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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kanzelworte: Ein Band mit christlichen Predigten aus zwei Jahrtausenden
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich der Predigt zu entziehen. Die erste stellt William Hogarth in einer berühmten Karikatur vor Augen: Man lässt den Prediger unbeachtet und gibt sich dem Kirchenschlaf hin. Die zweite Möglichkeit, heute mehrheitlich gebraucht, ist radikaler und bequemer: Man geht gar nicht erst zur Kirche.
Doch ist die christliche Predigt wirklich so langweilig, wie es Hogarth' Karikatur nahelegt? Den Gegenbeweis tritt das Buch "Große Predigten" an. Es versammelt dreißig Predigten aus allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte und lädt damit ein, sich mit den zwei Themen sonntäglicher Kirchenrede auseinanderzusetzen: mit dem "Wort Gottes" und dem "christlichen Protest" - so angeführt im Untertitel des Buches. Christlicher Protest wird dann laut, wenn der Redner zu Zeitfragen Stellung bezieht und die Öffentlichkeit mit dem christlichen Standpunkt konfrontiert. Geben wir mehreren Predigern und einer Predigerin selbst das Wort: "Sind sie" - die Indios in Lateinamerika - "etwa keine Menschen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst?" - Antonio de Montesinos, 1511. "Das Schicksal unseres Bruders Martin Niemöller, der nun schon seit Anfang März im Konzentrationslager eingesperrt gehalten wird, geht uns alle an" - Albert Schmidt, 1933. "Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen" - Martin Luther King, 1963. "Was die einen besitzen, wird den anderen, die durch ihre Arbeit dazu beigetragen haben, geraubt" - Dorothee Sölle, 1992. "Ungerechtigkeit kann niemals das letzte Wort haben. Die, die an der Macht sind und die Macht rücksichtslos gebrauchen, werden ins Gras beißen, immer und überall. Macht ist zum Dienen da" - Desmond Tutu, 2004.
Gute Prediger verstehen es, ihre Botschaft knapp und eingängig zu formulieren. Provokation, die dem Prediger gefährlich werden kann, ist nur die eine und vielleicht sogar die zweitrangige Seite seines Geschäfts. Wer predigt, muss zunächst die christliche Lehre, wie sie in den Büchern der Bibel grundgelegt ist, der Zuhörerschaft erklären und nahebringen. Auch hier ist Prägnanz das erfolgreichste Rezept, beispielhaft vorgeführt in der Bergpredigt Jesu mit dem Wort "Liebt eure Feinde!" Geben wir wiederum einigen Predigern und einer Predigerin das Wort - immer aus den Beiträgen des Buches: "Wer behauptet, er sei ohne Glauben ein Gerechter, der lügt" - Augustinus, nach 410. "Sobald die Menschen üble Werke tun, werden Luft und Wasser davon betroffen" - Hildegard von Bingen, nach 1152. "Wir sind alle Priester" - Luther, 1544. "Jene sind wahre Verehrer Mariä, die täglich zunehmen im Eifer für alles Gute" - Johann Michael Sailer, 1788. "Gewaltsam muss die Macht der Sünde in dem Menschen ertötet werden durch die Pein der Selbsterkenntnis" - Schleiermacher, 1821. Nur durch solche Sätze lässt sich ein Verständnis dessen gewinnen, was Christsein ausmacht.
Zu Wort kommen Männer und (wenige) Frauen, Katholiken und Protestanten verschiedener Richtungen. Bekannte Namen fehlen nicht - Luther, Herder, Albert Schweitzer, Oscar Romero, doch auch weniger bekannte oder vergessene Stimmen lassen sich entdecken - Charles Simeon, Otto Spülbeck und der kürzlich verstorbene Jenaer Theologe Klaus-Peter Hertzsch. Jede Predigt ist von einem Kenner mit einer Einleitung versehen, so dass die Leser nicht nur den Wortlaut der Predigt studieren können, sondern auch mit dem Prediger selbst und seiner Zeit bekannt werden. Auf diese Weise entsteht ein christliches Lesebuch, das den Titel haben könnte: "mit dreißig Predigten durch die Geschichte der Kirche, von Jesus bis Desmond Tutu".
"Man staunt über die Klugheit, die Kunst, den Mut, die Sensibilität, die Originalität vieler dieser Predigten. Man staunt über den Glauben, der sich darin äußert", schreibt der Hamburger Hauptpastor Johann Hinrich Claussen im Vorwort. Mit Recht feiert er das Predigen als wertvolles Kulturgut. Doch so schön und anregend das Werk ist, die Freude daran wird durch redaktionelle Nachlässigkeit getrübt. Die Beiträge sind nicht vereinheitlicht. So steht ein gut lesbarer, der heutigen Sprache angepasster Text von Luther neben einer Barockpredigt, die ohne sprachliche Bearbeitung geblieben ist. Dem Leser wird vorenthalten, was es heißt, wenn mitten in einer Predigt "M. Th.!" steht - gemeint ist die Anrede "Meine Theuren!" Solche Probleme häufen sich. Herausgeber und Verlag haben sich offenbar wenig Mühe gegeben. Ob sie bei der Lektüre der Beiträge vom Kirchenschlaf übermannt worden sind?
BERNHARD LANG
"Große Predigten". 2000 Jahre Gottes Wort und christlicher Protest. Hrsg. von Johann Hinrich Claussen und Martin Rössler.
Lambert Schneider Verlag, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015. 415 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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