»Was haben Sie 2020 gemacht?« In dem Jahr, in dem die Welt »bewegt ist, miteinmal, stillezustehn«. Als die Straßen »entmenscht« sind, die Stadt ruhiggestellt ist und »die Logik der Rettung« lautet: »Nicht vor Publikum, nicht in dieser Saison«. Während »Wetterwandel« und »Weltenaufruhr« andernorts weitertoben: Im Anthropozän findet der Mekong sein Delta nicht mehr, fressen sich Brände in den trockenen Wald, herrscht ein »Krieg der Landschaften«. Und inmitten all dessen wir – der so moderne, aber doch vergängliche Mensch, der »Mensch der Katastrophe«, zu allem fähig, im Guten wie im Schlechten, stets menschlich.
Die neuen Gedichte von Volker Braun vermessen eine Welt, einen Alltag im Wandel. Immer politisch, immer sozial zeigt sich der Mensch in diesem Dazwischen. Und kann sich – trotz allen Fortschritts – die Natur am Ende doch nicht unterwerfen. Aber im ewigen Werden und Vergehen liegt auch ein gewisser Trost.
Die neuen Gedichte von Volker Braun vermessen eine Welt, einen Alltag im Wandel. Immer politisch, immer sozial zeigt sich der Mensch in diesem Dazwischen. Und kann sich – trotz allen Fortschritts – die Natur am Ende doch nicht unterwerfen. Aber im ewigen Werden und Vergehen liegt auch ein gewisser Trost.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Reizvoll rätselhaft findet Rezensent Jan Wiele Volker Brauns neue Gedichte. Der Miesepeter der Texte entstammt nicht nur dem Lockdown, stellt er fest, kommt mit dem Stillliegen des Kulturbetrieb aber super zurecht. Ein bisschen elitär, ein bisschen moralisch scheinen die Texte Wiele. Zwischen Schmerz und Läuterung entdeckt er Kalauer und das Schelmentum desjenigen, der sich die längste Zeit seines Lebens an verschiedenen Gesellschaftsformen "abgearbeitet" hat. Autobiografisches findet Wiele hier ebenso wie Zeitsprünge bis zurück zu Dante.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2021Das Naheliegende birgt das Geheimnis
Wenn das Unbewusste keine Bilder mehr liefert: Volker Brauns neue Gedichte sind durchsetzt von pandemischer Not
Das Coronavirus ist mehr als bloß ein Krankheitserreger. Es dringt in alle Gesellschaftsbereiche ein, indem es das Sozialverhalten verändert. Es ist nicht nur ein biologisches Problem für den Körper, sondern wirkt genauso infektiös auf die Psyche, auf Träume, Bewusstsein und Unbewusstes. Also verbreitet sich das Virus auch im Grenzbereich zwischen Schlaf und Wachen, wo die „Große Fuge“, der neue Gedichtband von Volker Braun angesiedelt ist. „Seit langem träume ich nicht“, bekennt der Büchnerpreisträger in einer Art prosaischem Prolog, und liefert auch gleich die Diagnose dazu: „kein Homeoffice im Schlaf“.
Nur ein Wachtraum stellt sich ein, der „von einer Sache, die nicht in der Welt ist“ handelt. Doch dagegen steht „eine Welt, die nicht meine Sache ist“. In diesem dialektischen Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Utopie und Untergang bewegt sich Brauns virale Lyrik, die das eigene „Schmerzgedächtnis“ durchforscht, mit Dante den „Sechsten Kreis“ der Hölle durchmisst und erkennt, dass die virusinduzierte Berührungslosigkeit sich bestens mit der „Me Too“-Ästhetik verbindet. Vorsicht und Abstand sind in jeder Hinsicht geboten, sodass Braun sarkastisch kommentiert: „also das Abendland geht ohne Abschied / Ein Winkewinke, das wars.“
In diese Erfahrung von Körperlosigkeit und Kulturzerfall fügt sich die Erinnerung an eine flüchtige Liebe, an einen zarten Kuss, aus dem nichts folgte, ein aufgeknöpftes Kleid, zitternde Nüstern, Hals, Wange, Mund, das „angstlos“ gezeigte „nackte Gesicht“ in „normalen Zeiten“. Denn wie wäre das heute, mit Mundschutz, ohne Zunge und Zähne, der Kuss nur gehaucht und „mit vorsichtshalber geschlossenen Augen“? Kein Wunder, dass das Unbewusste keine Bilder mehr liefert und die Gedichte durchsetzt sind von pandemischer Not. Doch mit der Philosophin Donna Haraway und ihrer Cyborg- und Transgender-Forschung hält Braun auch hier dagegen und spricht in die Zukunft hinein: „Warum sollte der Körper an der Haut enden oder nur aufnehmen, was in Haut genäht ist?“ Wenn sich das Geschlecht schon „mit einem Sprechakt ändern“ lässt, was hält den Menschen dann fest in seinem verletzlichen Leib?
Das erste Gedicht des Bandes ist mit „Nach unserer Zeit“ überschrieben. Da treibt eine weiße Yacht mit gebrochenem Mast, bewegungsunfähig, irgendwo bei den Philippinen im Ozean. An Bord die Leiche eines Mannes, zusammengesackt wie dreckiger Sand. Dieses Geisterschiff ist Brauns Menetekel, Bildnis der Menschheit „in ihrem Fahrzeug nach ihrer Zeit“, und so ist es nur konsequent, wenn das letzte Gedicht dann „Geisterstunde“ heißt.
Da besuchen die lebenden Dichter – Hensel, Teschke, Tragelehn, Gröschner – ihre toten Kollegen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin – Zweig, Müller, Hacks, Hilbig, Brecht, Seghers, – und lassen sie, indem sie deren Verse zitieren, lebendig werden. Die Toten brauchen die Lebenden, weil sie keine Zungen, keine Eingeweide und kein Gedächtnis haben. Doch währenddessen verwandeln sich die Lebenden in Gespenster, unter deren Schritten der Kies knirscht.
Brauns Gedichte sind Werkstücke aus dem Steinbruch der Traditionen, Collagen aus Material von Hölderlin, Kleist, Müller oder Meinhof, „Tonkrieger“ aus der Töpferwerkstatt, wie ein Kapitel des schmalen Bandes heißt. Braun inszeniert das Material „als Gespräch mit sich selbst“, sichtbar zum Beispiel in dem Gedicht „K wie Kertész“, das Zitate aus Imre Kertész’ Tagebuch „Letzte Einkehr“ mit Erinnerungen an eine persönliche Begegnung verknüpft. Der Dichter Volker Braun ist ein Arbeiter in der Wörterwerkstatt und lässt sich dabei zusehen, wie er an seine Gegenständen formt und schleift. Dabei schreckt er auch vor Kalauern nicht zurück, wenn aus der Katharsis in Corona-Zeiten die Katarrhsis wird und aus dem als „Eisern Union“ firmierenden Berliner Fußballverein „Bleiern Union“. Doch so bleiern die Zeit und die Zustände auch sein mögen, versucht Braun dem „beinahe heillosen Stillstand“ in der „wie ein Pestpatient ruhiggestellten Stadt“ doch etwas Gutes abzugewinnen. Wenn die Straßen „entmenscht“ und „von der Krätze der Kunden befreit“ sind, dann ist schon das aus kapitalismuskritischer Perspektive durchaus begrüßenswert. Rudolf Bahro, der in dem Gedicht „Der Aussätzige“ als Geist ohne Mundschutz, doch mit Meditationskissen ausgerüstet, erscheint, könnte dafür der Kronzeuge sein. Seine Rettung ist das Nichtstun. Nur Entschleunigung bis hin zum Stillstand lässt hoffen.
Zwei Mal kommt in Brauns großer Fuge das Wort „mitleidenschaftlich“ vor. Da argumentiert er „gemeinsüchtig“ mit Marx, appelliert an das „Menschenmögliche“, was auch immer das ist. „Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“, hat Volker Braun in der Nachwendezeit im Rückblick auf den Sozialismus gedichtet, als „sein Land“, die DDR, in den Westen ging. Mittlerweile hat sich die Perspektive umgekehrt. Der Blick geht nicht zurück, sondern nach vorn. Da aber gilt es, gegen den Untergang und das „Winkewinke“, mit dem sich das Abendland verabschiedet, einen Rest Hoffnung und Aufbruch zu verteidigen. So ist die „Große Fuge“ letztlich wohl ein hoffnungsvoller Zyklus.
JÖRG MAGENAU
Was hält den Menschen
eigentlich in seinem
verletzlichen Körper?
Volker Braun:
Große Fuge.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
56 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn das Unbewusste keine Bilder mehr liefert: Volker Brauns neue Gedichte sind durchsetzt von pandemischer Not
Das Coronavirus ist mehr als bloß ein Krankheitserreger. Es dringt in alle Gesellschaftsbereiche ein, indem es das Sozialverhalten verändert. Es ist nicht nur ein biologisches Problem für den Körper, sondern wirkt genauso infektiös auf die Psyche, auf Träume, Bewusstsein und Unbewusstes. Also verbreitet sich das Virus auch im Grenzbereich zwischen Schlaf und Wachen, wo die „Große Fuge“, der neue Gedichtband von Volker Braun angesiedelt ist. „Seit langem träume ich nicht“, bekennt der Büchnerpreisträger in einer Art prosaischem Prolog, und liefert auch gleich die Diagnose dazu: „kein Homeoffice im Schlaf“.
Nur ein Wachtraum stellt sich ein, der „von einer Sache, die nicht in der Welt ist“ handelt. Doch dagegen steht „eine Welt, die nicht meine Sache ist“. In diesem dialektischen Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Utopie und Untergang bewegt sich Brauns virale Lyrik, die das eigene „Schmerzgedächtnis“ durchforscht, mit Dante den „Sechsten Kreis“ der Hölle durchmisst und erkennt, dass die virusinduzierte Berührungslosigkeit sich bestens mit der „Me Too“-Ästhetik verbindet. Vorsicht und Abstand sind in jeder Hinsicht geboten, sodass Braun sarkastisch kommentiert: „also das Abendland geht ohne Abschied / Ein Winkewinke, das wars.“
In diese Erfahrung von Körperlosigkeit und Kulturzerfall fügt sich die Erinnerung an eine flüchtige Liebe, an einen zarten Kuss, aus dem nichts folgte, ein aufgeknöpftes Kleid, zitternde Nüstern, Hals, Wange, Mund, das „angstlos“ gezeigte „nackte Gesicht“ in „normalen Zeiten“. Denn wie wäre das heute, mit Mundschutz, ohne Zunge und Zähne, der Kuss nur gehaucht und „mit vorsichtshalber geschlossenen Augen“? Kein Wunder, dass das Unbewusste keine Bilder mehr liefert und die Gedichte durchsetzt sind von pandemischer Not. Doch mit der Philosophin Donna Haraway und ihrer Cyborg- und Transgender-Forschung hält Braun auch hier dagegen und spricht in die Zukunft hinein: „Warum sollte der Körper an der Haut enden oder nur aufnehmen, was in Haut genäht ist?“ Wenn sich das Geschlecht schon „mit einem Sprechakt ändern“ lässt, was hält den Menschen dann fest in seinem verletzlichen Leib?
Das erste Gedicht des Bandes ist mit „Nach unserer Zeit“ überschrieben. Da treibt eine weiße Yacht mit gebrochenem Mast, bewegungsunfähig, irgendwo bei den Philippinen im Ozean. An Bord die Leiche eines Mannes, zusammengesackt wie dreckiger Sand. Dieses Geisterschiff ist Brauns Menetekel, Bildnis der Menschheit „in ihrem Fahrzeug nach ihrer Zeit“, und so ist es nur konsequent, wenn das letzte Gedicht dann „Geisterstunde“ heißt.
Da besuchen die lebenden Dichter – Hensel, Teschke, Tragelehn, Gröschner – ihre toten Kollegen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin – Zweig, Müller, Hacks, Hilbig, Brecht, Seghers, – und lassen sie, indem sie deren Verse zitieren, lebendig werden. Die Toten brauchen die Lebenden, weil sie keine Zungen, keine Eingeweide und kein Gedächtnis haben. Doch währenddessen verwandeln sich die Lebenden in Gespenster, unter deren Schritten der Kies knirscht.
Brauns Gedichte sind Werkstücke aus dem Steinbruch der Traditionen, Collagen aus Material von Hölderlin, Kleist, Müller oder Meinhof, „Tonkrieger“ aus der Töpferwerkstatt, wie ein Kapitel des schmalen Bandes heißt. Braun inszeniert das Material „als Gespräch mit sich selbst“, sichtbar zum Beispiel in dem Gedicht „K wie Kertész“, das Zitate aus Imre Kertész’ Tagebuch „Letzte Einkehr“ mit Erinnerungen an eine persönliche Begegnung verknüpft. Der Dichter Volker Braun ist ein Arbeiter in der Wörterwerkstatt und lässt sich dabei zusehen, wie er an seine Gegenständen formt und schleift. Dabei schreckt er auch vor Kalauern nicht zurück, wenn aus der Katharsis in Corona-Zeiten die Katarrhsis wird und aus dem als „Eisern Union“ firmierenden Berliner Fußballverein „Bleiern Union“. Doch so bleiern die Zeit und die Zustände auch sein mögen, versucht Braun dem „beinahe heillosen Stillstand“ in der „wie ein Pestpatient ruhiggestellten Stadt“ doch etwas Gutes abzugewinnen. Wenn die Straßen „entmenscht“ und „von der Krätze der Kunden befreit“ sind, dann ist schon das aus kapitalismuskritischer Perspektive durchaus begrüßenswert. Rudolf Bahro, der in dem Gedicht „Der Aussätzige“ als Geist ohne Mundschutz, doch mit Meditationskissen ausgerüstet, erscheint, könnte dafür der Kronzeuge sein. Seine Rettung ist das Nichtstun. Nur Entschleunigung bis hin zum Stillstand lässt hoffen.
Zwei Mal kommt in Brauns großer Fuge das Wort „mitleidenschaftlich“ vor. Da argumentiert er „gemeinsüchtig“ mit Marx, appelliert an das „Menschenmögliche“, was auch immer das ist. „Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“, hat Volker Braun in der Nachwendezeit im Rückblick auf den Sozialismus gedichtet, als „sein Land“, die DDR, in den Westen ging. Mittlerweile hat sich die Perspektive umgekehrt. Der Blick geht nicht zurück, sondern nach vorn. Da aber gilt es, gegen den Untergang und das „Winkewinke“, mit dem sich das Abendland verabschiedet, einen Rest Hoffnung und Aufbruch zu verteidigen. So ist die „Große Fuge“ letztlich wohl ein hoffnungsvoller Zyklus.
JÖRG MAGENAU
Was hält den Menschen
eigentlich in seinem
verletzlichen Körper?
Volker Braun:
Große Fuge.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
56 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2021Ich muss euch sagen, es kalauert sehr
Vom Elysium ins Illuseum zur Katarrhsis: Volker Brauns Lyrikband "Große Fuge"
Die Stadt ist ruhiggestellt wie ein Pestpatient / Ein Morgenfrieden bis Mitternacht / Entmenschte Straßen, wie befreit von der Krätze / Der Kunden": Ist das hier ein weiteres Lockdown-Werk, geschrieben unter dem Eindruck einer Wirklichkeit, die schon gar nicht mehr gültig ist - jetzt, da Straßen und Stadien wieder voll sind mit Durchdrehenden, kein Morgenfrieden zu haben ist und die "Krätze der Kunden" überall? Wohl kaum, denn das lyrische Ich dieses Gedichts hat mehr Misanthropie und Kartäusermentalität aufgestaut, als man wohl in der bisherigen Corona-Zeitspanne hätte sammeln können, dazu braucht es wohl viel längere Lebenserfahrung.
Dieses Ich zieht aus dem pandemiebedingten Stillstand eine bösartige Genugtuung. Während andere jammern über Schließungen und Kürzungen, jubiliert es: "Katarrh im Kulturbetrieb, einmal / all dem (Unfug) Einhalt gebieten EIN JAHR OHNE KUNST / So kommt Ruhe ins Verfahren, Ihr Dilettanten." Das ist schönstes Schimpfen und Protzen, wie es heute allenfalls noch im Hip-Hop, nicht aber im Kulturbetrieb erlaubt ist (Achtung, elitär!). Wenn es dann weiter heißt: "Ein fahler Hauch / Touchiert Deine Lungen, du atmest durch / Im Anthropozän", steckt in diesem Spott dann eine Club-of-Rome-Weisheit, nach dem Motto: Die Menschheit wird ja eh bald verschwinden? Das wohl nicht, denn das Gedicht trägt deutliche Zeichen der Ironie. Etwa, wenn es angesichts der Kürzung von Bedürftigen-Hilfe feststellt: "Auch die Tafel ist dichtgemacht, eine Schutzmaßnahme."
Hinter der Miesepeter-Rolle verbirgt sich vielleicht doch ein Moralist, aber das bleibt offen. Zumal, wenn der Dichter dann noch aus Ezra Pounds letztem "Canto" zitiert: "The scientists are in terror / And the European mind stops". Vielleicht doch kein so erstrebenswerter Zustand?
Auch der Titel des Gedichts, "Katarrhsis", enthält das Schwanken zwischen quälendem Schmerz und notwendiger Läuterung. Der Zug zum Kalauer, der in dieser Wortkombination steckt, ist auch anderen Stücken aus dem vorliegenden Band nicht fremd: Das Körper-Gedicht "Leibesbeweis" beklagt den kilometerlangen Darm des Menschen, aus dem "der Abflat keinen Ausweg findet". In einem anderen grüßt uns die herbeiphantasierte Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway: "WELCOME TO THE KOM-POSTMODERNE".
Die ganz unterschiedlichen, zwischen Prosa und Lyrik schillernden Texte in diesem Band erhalten somit auch etwas Schelmisches, ein Sichaußerhalbstellen dessen, der alles erlebt und gesehen hat. Vielleicht so wie der Autor, Volker Braun, der mittlerweile 82 Jahre alt ist und sich lebenslang an den Gesellschaftsformen abgearbeitet hat, deren Zeitzeuge er wurde, im Sozialismus wie im Kapitalismus.
Vielleicht aber auch so wie seine Gewährsleute, die in diesen teils traumhaft zwischen den Epochen umherspringenden Texten bis zu Dante zurückreichen, den er in dem autobiographisch anmutenden Gedicht "Sechster Kreis" aufruft. Es führt an die Bornholmer Straße in Berlin, also an einen mit Bedeutung aufgeladenen Übergang zwischen zwei Welten. Den von der DDR zur BRD hat Braun hier selbst erlebt, "um aufzusteigen aus der kargen Sphäre. / Zum Kreis der Schlemmer!" Und doch stellt das lyrische Ich nun fest: "Merkwürdig mager ist man hier kahlköpfig / Wir sehn uns an: bin ichs? sind wir es? wie / Dante die Verbraucher vorgesehen hat".
Das Fazit lautet vorderhand: "Nicht ins Elysium, ins Illuseum / Hat mich der Weg allesamt geleitet". Ob sich dieses lyrische Ich von Text zu Text gleicht, ist schwer zu sagen, es wandelt jedenfalls beständig die Gestalt zwischen "Urmensch" und "Maschinenmensch", zwischen "Windbürger" und "panischem Freitagskind", das auf alten Schlachtfeldern "das Roastbeef Europas" liegen sieht oder den Geistern verstorbener Schriftsteller begegnet, immer dabei suchend seinen "Trampelpfad" heraus "aus den Systemen". Ehe man sich zu sicher ist, es einmal dingfest gemacht zu haben, versichert es: "Meinem Wesen entspricht / Seh ich das da / Daß ich Abstand halte und auf Anfrage twittere: / Ich bin / nicht der / Und meine Billigung / ihr / habt nicht."
Nicht zuletzt der Titel des Gedichtbandes schillert: "Große Fuge" kann auf einen musikalischen Versuch hindeuten, der an Beethovens gleichnamiges Spätwerk erinnert (vielleicht auch ironisch?) und durch den sich als Thema, wie verfremdet auch immer, Brauns eigener Lebensfaden zieht. Oder aber der Titel bezeichnet eine Zeit-Fuge, in die wir, die Leser, auch ohne Pandemie hineingezogen werden könnten, um innezuhalten. Beides ist, so wie der ganze Band, reizvoll rätselhaft.
JAN WIELE
Volker Braun: "Große Fuge". Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 56 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Elysium ins Illuseum zur Katarrhsis: Volker Brauns Lyrikband "Große Fuge"
Die Stadt ist ruhiggestellt wie ein Pestpatient / Ein Morgenfrieden bis Mitternacht / Entmenschte Straßen, wie befreit von der Krätze / Der Kunden": Ist das hier ein weiteres Lockdown-Werk, geschrieben unter dem Eindruck einer Wirklichkeit, die schon gar nicht mehr gültig ist - jetzt, da Straßen und Stadien wieder voll sind mit Durchdrehenden, kein Morgenfrieden zu haben ist und die "Krätze der Kunden" überall? Wohl kaum, denn das lyrische Ich dieses Gedichts hat mehr Misanthropie und Kartäusermentalität aufgestaut, als man wohl in der bisherigen Corona-Zeitspanne hätte sammeln können, dazu braucht es wohl viel längere Lebenserfahrung.
Dieses Ich zieht aus dem pandemiebedingten Stillstand eine bösartige Genugtuung. Während andere jammern über Schließungen und Kürzungen, jubiliert es: "Katarrh im Kulturbetrieb, einmal / all dem (Unfug) Einhalt gebieten EIN JAHR OHNE KUNST / So kommt Ruhe ins Verfahren, Ihr Dilettanten." Das ist schönstes Schimpfen und Protzen, wie es heute allenfalls noch im Hip-Hop, nicht aber im Kulturbetrieb erlaubt ist (Achtung, elitär!). Wenn es dann weiter heißt: "Ein fahler Hauch / Touchiert Deine Lungen, du atmest durch / Im Anthropozän", steckt in diesem Spott dann eine Club-of-Rome-Weisheit, nach dem Motto: Die Menschheit wird ja eh bald verschwinden? Das wohl nicht, denn das Gedicht trägt deutliche Zeichen der Ironie. Etwa, wenn es angesichts der Kürzung von Bedürftigen-Hilfe feststellt: "Auch die Tafel ist dichtgemacht, eine Schutzmaßnahme."
Hinter der Miesepeter-Rolle verbirgt sich vielleicht doch ein Moralist, aber das bleibt offen. Zumal, wenn der Dichter dann noch aus Ezra Pounds letztem "Canto" zitiert: "The scientists are in terror / And the European mind stops". Vielleicht doch kein so erstrebenswerter Zustand?
Auch der Titel des Gedichts, "Katarrhsis", enthält das Schwanken zwischen quälendem Schmerz und notwendiger Läuterung. Der Zug zum Kalauer, der in dieser Wortkombination steckt, ist auch anderen Stücken aus dem vorliegenden Band nicht fremd: Das Körper-Gedicht "Leibesbeweis" beklagt den kilometerlangen Darm des Menschen, aus dem "der Abflat keinen Ausweg findet". In einem anderen grüßt uns die herbeiphantasierte Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway: "WELCOME TO THE KOM-POSTMODERNE".
Die ganz unterschiedlichen, zwischen Prosa und Lyrik schillernden Texte in diesem Band erhalten somit auch etwas Schelmisches, ein Sichaußerhalbstellen dessen, der alles erlebt und gesehen hat. Vielleicht so wie der Autor, Volker Braun, der mittlerweile 82 Jahre alt ist und sich lebenslang an den Gesellschaftsformen abgearbeitet hat, deren Zeitzeuge er wurde, im Sozialismus wie im Kapitalismus.
Vielleicht aber auch so wie seine Gewährsleute, die in diesen teils traumhaft zwischen den Epochen umherspringenden Texten bis zu Dante zurückreichen, den er in dem autobiographisch anmutenden Gedicht "Sechster Kreis" aufruft. Es führt an die Bornholmer Straße in Berlin, also an einen mit Bedeutung aufgeladenen Übergang zwischen zwei Welten. Den von der DDR zur BRD hat Braun hier selbst erlebt, "um aufzusteigen aus der kargen Sphäre. / Zum Kreis der Schlemmer!" Und doch stellt das lyrische Ich nun fest: "Merkwürdig mager ist man hier kahlköpfig / Wir sehn uns an: bin ichs? sind wir es? wie / Dante die Verbraucher vorgesehen hat".
Das Fazit lautet vorderhand: "Nicht ins Elysium, ins Illuseum / Hat mich der Weg allesamt geleitet". Ob sich dieses lyrische Ich von Text zu Text gleicht, ist schwer zu sagen, es wandelt jedenfalls beständig die Gestalt zwischen "Urmensch" und "Maschinenmensch", zwischen "Windbürger" und "panischem Freitagskind", das auf alten Schlachtfeldern "das Roastbeef Europas" liegen sieht oder den Geistern verstorbener Schriftsteller begegnet, immer dabei suchend seinen "Trampelpfad" heraus "aus den Systemen". Ehe man sich zu sicher ist, es einmal dingfest gemacht zu haben, versichert es: "Meinem Wesen entspricht / Seh ich das da / Daß ich Abstand halte und auf Anfrage twittere: / Ich bin / nicht der / Und meine Billigung / ihr / habt nicht."
Nicht zuletzt der Titel des Gedichtbandes schillert: "Große Fuge" kann auf einen musikalischen Versuch hindeuten, der an Beethovens gleichnamiges Spätwerk erinnert (vielleicht auch ironisch?) und durch den sich als Thema, wie verfremdet auch immer, Brauns eigener Lebensfaden zieht. Oder aber der Titel bezeichnet eine Zeit-Fuge, in die wir, die Leser, auch ohne Pandemie hineingezogen werden könnten, um innezuhalten. Beides ist, so wie der ganze Band, reizvoll rätselhaft.
JAN WIELE
Volker Braun: "Große Fuge". Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 56 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Große Fuge kann auf einen musikalischen Versuch hindeuten, der an Beethovens gleichnamiges Spätwerk erinnert ... Oder aber der Titel bezeichnet eine Zeit-Fuge, in die wir, die Leser, auch ohne Pandemie hineingezogen werden könnten, um innezuhalten. Beides ist, so wie der ganze Band, reizvoll rätselhaft.« Jan Wiele Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210708