die mit allzu vielen Substantiven Pips Stil manchmal ungelenk im Beamtenen verkümmern lässt: "Ich wusste damals noch nichts von den Beobachtungen, die man gelegentlich an den im Altertum bestatteten Leichnamen macht - die in dem Moment, da sie den Blicken zugänglich werden, zu Staub zerfallen. Doch seither habe ich oft darüber nachgedacht, dass sie ausgesehen haben muss, als würde sie beim ersten Schimmer natürlichen Lichts zu Asche werden."
Miss Havisham verzieht ihre Adoptivtochter Estella - Wiedergängerin jener Ellen Ternan, für die Dickens eben seine Gattin verlassen hatte - zu einer Eisprinzessin, die an ihrer statt Rache an allen Männern nehmen soll, indem sie ihnen mit der verlässlichen Mechanik einer Guillotine ihr Leben zerstört. Pip ist dafür die Testperson, verliebt sich unvermeidlich in Estella und bleibt ihr treuestes Opfer: Er glaubt sich schicksalhaft für sie bestimmt.
Was für ein Vergnügen es doch ist, Schulden machen zu können, die wie von Zauberhand sogleich beglichen werden; doch auch wenn Pip, plötzlich kraft eines anonymen Gönners in Besitz eines riesigen Vermögens, in London die Wonnen der Faulheit reuelos auszuleben lernt, so sind diese nunmehr erfüllten "großen Erwartungen" ein Fluch, weil sie nicht auf harter Arbeit gründen wie in Dickens' eigener Biographie und weil Pip sie zuletzt jemand ganz anderem zu danken hat als Miss Havisham. Nur wem? Um dies zu erraten, braucht es keinen Edgar Allan Poe, der jeden Romanverlauf seines "Old King Charles" bis ins Detail vorherzusehen wusste. Da sich Dickens jedoch für keinen Schluss entscheiden konnte, gibt es hier gleich deren zwei, zwielichtig beide, und es ist im Grunde einerlei, welchen davon man höher schätzt: In einer glücklichen Ehe mit Estella kann man sich Pip ebenso wenig denken wie Hamlet auf dem dänischen Thron mit Königin Ophelia an seiner Seite. Doch dass der Schatten Miss Havishams aus dem Jenseits auch weiterhin über ihrer beider Dasein herrschen wird, dürfte für Dickens ausgemacht gewesen sein.
Damit hatte er so ungefähr erreicht, was die Leute von ihm lesen wollten, und gerade die akademische Welt hat gegen diesen Roman die wenigsten Einwendungen erhoben - zumal er sich vorderhand so bereitwillig in den Begriffskerker "Bildungsroman" sperren ließ, der dieses Werk so wenig ist wie Jane Austens "Stolz und Vorurteil" ein Kriminalroman. Denn wer glaubt allen Ernstes Pips haltlosen Selbstanwürfen? Er ist kein Wilhelm Meister, ist wie Oliver Twist von Anfang an fast verloren und wie die meisten von uns mehr wert, als er von sich selbst denkt - was jede seiner Verirrungen vorab entschuldbar macht. Geld korrumpiert, simple, selbstgenügsame Menschen wie Joe Gargery kommen fraglos in den Himmel, und die dümmsten Fehler sind immer die, die man am leichtesten begehen kann: Sollte es den "Großen Erwartungen" lediglich um diese schlichte Moral zu tun sein, hätten statt der siebenhundert Seiten auch sieben Essayzeilen genügt.
So ist dieser Roman vielleicht der spannendste, aber beileibe nicht der ganze Dickens. Und er selbst wusste es. Wo war darin der Großintrigant, der Drahtzieher im Verborgenen, wo der Killer, der im Rußregen Londons seine Bösewichte - oft Tiere in Menschengestalt - mit genugtuerischer Sorgfalt um die Ecke brachte, wo der Anarchist, der in wütendem Weltgroll so viele staatliche Institutionen zu beleidigen suchte, wie er nur irgend konnte, der die Güte übertreiben musste, weil er das Böse im Menschen unerträglich fand, wo war der Tränenrührer, um keine Plausibilität bekümmert, der Menschen mit einer Gelassenheit bestaunen konnte, als verstünde er die ganze Welt? Erst drei Jahre nach den "Großen Erwartungen" holte er sich in "Unserem gemeinsamen Freund" wieder selber ein und erlaubte es uns zum letzten Mal, den Roman nicht nur als Kunst zu erleben, sondern als Leidenschaft, und mit ihm Arm in Arm durch ein Universum zu vagabundieren, das ein lachender und gütiger Gott ersonnen hat: Traum eines jeden wahren Lesers, ein alter, bald vergessener, unauslöschlicher Traum.
Charles Dickens: "Große Erwartungen". Roman.
Herausgegeben und aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München 2011. 832 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch heute ist Charles Dickens der populärste Romancier Großbritanniens. Jetzt lässt die Neuübersetzung seiner "Großen Erwartungen" von Melanie Walz sein Geheimnis erahnen.
Von Markus Gasser
Es war, als hätte sein Vater im gewundenen Innern einer Muschel das Meer erblicken können. Das Dachzimmerfenster ging auf einen Friedhof hinaus, über die nebligen Marschen hinweg sah er die schwarzen Sträflingsschiffe in der dunstigen Themse vor Anker liegen, und während ihrer Spaziergänge von Gravesend nach Rochester zeigte ihm sein Vater jedes Mal den Herrensitz auf dem Hügel fernab und stellte ihm einen großen Traum in Aussicht, dem Charles Dickens zeitlebens unterworfen blieb: Wenn er sehr hart arbeite, werde er eines Tages vielleicht einmal dort wohnen können. Nach oft erniedrigenden Widrigkeiten - sein Vater eingesperrt im Schuldnergefängnis Marshalsea, Dickens zwölfjährig dazu gezwungen, zunächst als Lohnsklave in einer Schuhpoliturfabrik und dann als Kanzleischreiber sich beinah zu Tode zu arbeiten - und zehn Romane später verbrachte er sein letztes Jahrzehnt dann auch wirklich in jenem Gad's Hill Place, Kent, wo er auch "Große Erwartungen" schrieb und sein Anwesen zu Miss Havishams Spukschloss Satis House eindüstern ließ.
Wenn Autoren Menschen sind, an die nichts verlorengeht und die nur leben, um davon zu erzählen, war Dickens der Schriftsteller schlechthin. Seinem Vater im Schuldnergefängnis begegnen wir in "Little Dorrit" wieder, der Schuhcremefabrik in "David Copperfield" und in den "Großen Erwartungen" dem Luftschloss vom Erfolg, das Dickens für sich in Wirklichkeit verwandeln konnte wie kein anderer Romancier der Weltliteratur sonst.
Sein Triumph ging fast schon zu weit. Nachdem er in den letzten Kapiteln seines "Kuriositätenladens" - sie erschienen in Fortsetzungen und endeten je zum Verzweifeln packend - die engelhafte Waise Nelly in immer kehlenzuschnürendere Bedrängnis verstrickt hatte, flehten ihn selbst Adelige auf offener Straße an, doch bitte das Leben Klein Nells zu schonen, als wäre es das ihre, und Menschenmassen ballten sich am Hafen New Yorks, um die Reisenden aus England zu fragen, ob Nell denn nun gestorben sei. Erst durch die selten düstere "Geschichte von zwei Städten" hätte Dickens 1859 seine Beliebtheit beinahe verspielt, und so ging er mit Philip "Pip" Pirrips Lebensbericht "Große Erwartungen" wie zum letzten Mal aufs Ganze.
Auf dem Friedhof nahe Gad's Hill Place servierte er zu jener Zeit seinen Freunden - ganz Kellner, amüsiert servil, eine Serviette überm Arm - ein Picknick neben dreizehn Gräbern: von Geschwistern, die alle im Kindesalter gestorben waren. Gleich dreizehn tote Kinder nebeneinander auf einem Friedhof mochte dem Publikum etwas unwahrscheinlich vorkommen - doch was hieß das schon im Märchenland der Literatur? Es war, zugegeben, paradox: Die Lüge der Erfindung musste immer überzeugender erscheinen als die Wirklichkeit, und so waren es bloß fünf Geschwister, die der Erzähler Pip zu Beginn des Romans zu beklagen hat. Ein Waisenkind, buchstabiert er sich vom Grabstein seiner Eltern Name und Identität zusammen, als hätten Wesen aus dem Gespensterreich ihn getauft, deren Emissäre hinter jeder Ecke der "Großen Erwartungen" lauern: Untote, als wäre dieser Roman ihr Paradies, und Märchengestalten wie der Riese Abel Magwitch, "witch" und "magician", Hexer und Zauberer also schon dem Namen nach, ein entsprungener Sträfling, der Pip auf dem Friedhof im Marschland von Dickens' Kindheit am Weihnachtsabend androht, seine Eingeweide zu verspeisen, wenn er für sein Fußeisen keine Feile bei seinem Onkel, dem gutmütig biederen Dorfschmied Joe Gargery, besorgt.
Einst sah der kleine Dickens "die Verrückte von Oxford Street" ganz in Weiß und leichenbleich durch den winterlichen Schnee stapfen und in diesem Anblick das Ende seiner Kindheit: Hexisch böser noch als Magwitch erscheint Pip denn auch die stets brautweiß gewandete Miss Havisham, die ihn in den gruftartigen Bann des prachtvoll verfallenden Satis House lockt, das Gelobte Land der Spinnen, Schatten, des Staubs, wo Havisham die Hochzeitstafel samt Kuchen gedeckt und alle Uhren anhalten ließ, da ihr Bräutigam auf einmal verschwunden war.
Pip steht das Herz fast still, als er Miss Havisham erstmals zu Gesicht bekommt: "Damals hatte ich noch nicht davon gehört, dass bisweilen Leichname gefunden werden, die in uralten Zeiten begraben wurden und die in dem Augenblick, in dem man sie zu sehen bekommt, zu Staub zerfallen; doch seitdem dachte ich oft, dass Miss Havisham ausgesehen haben muss, als hätte das Eindringen des natürlichen Tageslichts sie unweigerlich in Staub verwandelt." So liest sich die berühmte Vampirpassage der "Großen Erwartungen" in der virtuosen Neuübertragung von Melanie Walz, die dieses Kap Hoorn von einem Roman derart natürlich gemeistert hat, als stünde sie mit Dickens in spiritistischem Kontakt: Eleganter, akkurater und bildkräftiger, in der Satzführung fließender und dem umgangssprachlichen Ton Pips gemäßer als die Übertragung von Margit Meyer 1977 oder die oft einfach sachlich ungenaue Ulrike Jung-Grells von 1993, die mit allzu vielen Substantiven Pips Stil manchmal ungelenk im Beamtenen verkümmern lässt: "Ich wusste damals noch nichts von den Beobachtungen, die man gelegentlich an den im Altertum bestatteten Leichnamen macht - die in dem Moment, da sie den Blicken zugänglich werden, zu Staub zerfallen. Doch seither habe ich oft darüber nachgedacht, dass sie ausgesehen haben muss, als würde sie beim ersten Schimmer natürlichen Lichts zu Asche werden."
Miss Havisham verzieht ihre Adoptivtochter Estella - Wiedergängerin jener Ellen Ternan, für die Dickens eben seine Gattin verlassen hatte - zu einer Eisprinzessin, die an ihrer statt Rache an allen Männern nehmen soll, indem sie ihnen mit der verlässlichen Mechanik einer Guillotine ihr Leben zerstört. Pip ist dafür die Testperson, verliebt sich unvermeidlich in Estella und bleibt ihr treuestes Opfer: Er glaubt sich schicksalhaft für sie bestimmt.
Was für ein Vergnügen es doch ist, Schulden machen zu können, die wie von Zauberhand sogleich beglichen werden; doch auch wenn Pip, plötzlich kraft eines anonymen Gönners in Besitz eines riesigen Vermögens, in London die Wonnen der Faulheit reuelos auszuleben lernt, so sind diese nunmehr erfüllten "großen Erwartungen" ein Fluch, weil sie nicht auf harter Arbeit gründen wie in Dickens' eigener Biographie und weil Pip sie zuletzt jemand ganz anderem zu danken hat als Miss Havisham. Nur wem? Um dies zu erraten, braucht es keinen Edgar Allan Poe, der jeden Romanverlauf seines "Old King Charles" bis ins Detail vorherzusehen wusste. Da sich Dickens jedoch für keinen Schluss entscheiden konnte, gibt es hier gleich deren zwei, zwielichtig beide, und es ist im Grunde einerlei, welchen davon man höher schätzt: In einer glücklichen Ehe mit Estella kann man sich Pip ebenso wenig denken wie Hamlet auf dem dänischen Thron mit Königin Ophelia an seiner Seite. Doch dass der Schatten Miss Havishams aus dem Jenseits auch weiterhin über ihrer beider Dasein herrschen wird, dürfte für Dickens ausgemacht gewesen sein.
Damit hatte er so ungefähr erreicht, was die Leute von ihm lesen wollten, und gerade die akademische Welt hat gegen diesen Roman die wenigsten Einwendungen erhoben - zumal er sich vorderhand so bereitwillig in den Begriffskerker "Bildungsroman" sperren ließ, der dieses Werk so wenig ist wie Jane Austens "Stolz und Vorurteil" ein Kriminalroman. Denn wer glaubt allen Ernstes Pips haltlosen Selbstanwürfen? Er ist kein Wilhelm Meister, ist wie Oliver Twist von Anfang an fast verloren und wie die meisten von uns mehr wert, als er von sich selbst denkt - was jede seiner Verirrungen vorab entschuldbar macht. Geld korrumpiert, simple, selbstgenügsame Menschen wie Joe Gargery kommen fraglos in den Himmel, und die dümmsten Fehler sind immer die, die man am leichtesten begehen kann: Sollte es den "Großen Erwartungen" lediglich um diese schlichte Moral zu tun sein, hätten statt der siebenhundert Seiten auch sieben Essayzeilen genügt.
So ist dieser Roman vielleicht der spannendste, aber beileibe nicht der ganze Dickens. Und er selbst wusste es. Wo war darin der Großintrigant, der Drahtzieher im Verborgenen, wo der Killer, der im Rußregen Londons seine Bösewichte - oft Tiere in Menschengestalt - mit genugtuerischer Sorgfalt um die Ecke brachte, wo der Anarchist, der in wütendem Weltgroll so viele staatliche Institutionen zu beleidigen suchte, wie er nur irgend konnte, der die Güte übertreiben musste, weil er das Böse im Menschen unerträglich fand, wo war der Tränenrührer, um keine Plausibilität bekümmert, der Menschen mit einer Gelassenheit bestaunen konnte, als verstünde er die ganze Welt? Erst drei Jahre nach den "Großen Erwartungen" holte er sich in "Unserem gemeinsamen Freund" wieder selber ein und erlaubte es uns zum letzten Mal, den Roman nicht nur als Kunst zu erleben, sondern als Leidenschaft, und mit ihm Arm in Arm durch ein Universum zu vagabundieren, das ein lachender und gütiger Gott ersonnen hat: Traum eines jeden wahren Lesers, ein alter, bald vergessener, unauslöschlicher Traum.
Charles Dickens: "Große Erwartungen". Roman.
Herausgegeben und aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München 2011. 832 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2012Aus der Tiefe des Schrankes
Das Elend und seine Verwandlung in reines Sacharin: Deutsche Neuerscheinungen zum 200. Geburtstag von Charles Dickens
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, über die man immer noch spricht, sind in der Regel nicht allein in ihren dicken Büchern präsent, für deren Lektüre die wenigsten Zeitgenossen die Muße finden. Kostümfilme spielen hier eine Rolle, und für Victor Hugo wurde das Musical zum Gefäß der Überlieferung. Bei Charles Dickens, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, sind es die Figuren, die sich vom Buch gelöst haben und als anekdotische Existenzen das kollektive Gedächtnis bevölkern, zumindest das der angelsächsischen Welt.
Die erstaunlichste und gleichwohl eine typische Karriere hat dabei Ebenezer Scrooge hinter sich, der alte Geizhals aus der „Weihnachtsgeschichte“, der durch die drei Geister der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht so gründlich erschreckt wird, dass sein hartes Herz vor Rührung zerschmilzt und er sich fortan als Menschenfreund betätigt. Disney hat die Geschichte in einen Zeichentrickfilm und ihn selbst in eine alte Ente mit Galoschen und Zylinder verwandelt – so erfolgreich, dass sie seither als „Scrooge McDuck“ in der Comic-Welt lebt, im Deutschen, unter Tilgung des Dickens- Bezugs, als Dagobert Duck.
Scrooge McDuck kann als Inbegriff dessen gelten, was eine Dickens’sche Figur ausmacht. Sie beschränkt sich immer auf ein paar typische Züge; doch diese Züge prägen sich ein. Scrooge ist ein Charakter und nichts sonst; in seinem Charakter sitzt er sozusagen gefangen. Ihm widerfahren die eigentümlichsten Ereignisse; aber sie haben keine Macht über ihn, sie perlen ab wie vom Gefieder der Ente, die Dimension der Erfahrung fehlt ihm zur Gänze. Charakter tritt an Stelle der Psychologie, der Entwicklung, der Seele, wie auch immer man jenes andere nennen mag, das Comic-Figuren in der Regel abgeht. Dafür drückt er sich unverwechselbar in seinem Erscheinungsbild aus, das sich aus Physiognomie, Gestik, Stimme, Kleidung und Accessoires gleichrangig zusammensetzt.
Es dürfte kein Zufall sein, dass der Übertritt von Scrooge aus der viktorianischen Erzählung in die Populärkultur sich gerade im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest vollzogen hat, dem Fest, das nicht nur eines der Kinder ist, sondern dem Kindlichen auch im Erwachsenen zu seinem Recht verhilft. Es steckt darin jede Menge Regression und Sentimentalität; aber doch auch der aufrichtige Wunsch, die Welt möchte sich dem Erleben wieder mit solcher Intensität darbieten wie damals, als wir klein waren.
Kein Schriftsteller war so in Weihnachten vernarrt wie Charles Dickens. Ja man könnte sein ganzes Werk als ein weihnachtlich behauchtes bezeichnen. Es muss einer wohl früh verletzt worden sein, damit er mit solcher Macht hier stehenbleibt und hierhin zurück will. Dickens hat sein traumatisches Erlebnis lang verschwiegen, selbst seiner Frau und engsten Freunden. Im Alter von zwölf Jahren musste er, da sein Vater im Schuldgefängnis saß, in einer Fabrik für Schuhwichse arbeiten gehen. Sie befand sich in einem verwinkelten, halbverfallenen Haus am Ufer der Themse, in dem es von Ratten wimmelte. Und obwohl bürgerlicher Herkunft, fand er sich mitten unters Proletariat versetzt. Über diese Schmach kam er nie hinweg. „Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, die das Versinken in solche Gesellschaft in mir bewirkte, wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich und wenn ich daran dachte, dass alle Hoffnungen, einmal ein gelehrter und angesehener Mann zu werden, in meiner Brust erstickt waren.“ Wie sollte sich da nicht in die Verlassenheit und Verzweiflung ein intensives Gefühl von Unrecht mischen?
Unrecht, das ist es, was Kinder am stärksten empfinden; alles, was an Dickens gut und schlecht ist, erwächst aus dieser Empfindung. Mitleid und Empörung sind die leitenden Affekte in seinem Werk. Es erzählt von Kränkungen und Schrecken kindhaften Ursprungs und von den grandiosen Genugtuungen, durch die sie später gutgemacht werden. Das heißt, ganz gutgemacht werden können sie natürlich nie.
Das gilt von Dickens selbst, der, auch als er schon lang der berühmteste Schriftsteller des britischen Empire war, sich niemals von seinen manischen Zügen befreite und unersättlich in immer weitere profitable Projekte stürzte, bis er schließlich, völlig ausgepumpt, mit bloß 58 Jahren starb. Das gilt mehr noch von seinen Büchern, deren dunkle Anfänge unvergleichlich eindrücklichere Kraft besitzen als die idyllischen Schlüsse. Es bleibt da stets ein Missverhältnis zwischen Ausgangs- und Endpunkt, überbrückt durch einen Plot, in dem Vertauschungen, Familiengeheimnisse, Zufälle und Ähnliches reichlich strapaziert werden. So etwas ist statthaft in der kindgemäßesten aller Literaturgattungen, im Märchen, dem Dickens immer nahesteht; dem realistischen Roman darf man es verübeln. Was genau und in welcher Verkettung es in Dickens’ Romanen geschieht, lohnt meist nicht die Mühe der Nacherzählung, oder vielmehr, in der Nacherzählung nähmen sie sich alberner aus, als sie es verdienen; denn Dickens lebt eindeutig nicht im Ganzen, sondern in seinen Teilen. Seine Romane, urteilt George Orwell, glichen Gebäuden mit miserabler Architektur, aber tollen Wasserspeiern.
Am 7. Februar 1812 wurde Dickens geboren. Anlässlich des Jubiläums sind eine ganze Reihe von Büchern neu erschienen. Zu den altbekannten gehört „Oliver Twist“, das Reclam in einer schönen, gut kommentierten Ausgabe in der Übersetzung von Axel Monte neu vorlegt. Es ist oft gesagt worden, und besonders oft über „Oliver Twist“, Dickens habe seine kindlichen Helden zu tugendblassen Milchgesichtern gemacht. Doch nur unter dieser Bedingung vermag dem Unrecht, das ihnen widerfährt, jene Kraft zuzuwachsen, die das Buch trägt. Wenn Dickens den Leser verlockt, mit und über Oliver seine Tränen zu vergießen, dann hat er nur dieses eine Schicksal vor Augen und ganz gewiss keinen Klassenkampf; es wird sich zum Schluss herausstellen, dass Oliver bloß versehentlich in die falsche Klasse einsortiert worden ist und es sich bei ihm tatsächlich um einen reichen Erben, einen geborenen Gentleman handelt.
Nie hat sich Dickens gegen Kinderarbeit überhaupt ausgesprochen; nur dass er, der kleine Charles, sie leisten musste, wo er doch so ein begabtes Kind war, das schrie zum Himmel. Hier steckt eine Inkonsequenz des sozialen Denkens. Diese Haltung kann man unterschiedlich bewerten. Karl Marx soll Dickens als Schilderer der konkreten Armut im England seiner Zeit hoch geschätzt haben. Lenin hingegen regte sich über solche „Mittelklassen-Sentimentalität“ dermaßen auf, dass er die Bühnenversion eines Werks von Dickens mitten in einer Szene verließ. Freilich war das fragliche Werk auch ausgerechnet „Das Heimchen am Herd“ gewesen.
Der Autor handelt nicht mit Bedacht so; er tut es in aller Unschuld, einer Unschuld, die man bei einem erstrangigen Autor leicht etwas fehl am Platz finden könnte. Die Folge ist, dass Dickens, obwohl seine Darstellung Züge einer überaus scharfen Kritik an der Gesellschaft aufweist, dennoch auf deren breiteste Zustimmung stößt. Die Ursachen des elementaren Unrechts, etwa, dass ein Kind nicht genügend zu essen bekommt, fasst Dickens nicht ins Auge. Man betrachte die berühmte Stelle, wo Oliver es sich herausnimmt, den Koch im Armenhaus um einen Nachschlag zu bitten. Er tritt mit seinem Napf an und sagt mit klarer Stimme: „Bitte, Sir, ich möchte noch mehr“, im Original: „Please, Sir, I want some more.“ Der Satz hat zwei intonatorische Gipfel, das „Sir“ und das „more“. Das „more“ ist eine unmissverständliche Forderung; doch aus dem „Sir“ spricht eine Ehrerbietung für die bestehenden Autoritäten, die Dickens niemals ablegt.
Dickens war kein Mann der Reformen, sondern der bloßen Bekämpfung von „Missständen“, die sich doch müssten ausbügeln lassen, wenn alle Menschen guten Willens zusammenhelfen. Das Erforderliche hüllt sich in Bescheidenheit. Aber in dieser unscheinbaren Schale schlummert die Nuss der Revolution. Dies wird auch im Fall Olivers sogleich ersichtlich. Der Koch, bestürzt, schlägt mit der Suppenkelle nach Oliver, eine Ausschusssitzung des Armenhaus-Beirats beschäftigt sich mit dem Fall, Oliver wird arretiert und des Armenhauses verwiesen – womit die Handlung des Buchs erst eigentlich in Gang kommt.
Die Welt des Charles Dickens ist ungemein breit und reich, aber gesehen wird sie aus der Froschperspektive eines Kindes, das auf dem Wohnzimmerteppich spielt. Menschen erscheinen da, wenn sie sich herabbeugen, als übermächtige Masken, grotesk, oft bedrohlich; und sie scheiden sich nicht kategorial von den Dingen. Ja oft sind die Dinge diesem Auge sehr viel näher und trauter.
Man betrachte, wie in „Das Geheimnis des Edwin Drood“, in einer Neuübersetzung von Burkhart Kroeber, die jetzt bei Manesse herausgekommen ist, ein Vorratsschrank beschrieben wird: „hob sich der untere Schieber, so kamen Orangen ans Licht, beaufsichtigt von einer großen lackierten Zuckerdose zwecks Linderung ihrer Bitterkeit, falls sie noch unreif waren. Selbstgebackene Plätzchen bildeten das Gefolge dieser Mächte, begleitet von einem tüchtigen Stück Plumcake und schlanken ‚Damenfingern‘, die man in Süßwein stippt und dann zärtlich küsst. Ganz unten schließlich barg ein kompaktes Bleigewölbe den Süßwein sowie einen Vorrat an Likören, aus dem ein Gewisper von andalusischen Orangen, Zitronen, Mandeln und Kümmel aufstieg. Krönend wehte um diesen Schrank der Schränke ein duftiger Klang, als hätten die Glocken- und Orgelklänge der Kathedrale ihn jahrhundertelang durchsummt, bis diese ehrwürdigen Bienen alles, was er enthielt, zu feinstem Honig gemacht hatten; und stets war bemerkt worden, dass ein jeder, der in diese Fächer eintauchte (die, wie gesagt, so tief waren, dass Kopf, Schultern und Ellbogen darin verschluckt wurden) so milden Gesichts wieder hervorkam, dass man meinen konnte, er hätte sich einer Verwandlung in reines Sacharin unterzogen.“
Dieser Schrank besitzt in vollem Maße, was Dickens’ Charakteren abgeht: Tiefe. Das Dinghafte ist in ihm zu einer verdichteten Räumlichkeit geworden, deren hoher Druck zugleich die feinste Sinnlichkeit der Düfte und Klänge destilliert. Der Hymnus des Schranks umfasst zwei Druckseiten. Nach seinem Auftritt wundert sich der Leser nicht mehr, dass in diesem Buch ernsthaft die Frage erörtert wird, ob Dinge, wie Menschen, als Gespenster umgehen können.
„Das Geheimnis des Edwin Drood“ war Dickens’ letzter Roman, über dem er starb und der darum unvollendet blieb. Edwin Drood verschwindet, allem Anschein nach wurde er ermordet; doch wie und von wem, das hat Dickens nicht hinterlassen. Die Nachwelt besitzt lediglich die bereits fertiggestellten Illustrationen für die fehlenden Lieferungen – ein Geheimnis also, das unversehens zu einem größeren wurde, als der Autor es geplant hatte. Es gibt dazu rund 1800 Publikationen, ein Tribunal über den mutmaßlichen Täter wurde unter Beteiligung von George Bernard Shaw und G. K. Chesterton abgehalten, und mehrfach ist der Versuch unternommen worden, das fehlende Ende zu konstruieren.
Ulrike Leonhardt hat sich an diesem eminent englischen Spiel nun mit einem deutschen Beitrag versucht. Sie tut es mit viel Gefühl für Dickens’ Stil und Eigenart, mit Liebe, Sorgfalt und Scharfsinn. Mit mehr Sorgfalt und Scharfsinn, möchte man vermuten, als Dickens selbst mit seinen oft willkürlichen Schlüssen wohl darauf verwendet hätte. Auch ist einem der muntere und sonst etwas farblose Held keineswegs so ans Herz gewachsen wie beispielsweise der oben zitierte Schrank. Nicht zuletzt glaubt man Dickens keinen echten Mord – so wenig, wie ein Kind eine Vorstellung von dem hat, was der Tod bedeutet.
Wie vom Tod fehlt Dickens auch ein eigentlicher Begriff von der Liebe. Die Liebesgeschichten stellen den schwächsten Part seiner umfänglichen Romane dar. Das geht weit über die bekannte Prüderie des viktorianischen Zeitalters hinaus. Als die erstaunlichste Publikation im Jubiläumsjahr darf man den Band „Der Schwarze Schleier“ aus dem Aufbau-Verlag bezeichnen, der eine Reihe wenig oder auf Deutsch bislang gar nicht bekannter Erzählungen enthält, darunter den „Doktor Marigold“, die Geschichte eines „Billigen Jakob“, der über die Märkte zieht und alles vom Kochtopf bis zur Rasierklinge verhökert. Ihn begleitet ein kleines taubstummes Mädchen, das er unterwegs gegen ein Paar Hosenträger eingehandelt hat und dem er das Lesen und eine ganz eigene Gebärdensprache beibringt.
Doktor Marigold („Doktor“ ist sein kurioser Vorname) ist, wie in seinem Beruf nicht anders möglich, ein großer Volksredner; aber um die Liebe zu seiner angenommenen Tochter fühlbar zu machen, die er schließlich doch in einer Taubstummenschule anmeldet, bedient sich der Ich-Erzähler anderer Mittel: „Der Herr lächelte und meinte dann: ‚Nun ja‘, sagte er, ‚zunächst muss ich wissen, was sie schon alles gelernt hat. Wie verständigen Sie sich mit ihr?‘ Da zeigte ich es ihm, und sie schrieb in Druckbuchstaben viele Namen von Dingen und so weiter auf; und wir führten eine lebhafte Konversation, Sophy und ich, über eine kleine Geschichte in einem Buch, das der Herr ihr zeigte und das sie lesen konnte. ‚Das ist außerordentlich‘, sagte der Herr.“ Hier hat sich die Gestalt der Liebe völlig in das eine Wort des Erstaunens zurückgezogen, das der Beobachter dieser Leistung spricht.
Doch wäre Dickens nicht Dickens, wenn er das Rührend-Moralische an der Szene nicht auch explizit hervorhöbe: „,Dann‘, meinte der Herr, und nie hat mir jemand angenehmere Worte gesagt, ‚sind Sie ein sehr schlauer Bursche und ein guter Kerl.‘ Das teilte er auch Sophy mit, die ihm die Hände küsste, in die ihren klatschte und darüber lachte und weinte.“ Der heutige Leser hat an solchen Stellen dasselbe Gefühl wie der Erforscher des Wunderschranks aus „Edwin Drood“: der Verwandlung einer Köstlichkeit in reines Sacharin beizuwohnen. Wer so etwas nicht zumindest gelegentlich erträgt, für den ist Dickens verloren. Das wäre schade.
Denn dann entgingen ihm auch die „Großen Erwartungen“ in der Neuübersetzung von Melanie Walz, erschienen bei Hanser. Schon der Titel macht klar, dass Dickens hier vielleicht das einzige Mal über seinen Schatten springt: Indem er die Erwartung zum Gegenstand erklärt und nicht etwa nur als unentbehrliche Vorstufe der Erfüllung einführt, verlässt er die Bahn der Naivität und befindet sich mit seinem Roman, der den Weg von der Täuschung zur Enttäuschung nachzeichnet, unvermutet auf Augenhöhe mit Flauberts „Éducation sentimentale“. Freilich gibt Dickens, anders als Flaubert, dem Scheitern und Vermögensverlust noch einen moralischen Drall, indem Pip, der Protagonist, dabei eine seelische Läuterung erfährt.
Der Band ist als schöne Dünndruckausgabe gestaltet und ausgezeichnet kommentiert. Wie auch die drei anderen gibt er Gelegenheit, die heutige Höhe der Übersetzerkunst in Deutschland zu bewundern, nicht als isolierte Spitzenleistung, sondern als Standard. Nur in einem Punkt treffen alle Dickens-Übersetzer auf ein hartnäckiges Hindernis, und das ist bei der Wiedergabe der Unterschichten-Sprache, die sich in England auf ganz besondere Weise aus Anteilen der Region und der Klasse zusammensetzt. Hier hilft es weder, ersatzweise einen bestimmten deutschen Dialekt heranzuziehen wieeinst Gustav Meyrink, bei dem die Cockneys Wienerisch reden, noch auch, etwas Originelles zu improvisieren. „Ich mach Sie blind mach ich Sie, das könnse mir glaum! Die Augen tu ich Ihn’n ausschmeißen tu ich, das könnse mir glaum! Verrecken will ich, wenn ich Ihn’n nich die Augen ausschmeiß!“ Wenn ein Übersetzer wie Burkhart Kroeber es nicht anders hinbekommt als so, darf man das Problem getrost als unlösbar betrachten.
Einen kleinen, im Aufbau Verlag erschienenen Band gibt es noch, der Zeugnisse von Dickens’ Kindern über ihren Vater versammelt. Von den insgesamt zehn Kindern, die Dickens hatte, kommen vier zu Wort, die Töchter Mamie und Kate, die Söhne Henry und Charlie. Kaum etwas erfährt man über den großen Bruch in der Familie, als Dickens Knall auf Fall seine Frau und die Mutter seiner Kinder verließ um einer siebzehnjährigen Schauspielerin willen. Alle sind sie, wenn sie von den Wonnen des riesigen Haushalts erzählen, bemüht, ihren Vater zu schirmen, und nur zuweilen klingt ein Unterton des Grolls durch. Natürlich hat Dickens ungeheuer viel mit seinen Kindern unternommen, so hyperaktiv wie er war; und dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass er selbst im Herzen viel zu sehr ein Kind geblieben ist, um jemals wirklich Vater zu werden.
BURKHARD MÜLLER
CHARLES DICKENS: Oliver Twist oder der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Monte. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 687 S., 29,95 Euro
CHARLES DICKENS: Das Geheimnis des Edwin Drood. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Burkhart Kroeber. Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt. Manesse Verlag, Zürich 2012. 766 S., 24,95 Euro.
CHARLES DICKENS: Große Erwartungen. Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 829 S., 34,90 Euro.
CHARLES DICKENS: Der schwarze Schleier. Neu entdeckte Meistererzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Seeberger. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 399 S., 22,99 Euro.
MARY UND CHARLIE DICKENS: Unser Vater Charles Dickens. Herausgegeben und aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 206 S., 14,99 Euro.
Die Figuren aus Dickens’ Werk
haben die Buchseiten verlassen –
allen voran Ebenezer Scrooge
Das Mitleid und die Empörung
sind die leitenden
Affekte in seinem großen Werk
Bei Dickens können auch die
Dinge, nicht anders als die
Menschen, zu Gespenstern werden
Sie bleibt ein schwerer Brocken
für alle Dickens-Übersetzer:
die Sprache der Unterschichten
Im Jahr 1859 gründete Charles
Dickens die Zeitschrift „All the Year round“, benannt nach einer Zeile aus Shakespeares „Othello“. Die Karikatur von George Goursat
zeigt Dickens, wie er auf einem Ring mit der Inschrift sitzt: „Conducted by Charles Dickens – All The Year Round“.
Foto: Hulton Archive/Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Das Elend und seine Verwandlung in reines Sacharin: Deutsche Neuerscheinungen zum 200. Geburtstag von Charles Dickens
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, über die man immer noch spricht, sind in der Regel nicht allein in ihren dicken Büchern präsent, für deren Lektüre die wenigsten Zeitgenossen die Muße finden. Kostümfilme spielen hier eine Rolle, und für Victor Hugo wurde das Musical zum Gefäß der Überlieferung. Bei Charles Dickens, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, sind es die Figuren, die sich vom Buch gelöst haben und als anekdotische Existenzen das kollektive Gedächtnis bevölkern, zumindest das der angelsächsischen Welt.
Die erstaunlichste und gleichwohl eine typische Karriere hat dabei Ebenezer Scrooge hinter sich, der alte Geizhals aus der „Weihnachtsgeschichte“, der durch die drei Geister der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht so gründlich erschreckt wird, dass sein hartes Herz vor Rührung zerschmilzt und er sich fortan als Menschenfreund betätigt. Disney hat die Geschichte in einen Zeichentrickfilm und ihn selbst in eine alte Ente mit Galoschen und Zylinder verwandelt – so erfolgreich, dass sie seither als „Scrooge McDuck“ in der Comic-Welt lebt, im Deutschen, unter Tilgung des Dickens- Bezugs, als Dagobert Duck.
Scrooge McDuck kann als Inbegriff dessen gelten, was eine Dickens’sche Figur ausmacht. Sie beschränkt sich immer auf ein paar typische Züge; doch diese Züge prägen sich ein. Scrooge ist ein Charakter und nichts sonst; in seinem Charakter sitzt er sozusagen gefangen. Ihm widerfahren die eigentümlichsten Ereignisse; aber sie haben keine Macht über ihn, sie perlen ab wie vom Gefieder der Ente, die Dimension der Erfahrung fehlt ihm zur Gänze. Charakter tritt an Stelle der Psychologie, der Entwicklung, der Seele, wie auch immer man jenes andere nennen mag, das Comic-Figuren in der Regel abgeht. Dafür drückt er sich unverwechselbar in seinem Erscheinungsbild aus, das sich aus Physiognomie, Gestik, Stimme, Kleidung und Accessoires gleichrangig zusammensetzt.
Es dürfte kein Zufall sein, dass der Übertritt von Scrooge aus der viktorianischen Erzählung in die Populärkultur sich gerade im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest vollzogen hat, dem Fest, das nicht nur eines der Kinder ist, sondern dem Kindlichen auch im Erwachsenen zu seinem Recht verhilft. Es steckt darin jede Menge Regression und Sentimentalität; aber doch auch der aufrichtige Wunsch, die Welt möchte sich dem Erleben wieder mit solcher Intensität darbieten wie damals, als wir klein waren.
Kein Schriftsteller war so in Weihnachten vernarrt wie Charles Dickens. Ja man könnte sein ganzes Werk als ein weihnachtlich behauchtes bezeichnen. Es muss einer wohl früh verletzt worden sein, damit er mit solcher Macht hier stehenbleibt und hierhin zurück will. Dickens hat sein traumatisches Erlebnis lang verschwiegen, selbst seiner Frau und engsten Freunden. Im Alter von zwölf Jahren musste er, da sein Vater im Schuldgefängnis saß, in einer Fabrik für Schuhwichse arbeiten gehen. Sie befand sich in einem verwinkelten, halbverfallenen Haus am Ufer der Themse, in dem es von Ratten wimmelte. Und obwohl bürgerlicher Herkunft, fand er sich mitten unters Proletariat versetzt. Über diese Schmach kam er nie hinweg. „Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, die das Versinken in solche Gesellschaft in mir bewirkte, wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich und wenn ich daran dachte, dass alle Hoffnungen, einmal ein gelehrter und angesehener Mann zu werden, in meiner Brust erstickt waren.“ Wie sollte sich da nicht in die Verlassenheit und Verzweiflung ein intensives Gefühl von Unrecht mischen?
Unrecht, das ist es, was Kinder am stärksten empfinden; alles, was an Dickens gut und schlecht ist, erwächst aus dieser Empfindung. Mitleid und Empörung sind die leitenden Affekte in seinem Werk. Es erzählt von Kränkungen und Schrecken kindhaften Ursprungs und von den grandiosen Genugtuungen, durch die sie später gutgemacht werden. Das heißt, ganz gutgemacht werden können sie natürlich nie.
Das gilt von Dickens selbst, der, auch als er schon lang der berühmteste Schriftsteller des britischen Empire war, sich niemals von seinen manischen Zügen befreite und unersättlich in immer weitere profitable Projekte stürzte, bis er schließlich, völlig ausgepumpt, mit bloß 58 Jahren starb. Das gilt mehr noch von seinen Büchern, deren dunkle Anfänge unvergleichlich eindrücklichere Kraft besitzen als die idyllischen Schlüsse. Es bleibt da stets ein Missverhältnis zwischen Ausgangs- und Endpunkt, überbrückt durch einen Plot, in dem Vertauschungen, Familiengeheimnisse, Zufälle und Ähnliches reichlich strapaziert werden. So etwas ist statthaft in der kindgemäßesten aller Literaturgattungen, im Märchen, dem Dickens immer nahesteht; dem realistischen Roman darf man es verübeln. Was genau und in welcher Verkettung es in Dickens’ Romanen geschieht, lohnt meist nicht die Mühe der Nacherzählung, oder vielmehr, in der Nacherzählung nähmen sie sich alberner aus, als sie es verdienen; denn Dickens lebt eindeutig nicht im Ganzen, sondern in seinen Teilen. Seine Romane, urteilt George Orwell, glichen Gebäuden mit miserabler Architektur, aber tollen Wasserspeiern.
Am 7. Februar 1812 wurde Dickens geboren. Anlässlich des Jubiläums sind eine ganze Reihe von Büchern neu erschienen. Zu den altbekannten gehört „Oliver Twist“, das Reclam in einer schönen, gut kommentierten Ausgabe in der Übersetzung von Axel Monte neu vorlegt. Es ist oft gesagt worden, und besonders oft über „Oliver Twist“, Dickens habe seine kindlichen Helden zu tugendblassen Milchgesichtern gemacht. Doch nur unter dieser Bedingung vermag dem Unrecht, das ihnen widerfährt, jene Kraft zuzuwachsen, die das Buch trägt. Wenn Dickens den Leser verlockt, mit und über Oliver seine Tränen zu vergießen, dann hat er nur dieses eine Schicksal vor Augen und ganz gewiss keinen Klassenkampf; es wird sich zum Schluss herausstellen, dass Oliver bloß versehentlich in die falsche Klasse einsortiert worden ist und es sich bei ihm tatsächlich um einen reichen Erben, einen geborenen Gentleman handelt.
Nie hat sich Dickens gegen Kinderarbeit überhaupt ausgesprochen; nur dass er, der kleine Charles, sie leisten musste, wo er doch so ein begabtes Kind war, das schrie zum Himmel. Hier steckt eine Inkonsequenz des sozialen Denkens. Diese Haltung kann man unterschiedlich bewerten. Karl Marx soll Dickens als Schilderer der konkreten Armut im England seiner Zeit hoch geschätzt haben. Lenin hingegen regte sich über solche „Mittelklassen-Sentimentalität“ dermaßen auf, dass er die Bühnenversion eines Werks von Dickens mitten in einer Szene verließ. Freilich war das fragliche Werk auch ausgerechnet „Das Heimchen am Herd“ gewesen.
Der Autor handelt nicht mit Bedacht so; er tut es in aller Unschuld, einer Unschuld, die man bei einem erstrangigen Autor leicht etwas fehl am Platz finden könnte. Die Folge ist, dass Dickens, obwohl seine Darstellung Züge einer überaus scharfen Kritik an der Gesellschaft aufweist, dennoch auf deren breiteste Zustimmung stößt. Die Ursachen des elementaren Unrechts, etwa, dass ein Kind nicht genügend zu essen bekommt, fasst Dickens nicht ins Auge. Man betrachte die berühmte Stelle, wo Oliver es sich herausnimmt, den Koch im Armenhaus um einen Nachschlag zu bitten. Er tritt mit seinem Napf an und sagt mit klarer Stimme: „Bitte, Sir, ich möchte noch mehr“, im Original: „Please, Sir, I want some more.“ Der Satz hat zwei intonatorische Gipfel, das „Sir“ und das „more“. Das „more“ ist eine unmissverständliche Forderung; doch aus dem „Sir“ spricht eine Ehrerbietung für die bestehenden Autoritäten, die Dickens niemals ablegt.
Dickens war kein Mann der Reformen, sondern der bloßen Bekämpfung von „Missständen“, die sich doch müssten ausbügeln lassen, wenn alle Menschen guten Willens zusammenhelfen. Das Erforderliche hüllt sich in Bescheidenheit. Aber in dieser unscheinbaren Schale schlummert die Nuss der Revolution. Dies wird auch im Fall Olivers sogleich ersichtlich. Der Koch, bestürzt, schlägt mit der Suppenkelle nach Oliver, eine Ausschusssitzung des Armenhaus-Beirats beschäftigt sich mit dem Fall, Oliver wird arretiert und des Armenhauses verwiesen – womit die Handlung des Buchs erst eigentlich in Gang kommt.
Die Welt des Charles Dickens ist ungemein breit und reich, aber gesehen wird sie aus der Froschperspektive eines Kindes, das auf dem Wohnzimmerteppich spielt. Menschen erscheinen da, wenn sie sich herabbeugen, als übermächtige Masken, grotesk, oft bedrohlich; und sie scheiden sich nicht kategorial von den Dingen. Ja oft sind die Dinge diesem Auge sehr viel näher und trauter.
Man betrachte, wie in „Das Geheimnis des Edwin Drood“, in einer Neuübersetzung von Burkhart Kroeber, die jetzt bei Manesse herausgekommen ist, ein Vorratsschrank beschrieben wird: „hob sich der untere Schieber, so kamen Orangen ans Licht, beaufsichtigt von einer großen lackierten Zuckerdose zwecks Linderung ihrer Bitterkeit, falls sie noch unreif waren. Selbstgebackene Plätzchen bildeten das Gefolge dieser Mächte, begleitet von einem tüchtigen Stück Plumcake und schlanken ‚Damenfingern‘, die man in Süßwein stippt und dann zärtlich küsst. Ganz unten schließlich barg ein kompaktes Bleigewölbe den Süßwein sowie einen Vorrat an Likören, aus dem ein Gewisper von andalusischen Orangen, Zitronen, Mandeln und Kümmel aufstieg. Krönend wehte um diesen Schrank der Schränke ein duftiger Klang, als hätten die Glocken- und Orgelklänge der Kathedrale ihn jahrhundertelang durchsummt, bis diese ehrwürdigen Bienen alles, was er enthielt, zu feinstem Honig gemacht hatten; und stets war bemerkt worden, dass ein jeder, der in diese Fächer eintauchte (die, wie gesagt, so tief waren, dass Kopf, Schultern und Ellbogen darin verschluckt wurden) so milden Gesichts wieder hervorkam, dass man meinen konnte, er hätte sich einer Verwandlung in reines Sacharin unterzogen.“
Dieser Schrank besitzt in vollem Maße, was Dickens’ Charakteren abgeht: Tiefe. Das Dinghafte ist in ihm zu einer verdichteten Räumlichkeit geworden, deren hoher Druck zugleich die feinste Sinnlichkeit der Düfte und Klänge destilliert. Der Hymnus des Schranks umfasst zwei Druckseiten. Nach seinem Auftritt wundert sich der Leser nicht mehr, dass in diesem Buch ernsthaft die Frage erörtert wird, ob Dinge, wie Menschen, als Gespenster umgehen können.
„Das Geheimnis des Edwin Drood“ war Dickens’ letzter Roman, über dem er starb und der darum unvollendet blieb. Edwin Drood verschwindet, allem Anschein nach wurde er ermordet; doch wie und von wem, das hat Dickens nicht hinterlassen. Die Nachwelt besitzt lediglich die bereits fertiggestellten Illustrationen für die fehlenden Lieferungen – ein Geheimnis also, das unversehens zu einem größeren wurde, als der Autor es geplant hatte. Es gibt dazu rund 1800 Publikationen, ein Tribunal über den mutmaßlichen Täter wurde unter Beteiligung von George Bernard Shaw und G. K. Chesterton abgehalten, und mehrfach ist der Versuch unternommen worden, das fehlende Ende zu konstruieren.
Ulrike Leonhardt hat sich an diesem eminent englischen Spiel nun mit einem deutschen Beitrag versucht. Sie tut es mit viel Gefühl für Dickens’ Stil und Eigenart, mit Liebe, Sorgfalt und Scharfsinn. Mit mehr Sorgfalt und Scharfsinn, möchte man vermuten, als Dickens selbst mit seinen oft willkürlichen Schlüssen wohl darauf verwendet hätte. Auch ist einem der muntere und sonst etwas farblose Held keineswegs so ans Herz gewachsen wie beispielsweise der oben zitierte Schrank. Nicht zuletzt glaubt man Dickens keinen echten Mord – so wenig, wie ein Kind eine Vorstellung von dem hat, was der Tod bedeutet.
Wie vom Tod fehlt Dickens auch ein eigentlicher Begriff von der Liebe. Die Liebesgeschichten stellen den schwächsten Part seiner umfänglichen Romane dar. Das geht weit über die bekannte Prüderie des viktorianischen Zeitalters hinaus. Als die erstaunlichste Publikation im Jubiläumsjahr darf man den Band „Der Schwarze Schleier“ aus dem Aufbau-Verlag bezeichnen, der eine Reihe wenig oder auf Deutsch bislang gar nicht bekannter Erzählungen enthält, darunter den „Doktor Marigold“, die Geschichte eines „Billigen Jakob“, der über die Märkte zieht und alles vom Kochtopf bis zur Rasierklinge verhökert. Ihn begleitet ein kleines taubstummes Mädchen, das er unterwegs gegen ein Paar Hosenträger eingehandelt hat und dem er das Lesen und eine ganz eigene Gebärdensprache beibringt.
Doktor Marigold („Doktor“ ist sein kurioser Vorname) ist, wie in seinem Beruf nicht anders möglich, ein großer Volksredner; aber um die Liebe zu seiner angenommenen Tochter fühlbar zu machen, die er schließlich doch in einer Taubstummenschule anmeldet, bedient sich der Ich-Erzähler anderer Mittel: „Der Herr lächelte und meinte dann: ‚Nun ja‘, sagte er, ‚zunächst muss ich wissen, was sie schon alles gelernt hat. Wie verständigen Sie sich mit ihr?‘ Da zeigte ich es ihm, und sie schrieb in Druckbuchstaben viele Namen von Dingen und so weiter auf; und wir führten eine lebhafte Konversation, Sophy und ich, über eine kleine Geschichte in einem Buch, das der Herr ihr zeigte und das sie lesen konnte. ‚Das ist außerordentlich‘, sagte der Herr.“ Hier hat sich die Gestalt der Liebe völlig in das eine Wort des Erstaunens zurückgezogen, das der Beobachter dieser Leistung spricht.
Doch wäre Dickens nicht Dickens, wenn er das Rührend-Moralische an der Szene nicht auch explizit hervorhöbe: „,Dann‘, meinte der Herr, und nie hat mir jemand angenehmere Worte gesagt, ‚sind Sie ein sehr schlauer Bursche und ein guter Kerl.‘ Das teilte er auch Sophy mit, die ihm die Hände küsste, in die ihren klatschte und darüber lachte und weinte.“ Der heutige Leser hat an solchen Stellen dasselbe Gefühl wie der Erforscher des Wunderschranks aus „Edwin Drood“: der Verwandlung einer Köstlichkeit in reines Sacharin beizuwohnen. Wer so etwas nicht zumindest gelegentlich erträgt, für den ist Dickens verloren. Das wäre schade.
Denn dann entgingen ihm auch die „Großen Erwartungen“ in der Neuübersetzung von Melanie Walz, erschienen bei Hanser. Schon der Titel macht klar, dass Dickens hier vielleicht das einzige Mal über seinen Schatten springt: Indem er die Erwartung zum Gegenstand erklärt und nicht etwa nur als unentbehrliche Vorstufe der Erfüllung einführt, verlässt er die Bahn der Naivität und befindet sich mit seinem Roman, der den Weg von der Täuschung zur Enttäuschung nachzeichnet, unvermutet auf Augenhöhe mit Flauberts „Éducation sentimentale“. Freilich gibt Dickens, anders als Flaubert, dem Scheitern und Vermögensverlust noch einen moralischen Drall, indem Pip, der Protagonist, dabei eine seelische Läuterung erfährt.
Der Band ist als schöne Dünndruckausgabe gestaltet und ausgezeichnet kommentiert. Wie auch die drei anderen gibt er Gelegenheit, die heutige Höhe der Übersetzerkunst in Deutschland zu bewundern, nicht als isolierte Spitzenleistung, sondern als Standard. Nur in einem Punkt treffen alle Dickens-Übersetzer auf ein hartnäckiges Hindernis, und das ist bei der Wiedergabe der Unterschichten-Sprache, die sich in England auf ganz besondere Weise aus Anteilen der Region und der Klasse zusammensetzt. Hier hilft es weder, ersatzweise einen bestimmten deutschen Dialekt heranzuziehen wieeinst Gustav Meyrink, bei dem die Cockneys Wienerisch reden, noch auch, etwas Originelles zu improvisieren. „Ich mach Sie blind mach ich Sie, das könnse mir glaum! Die Augen tu ich Ihn’n ausschmeißen tu ich, das könnse mir glaum! Verrecken will ich, wenn ich Ihn’n nich die Augen ausschmeiß!“ Wenn ein Übersetzer wie Burkhart Kroeber es nicht anders hinbekommt als so, darf man das Problem getrost als unlösbar betrachten.
Einen kleinen, im Aufbau Verlag erschienenen Band gibt es noch, der Zeugnisse von Dickens’ Kindern über ihren Vater versammelt. Von den insgesamt zehn Kindern, die Dickens hatte, kommen vier zu Wort, die Töchter Mamie und Kate, die Söhne Henry und Charlie. Kaum etwas erfährt man über den großen Bruch in der Familie, als Dickens Knall auf Fall seine Frau und die Mutter seiner Kinder verließ um einer siebzehnjährigen Schauspielerin willen. Alle sind sie, wenn sie von den Wonnen des riesigen Haushalts erzählen, bemüht, ihren Vater zu schirmen, und nur zuweilen klingt ein Unterton des Grolls durch. Natürlich hat Dickens ungeheuer viel mit seinen Kindern unternommen, so hyperaktiv wie er war; und dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass er selbst im Herzen viel zu sehr ein Kind geblieben ist, um jemals wirklich Vater zu werden.
BURKHARD MÜLLER
CHARLES DICKENS: Oliver Twist oder der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Monte. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 687 S., 29,95 Euro
CHARLES DICKENS: Das Geheimnis des Edwin Drood. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Burkhart Kroeber. Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt. Manesse Verlag, Zürich 2012. 766 S., 24,95 Euro.
CHARLES DICKENS: Große Erwartungen. Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 829 S., 34,90 Euro.
CHARLES DICKENS: Der schwarze Schleier. Neu entdeckte Meistererzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Seeberger. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 399 S., 22,99 Euro.
MARY UND CHARLIE DICKENS: Unser Vater Charles Dickens. Herausgegeben und aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 206 S., 14,99 Euro.
Die Figuren aus Dickens’ Werk
haben die Buchseiten verlassen –
allen voran Ebenezer Scrooge
Das Mitleid und die Empörung
sind die leitenden
Affekte in seinem großen Werk
Bei Dickens können auch die
Dinge, nicht anders als die
Menschen, zu Gespenstern werden
Sie bleibt ein schwerer Brocken
für alle Dickens-Übersetzer:
die Sprache der Unterschichten
Im Jahr 1859 gründete Charles
Dickens die Zeitschrift „All the Year round“, benannt nach einer Zeile aus Shakespeares „Othello“. Die Karikatur von George Goursat
zeigt Dickens, wie er auf einem Ring mit der Inschrift sitzt: „Conducted by Charles Dickens – All The Year Round“.
Foto: Hulton Archive/Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Stimmt schon, an Nachruhm fehlt es Charles Dickens nicht, dennoch nutzt Ursula März den anstehenden zweihundertsten Geburtstag, um den Romancier noch einmal grundsätzlich zu preisen - aber auch seinen Roman "Große Erwartungen", der von Melanie Walz laut März "glanzvoll" ins Deutsche übersetzt wurde. Die Geschichte von Philip Pirrip - genannt Pip -, dessen Aufstieg vom bäuerlichen Vollwaisen zum Londoner Gentleman sich eher wie eine Schauergeschichte ausnimmt, hat der Rezensentin den Atem verschlagen. Für einen "großen kathartischen Moment der Weltliteratur" hält sie den Punkt, an dem das Märchen umschlägt, und für mindestens so erkenntnisfördernd wie die "Dialektik der Aufklärung".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein grandioser Roman, eines von den wenigen Büchern, die wirklich zur Sprache bringen, was es mit dem Leben auf sich hat." Orhan Pamuk
"Noch heute ist Charles Dickens der populärste Romancier Großbritanniens. Jetzt lässt die Neuübersetzung seiner "Großen Erwartungen" von Melanie Walz sein Geheimnis erahnen." Markus Gasser, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.11
"Ein reifes Meisterwerk. Charles Dickens zählt zu den Giganten." Hannes Stein, Die Welt
"Kaum ein Roman ist besser geeignet, dem heutigen Leser die literarische und soziobiografische Modernität Charles Dickens' zu veranschaulichen wie "Große Erwartungen". Dass gerade dieser Roman zum 200. Geburtstag des englischen Giganten in der glanzvollen Neuübersetzung von Melanie Walz im Deutschen erschien, ist ein Glücksfall." Ursula März, Die Zeit, 02.02.12
"Der Band ist als schöne Dünndruckausgabe gestaltet und ausgezeichnet kommentiert. ... Er gibt Gelegenheit, die heutige Höhe der Übersetzerkunst inDeutschland zu bewundern, nicht als isolierte Spitzenleistung, sondern als Standard." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 04.02.12
"..eine wunderbare Neuübersetzung von Melanie Walz (...) Ihr gelingt es, die Eleganz und den Witz der Vorlage beizubehalten und sie zugleich frisch klingen zu lassen." Daniela Zinser, taz, 07.02.12
"Die zentrale Dickens-Neuübersetzung der Saison steuert der Hanser Verlag bei (...) Die Übersetzung von Melanie Walz besticht durch den perfekten Transport des hier extremen Sprachwitzes." Frankfurter Rundschau, 07.02.12
"Noch heute ist Charles Dickens der populärste Romancier Großbritanniens. Jetzt lässt die Neuübersetzung seiner "Großen Erwartungen" von Melanie Walz sein Geheimnis erahnen." Markus Gasser, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.11
"Ein reifes Meisterwerk. Charles Dickens zählt zu den Giganten." Hannes Stein, Die Welt
"Kaum ein Roman ist besser geeignet, dem heutigen Leser die literarische und soziobiografische Modernität Charles Dickens' zu veranschaulichen wie "Große Erwartungen". Dass gerade dieser Roman zum 200. Geburtstag des englischen Giganten in der glanzvollen Neuübersetzung von Melanie Walz im Deutschen erschien, ist ein Glücksfall." Ursula März, Die Zeit, 02.02.12
"Der Band ist als schöne Dünndruckausgabe gestaltet und ausgezeichnet kommentiert. ... Er gibt Gelegenheit, die heutige Höhe der Übersetzerkunst inDeutschland zu bewundern, nicht als isolierte Spitzenleistung, sondern als Standard." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 04.02.12
"..eine wunderbare Neuübersetzung von Melanie Walz (...) Ihr gelingt es, die Eleganz und den Witz der Vorlage beizubehalten und sie zugleich frisch klingen zu lassen." Daniela Zinser, taz, 07.02.12
"Die zentrale Dickens-Neuübersetzung der Saison steuert der Hanser Verlag bei (...) Die Übersetzung von Melanie Walz besticht durch den perfekten Transport des hier extremen Sprachwitzes." Frankfurter Rundschau, 07.02.12