Marion Poschmann, bekannt durch ihren von der Kritik hochgelobten Debütroman "Baden bei Gewitter" ("Die schönste Liebesgeschichte seit langem" FAZ), legt einen neuen Lyrikband vor. "Grund zu Schafen" heißt der zweite Gedichtband der gegenwärtigen Villa-Massimo-Stipendiatin. Bereits die Titel der Gedichte Marion Poschmanns evozieren Bilder und Gefühle. Die Dichterin zeigt uns die "Geometrie der Melancholie", erzählt uns von "Glasuren des Januar" und gibt lyrische Assoziationen zu Gemälden Cy Twomblys. Das lyrische Ich von Marion Poschmann präsentiert sich ganz unverstellt. Entstanden sind wundervolle, luzide Texte, ungereimt, aber voller Rhythmus. Es ist die Faszination des Wortes, der Nachklang der Bilder, die diese Gedichte zu einem großen Kunstgenuss machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2004Ganz unten
Heimschläfer auf Höllenfahrt: Die Belletristik in diesem Herbst
Kurz und Gut steht jeden Morgen an der Ecke und erzählt. Man nennt ihn Kurz und Gut, weil er, ständig hustend und lungenkrank, nicht mehr ausreichend Luft für eine ausführliche Erzählung hat. "Also kurz und gut, sagte er dann: Viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter." So rezitiert er wörtlich den Beginn von Dostojewskis "Idiot" und erzählt dann, kurz und gut, dessen Quintessenz in einem einzigen Satz. Dieser Kurz und Gut ist nur eine der unvergeßlichen Figuren in Dieter Fortes neuem Roman "Auf der anderen Seite der Welt" (S. Fischer), eine Gestalt wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der sich ins Nachkriegs-Düsseldorf verirrt hat. Wie alle diese Figuren ist er ein Führer in die Unterwelt. Zu Beginn des Romans reist der Erzähler, das Kind aus Fortes autobiographischer Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern", ans Meer, in ein Lungensanatorium, eine Hadesfahrt ohne Wiederkehr. Fortes Buch ist eines der düstersten dieses Herbstes und zugleich eines der reichsten, eine postapokalyptische Version des "Zauberbergs", die die "Stunde Null" nicht als Tor zu hellen Wirtschaftswundertagen versteht, sondern als schwarzes Loch, das Vergangenheit wie Zukunft in seinen Sog reißt.
Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken. Es ist kein Zufall, daß eine der interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, "Höllenfahrten" von Isabel Platthaus (Wilhelm Fink), die "Unterwelten der Moderne" von Joyce bis Pynchon ausmißt. Der Abstieg in die Unterwelt ist stets auch ein Blick in die Tiefe der eigenen Seele und die Untiefen der Vergangenheit.
"Da geht's gleich richtig in den Schacht", nennt das Lutz Schaper, eine der Hauptfiguren in Antje Rávic Strubels Roman "Tupolew 134", der auf einem authentischen Fall beruht: 1978 entführten zwei DDR-Bürger eine polnische Linienmaschine auf dem Rückflug nach Schönefeld und zwangen sie zur Landung in Tegel. Wie Strubel die bleierne Atmosphäre jener Jahre sinnlich heraufbeschwört und zugleich die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit demonstriert, ist virtuos. Der "Schacht" wird dabei zur zentralen Metapher der Erinnerung, immer wieder geht es nach "ganz unten", wo die Grenzen der Dinge und alle Gewißheiten verschwimmen.
Nicht nur für DDR-Bürger war West-Berlin ein Sehnsuchtsort. Auch mancher bundesrepublikanischer Wehrpflichtiger entzog sich so der Einberufung. Der zweite Roman von Sven Regener "Neue Vahr Süd" (Eichborn) liefert die Vorgeschichte seines Herrn Lehmann nach, der in den frühen Achtzigern nahe bei Bremen zum Bund muß. "Die ihr antretet, laßt alle Hoffnung fahren" könnte hier über dem Kasernentor stehen. Regener liefert die burleske Variante der Höllenfahrt, die immer pünktlich am Wochenende unterbrochen wird. Doch als Heimschläfer kann er nicht sicher sein, ob seine versifftes WG-Zimmer nicht in Wahrheit der allerunterste Kreis der Hölle ist.
Das gleiche gilt für jenen diabolischen Sexclub namens "Klapsmühle", den Abel Nema in Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage" (Luchterhand) betritt und nur nackt und zerschunden wieder verläßt. Schlagender als durch Moras grandioses Panorama unserer Epoche der Fluchten und Vertreibungen mit seiner Vielzahl faszinierender Figuren und Geschichten läßt sich das Motto von Kurz und Gut nicht beweisen. Eine ähnliche Stoffülle bietet Thomas Brussig in "Wie es leuchtet" (S. Fischer) auf. Doch der vermeintlich ultimative Wenderoman demonstriert, daß allein die Addition von Episoden noch lange kein Zeitpanorama macht.
Die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss ging ja aus dem Plan hervor, Dantes "Commedia" für das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben. Der dunkelste Schreckensort war hier Plötzensee, die Schlachtstätte der Hitler-Attentäter. F. C. Delius erinnert in "Mein Jahr als Mörder" (Rowohlt Berlin) an das Schicksal des Widerständlers Georg Groscurth, der im Mai 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde und dessen Sohn ein Kindheitsfreund des Autors war. Als 1968 der NS-Richter freigesprochen wird, faßt der Erzähler den Entschluß zur Selbstjustiz. An '68 arbeiten sich gleich mehrere Generationen ab: Gerhard Seyfried, Jahrgang 1948, stellt sich noch einmal unter den "Schwarzen Stern der Tupamaros" (Eichborn), Sophie Dannenberg, geboren 1971, klagt im Namen der unter Spätfolgen leidenden Kinder "Das bleiche Herz der Revolution" an (DVA), und Peter Rühmkorf (1929) veröffentlicht seine Tagebücher 1971/72 (Rowohlt).
Wer hierzulande familiengeschichtliche Grabungen anstellt, stößt irgendwann immer auf eine Kammer des Schreckens. Martin Pollack forscht seinem Vater nach, einem später wohl von Partisanen 1947 ermordeten SS-Offizier und Kriegsverbrecher ("Der Tote im Bunker", Zsolnay). Jakob Hein dagegen erinnert sich anrührend an seine verstorbene Mutter und erkundet dabei die jüdischen Wurzeln der Familie im Dritten Reich ("Vielleicht ist es sogar schön", Piper). Auch einige der wichtigsten Übersetzungen sind Familienromane, doch wer hier angesichts der Titel Erbaulicheres erwartet, täuscht sich: Über der "Liebe" in Toni Morissons gleichnamigem Roman (Rowohlt) scheint ein Fluch zu liegen; in Amoz Oz' gewaltiger "Geschichte von Liebe und Finsternis" (Suhrkamp) droht den knapp den europäischen Schrecken entronnenen Juden in Palästina erneut die Vernichtung. Daß der Amerikaner Denis Johnson nicht allzu optimistisch in die Welt blickt, ist aus seiner Novelle "Train Dreams" (Mare) in aller Konzentration abermals zu erfahren. Endlich übersetzt wurde "Der Besen im System", der hintersinnig-irrsinnige Debütroman des genialischen David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch). Im Osten Europas taugt der Fortschritt schon lange nur noch als Groteskenstoff. Der Tscheche Péter Zilahy blickt in seinem verspielten "Revolutions-Alphabet" "Die letzte Fenstergiraffe" (Eichborn) mit Kinderblick auf das ehemalige Jugoslawien. Viktor Pelewin stellt in "Die Dialektik der Übergangsepoche von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" (Luchterhand) den ganzen postkommunistischen Aberwitz Rußlands bloß. "Das jetzige System nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus", so heißt es bei Forte.
Nicht nur die deutsche Literatur also hat jeden Glauben an Fortschritt und Vervollkommnung längst aufgegeben. Das bevorstehende Schiller-Jahr dürfte spannend werden: Zwar ist Schiller ja selbst vor allem in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" der schärfste Fortschrittskritiker gewesen, hatte aber doch mit allem Pathos die Kunst als Remedium inthronisiert. Vielleicht ist ja der "ästhetische Zustand", als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, gar nicht so weit weg von Pelewins buddhistischer Weltentrücktheit. Neben neuen Werkausgaben erscheinen zwei Biographien: Während Sigrid Damm (Insel) eher das Private erkundet, nimmt Rüdiger Safranski (Hanser) eine ambitionierte Rekonstruktion des Schillerschen Idealismus vor.
Und wo versteckt sich in der Gegenwart das Positive? Natürlich in der literarischen Form - und in der Liebe, die ja auch nur eine Funktion der Sprache ist. Marion Poschmanns Buch "Grund zu Schafen" (Frankfurter Verlagsanstalt) ist einer der wichtigsten Gedichtbände der letzten Zeit und markiert die Rückkehr einer Naturlyrik auf höchstem Sprach- und Reflexionsniveau. Diese in wunderbaren, manchmal zunächst dunklen, dann blitzartig klaren Sprachbildern eingefangene Natur erobert sich auch hier die resignierende industrielle Zivilisation zurück. Und wo die Biologie kein Rätsel mehr offenläßt, muß die Sprache die Welt ins Wundersame und Märchenhafte überführen.
Ein Programm, das auch die große Naturerzählerin Brigitte Kronauer unterschreiben würde. Sie hat mit "Verlangen nach Musik und Gebirge" (Klett-Cotta) einen ausgelassenen, entrückten Liebesverwirrungsroman geschrieben. Wie bei Forte beginnt das Buch mit einer seltsamen Reise ans Meer, nach Oostende. Und wenn man diese beiden Zugfahrten nacheinander liest, dann hat man fast schon das ganze Spektrum dieses Herbstes aufgefächert.
RICHARD KÄMMERLINGS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heimschläfer auf Höllenfahrt: Die Belletristik in diesem Herbst
Kurz und Gut steht jeden Morgen an der Ecke und erzählt. Man nennt ihn Kurz und Gut, weil er, ständig hustend und lungenkrank, nicht mehr ausreichend Luft für eine ausführliche Erzählung hat. "Also kurz und gut, sagte er dann: Viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter." So rezitiert er wörtlich den Beginn von Dostojewskis "Idiot" und erzählt dann, kurz und gut, dessen Quintessenz in einem einzigen Satz. Dieser Kurz und Gut ist nur eine der unvergeßlichen Figuren in Dieter Fortes neuem Roman "Auf der anderen Seite der Welt" (S. Fischer), eine Gestalt wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der sich ins Nachkriegs-Düsseldorf verirrt hat. Wie alle diese Figuren ist er ein Führer in die Unterwelt. Zu Beginn des Romans reist der Erzähler, das Kind aus Fortes autobiographischer Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern", ans Meer, in ein Lungensanatorium, eine Hadesfahrt ohne Wiederkehr. Fortes Buch ist eines der düstersten dieses Herbstes und zugleich eines der reichsten, eine postapokalyptische Version des "Zauberbergs", die die "Stunde Null" nicht als Tor zu hellen Wirtschaftswundertagen versteht, sondern als schwarzes Loch, das Vergangenheit wie Zukunft in seinen Sog reißt.
Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken. Es ist kein Zufall, daß eine der interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, "Höllenfahrten" von Isabel Platthaus (Wilhelm Fink), die "Unterwelten der Moderne" von Joyce bis Pynchon ausmißt. Der Abstieg in die Unterwelt ist stets auch ein Blick in die Tiefe der eigenen Seele und die Untiefen der Vergangenheit.
"Da geht's gleich richtig in den Schacht", nennt das Lutz Schaper, eine der Hauptfiguren in Antje Rávic Strubels Roman "Tupolew 134", der auf einem authentischen Fall beruht: 1978 entführten zwei DDR-Bürger eine polnische Linienmaschine auf dem Rückflug nach Schönefeld und zwangen sie zur Landung in Tegel. Wie Strubel die bleierne Atmosphäre jener Jahre sinnlich heraufbeschwört und zugleich die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit demonstriert, ist virtuos. Der "Schacht" wird dabei zur zentralen Metapher der Erinnerung, immer wieder geht es nach "ganz unten", wo die Grenzen der Dinge und alle Gewißheiten verschwimmen.
Nicht nur für DDR-Bürger war West-Berlin ein Sehnsuchtsort. Auch mancher bundesrepublikanischer Wehrpflichtiger entzog sich so der Einberufung. Der zweite Roman von Sven Regener "Neue Vahr Süd" (Eichborn) liefert die Vorgeschichte seines Herrn Lehmann nach, der in den frühen Achtzigern nahe bei Bremen zum Bund muß. "Die ihr antretet, laßt alle Hoffnung fahren" könnte hier über dem Kasernentor stehen. Regener liefert die burleske Variante der Höllenfahrt, die immer pünktlich am Wochenende unterbrochen wird. Doch als Heimschläfer kann er nicht sicher sein, ob seine versifftes WG-Zimmer nicht in Wahrheit der allerunterste Kreis der Hölle ist.
Das gleiche gilt für jenen diabolischen Sexclub namens "Klapsmühle", den Abel Nema in Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage" (Luchterhand) betritt und nur nackt und zerschunden wieder verläßt. Schlagender als durch Moras grandioses Panorama unserer Epoche der Fluchten und Vertreibungen mit seiner Vielzahl faszinierender Figuren und Geschichten läßt sich das Motto von Kurz und Gut nicht beweisen. Eine ähnliche Stoffülle bietet Thomas Brussig in "Wie es leuchtet" (S. Fischer) auf. Doch der vermeintlich ultimative Wenderoman demonstriert, daß allein die Addition von Episoden noch lange kein Zeitpanorama macht.
Die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss ging ja aus dem Plan hervor, Dantes "Commedia" für das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben. Der dunkelste Schreckensort war hier Plötzensee, die Schlachtstätte der Hitler-Attentäter. F. C. Delius erinnert in "Mein Jahr als Mörder" (Rowohlt Berlin) an das Schicksal des Widerständlers Georg Groscurth, der im Mai 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde und dessen Sohn ein Kindheitsfreund des Autors war. Als 1968 der NS-Richter freigesprochen wird, faßt der Erzähler den Entschluß zur Selbstjustiz. An '68 arbeiten sich gleich mehrere Generationen ab: Gerhard Seyfried, Jahrgang 1948, stellt sich noch einmal unter den "Schwarzen Stern der Tupamaros" (Eichborn), Sophie Dannenberg, geboren 1971, klagt im Namen der unter Spätfolgen leidenden Kinder "Das bleiche Herz der Revolution" an (DVA), und Peter Rühmkorf (1929) veröffentlicht seine Tagebücher 1971/72 (Rowohlt).
Wer hierzulande familiengeschichtliche Grabungen anstellt, stößt irgendwann immer auf eine Kammer des Schreckens. Martin Pollack forscht seinem Vater nach, einem später wohl von Partisanen 1947 ermordeten SS-Offizier und Kriegsverbrecher ("Der Tote im Bunker", Zsolnay). Jakob Hein dagegen erinnert sich anrührend an seine verstorbene Mutter und erkundet dabei die jüdischen Wurzeln der Familie im Dritten Reich ("Vielleicht ist es sogar schön", Piper). Auch einige der wichtigsten Übersetzungen sind Familienromane, doch wer hier angesichts der Titel Erbaulicheres erwartet, täuscht sich: Über der "Liebe" in Toni Morissons gleichnamigem Roman (Rowohlt) scheint ein Fluch zu liegen; in Amoz Oz' gewaltiger "Geschichte von Liebe und Finsternis" (Suhrkamp) droht den knapp den europäischen Schrecken entronnenen Juden in Palästina erneut die Vernichtung. Daß der Amerikaner Denis Johnson nicht allzu optimistisch in die Welt blickt, ist aus seiner Novelle "Train Dreams" (Mare) in aller Konzentration abermals zu erfahren. Endlich übersetzt wurde "Der Besen im System", der hintersinnig-irrsinnige Debütroman des genialischen David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch). Im Osten Europas taugt der Fortschritt schon lange nur noch als Groteskenstoff. Der Tscheche Péter Zilahy blickt in seinem verspielten "Revolutions-Alphabet" "Die letzte Fenstergiraffe" (Eichborn) mit Kinderblick auf das ehemalige Jugoslawien. Viktor Pelewin stellt in "Die Dialektik der Übergangsepoche von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" (Luchterhand) den ganzen postkommunistischen Aberwitz Rußlands bloß. "Das jetzige System nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus", so heißt es bei Forte.
Nicht nur die deutsche Literatur also hat jeden Glauben an Fortschritt und Vervollkommnung längst aufgegeben. Das bevorstehende Schiller-Jahr dürfte spannend werden: Zwar ist Schiller ja selbst vor allem in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" der schärfste Fortschrittskritiker gewesen, hatte aber doch mit allem Pathos die Kunst als Remedium inthronisiert. Vielleicht ist ja der "ästhetische Zustand", als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, gar nicht so weit weg von Pelewins buddhistischer Weltentrücktheit. Neben neuen Werkausgaben erscheinen zwei Biographien: Während Sigrid Damm (Insel) eher das Private erkundet, nimmt Rüdiger Safranski (Hanser) eine ambitionierte Rekonstruktion des Schillerschen Idealismus vor.
Und wo versteckt sich in der Gegenwart das Positive? Natürlich in der literarischen Form - und in der Liebe, die ja auch nur eine Funktion der Sprache ist. Marion Poschmanns Buch "Grund zu Schafen" (Frankfurter Verlagsanstalt) ist einer der wichtigsten Gedichtbände der letzten Zeit und markiert die Rückkehr einer Naturlyrik auf höchstem Sprach- und Reflexionsniveau. Diese in wunderbaren, manchmal zunächst dunklen, dann blitzartig klaren Sprachbildern eingefangene Natur erobert sich auch hier die resignierende industrielle Zivilisation zurück. Und wo die Biologie kein Rätsel mehr offenläßt, muß die Sprache die Welt ins Wundersame und Märchenhafte überführen.
Ein Programm, das auch die große Naturerzählerin Brigitte Kronauer unterschreiben würde. Sie hat mit "Verlangen nach Musik und Gebirge" (Klett-Cotta) einen ausgelassenen, entrückten Liebesverwirrungsroman geschrieben. Wie bei Forte beginnt das Buch mit einer seltsamen Reise ans Meer, nach Oostende. Und wenn man diese beiden Zugfahrten nacheinander liest, dann hat man fast schon das ganze Spektrum dieses Herbstes aufgefächert.
RICHARD KÄMMERLINGS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2004Hagelkörner nach Gewicht sortiert
Fremdartige Lockstoffe: Marion Poschmanns Gedichtband „Grund zu Schafen”
„Grund zu Schafen” ist Marion Poschmanns zweiter Gedichtband. Und was für ein zweiter Band! Am erstaunlichsten ist vielleicht, dass man bei vielen der Gedichte gar nicht sagen kann, wovon sie handeln, wie man doch meist Gedichte auf ein Thema einigermaßen eindeutig beziehen kann. Das zeigt schon, dass Marion Poschmann nicht Standard-Sujets bedichtet. Nicht einmal in den „Oden nach der Natur”, die den Band einleiten, obschon sie dort durchaus Wind und Büsche und kleine grasbewachsene Flächen - ein verwilderter Balkonblumenkasten? ein Grab? - figurieren und Wolken ziehen und Steine herumliegen und „Schleierhaftes” im wahrsten Sinn des Wortes durch das Gedicht treiben lässt, das sie dann auch „Naturgeister” nennt.
Banane, Banane
Und immer wieder staunt man auch über ihre Gedichtanfänge - ohnehin eine noch wenig beachtete Sparte lyrischer Kunstgriffe und poetischer Eröffnungszüge. Man nehme zum Beispiel Gottfried Benn: „Banane, yes Banane, / Vie mediterranee. . .” - das hat mehr als Schmiss (und klingt doch wie Berlin der zwanziger Jahre. . .), und wer wagt es, ein Gedicht mit dem Komparativ „Fetter . . .” beginnen zu lassen? Ja, Goethe, da war er 26 und risikofreudig. Marion Poschmann gleitet entweder unauffällig ins Gedicht hinein, setzt gar nicht an einem markierten syntaktischen Einschnitt ein, sondern fängt gleich mit Kleingeschriebenem an, als wolle sie zeigen, dass dies Gedicht aus einem lyrischen Prozess herausläuft, der schon vor ihm begann, oder sie benutzt den Typus des Steineinsatzes: „100g Gras. . .” Ein Gedicht beginnt hinterrücks mit dem Wort „hinterrücks” oder mit „Kochbirnen” oder einem schroffen „so daß. . .”
Dosierte Schroffheit und Trockenheit ermüdet einen nicht und zwingt zum Hellwachsein; oft gibt es keine Sätze, sondern Setzungen, Aufzählungen, Hindeutungen, die kein Verb brauchen und einfach nennend vergegenwärtigen. Dass die Gedichte nicht sangbar, verbindlich und leicht zu lesen sind, kommt daher, dass sie sich ganz selbstvergessen ihrem Sujet anschmiegen oder es erst durch die poetische Faktur herstellen, und dann entstehen, so zum Beispiel im Gedicht „Linien ziehen bei heftigem Wind”, ganz konkret vom Wind zerzauste Linien (sprich: Zeilen): Rötliches Gestrüpp; oder bräunliche Bälle, Blähungen, Blasentang, / dünner Zufluß von Licht, ein geripptes, ertränktes Unterhemd, // Schiesser-Wäsche mit prächtigem Muschelbesetz unter perligem Wasser, / pulsierende Woge, die langsam beatmen und wieder zusammenziehen // eine gekurvte Linie im Sand, Dünenlinie . . .
Es sind überlange Zweizeiler, Streckverse, verbale Linien, die Wind und Wogen krümmen. Metaphern gibt es eigentlich in diesen Gedichten nicht, das würde ja die Orientierung erleichtern (und wäre obendrein doch auch ein wenig bieder). Aber Worte oder Bilder werden hart gefügt, die Benennungen sind schon Bild, und wenn man bisweilen über Marion Poschmanns Lyrik lesen kann, sie komme von Friederike Mayröcker her, so ist das ganz irreführend, denn ihre lyrische Sprache ist viel weniger gleitend assoziativ, gewissermaßen weniger poetisch, weniger den Wörtern oder Worten nachträumend oder ihrem verblüffenden Reiz nachschmeckend. Sie ist nicht ein solcher weiblicher Ariel wie Friederike Mayröcker, sondern spricht intellektueller, nüchterner, und dies nicht nur in jenen zwei Gedichten, die, ohne anklagende Elendspoesie zu sein, die Trostlosigkeit und grausige Hässlichkeit von Vorstädten mit Industriebrachen durchstreifen und dann sarkastisch vor dem eigenen Gefühlsabscheu den Hut ziehen: „Verneigung vor den eigenen Gefühlen” das eine, „die Nähe der Abwärme suchen” das andere.
In solchen Umgebungen langt es nicht mehr zu Schwänen und heilignüchternem Wasser; vielmehr: „Enten mit schillernden Hälsen paddeln im Abwasserzufluß. . .” Peter Waterhouse hatte schon Recht, als er vor einigen Jahren einmal erörterte, ob ernsthaft in einem - nicht von vornherein juxigen oder den Alltag beplaudernden - Gedicht das Wort „Grillparty” vorkommen könne. Marion Pochmann riskiert dergleichen, aber nicht ostentativ, nicht für Showeffekte a la Ausstellung des Banalen oder Ästhetik des Hässlichen.
Ohne Augenzwinkern
Der Eindruck ist wohl richtig, dass ihr kürzere Gedichte und insbesondere solche, denen etwa per Odenform Kürze und Disziplin vorgeschrieben oder erzwungen sind, besser gelingen als lange Gedichte; die schon genannten „Sieben Oden nach der Natur” am Anfang des Bandes sind von geradezu federnder Dichte, auch völlig unkokett, obwohl sie doch von lauter kleinen poetischen Echos romantischer Gedichte von Claudius bis Goethe widerhallen und Dürers Rasenstück samt den späteren deutschen Eichen im Hintergrund stehen oder mitgemeint sind, wie beiläufig, ohne dass bedeutungsvoll augenzwinkernd darauf angespielt würde.
Wenn einzelne Gedichte kleine Schwachstellen haben, so sind diese nicht grundsätzlicher oder systematischer Art, sondern jeweils punktuell, vereinzelt, von unterschiedlicher Weise. Adjektive wie „feinstimmig” wirken leicht blaß und feinsinnig, „feiner Nebel” ist nahe beim Klischee; explizite Vergleiche in einem Gedicht, durch ein „wie” signalisiert, forderten notwendig schon den Spott Gottfried Benns heraus, weil sie ein Heranholen statt unmittelbares Sehen verraten. Und schwächlich-abstrakt, unanschaulich - Achtung! Genitivmetaphern! - sind in einem längeren Gedicht zwei Zeilen wie „nutzlose Ländereien der Langeweile / leisten eine Anhäufung von schönem Schein”.
Wie bitte? Diese Zeilen sollen von Marion Poschmann sein, zu deren Stärken doch das Ineinandersetzen des Abstrakten und des Konkreten, des Begriffs und des Bildes gehört, wie etwa in der titelgebenden Formulierung „Grund zu Schafen”, die zugleich hermetisch und offen, einfach und rätselhaft ist?
Gedrosselte Triebwerke
Doch am Ende bleibt festzuhalten, dass die beiden Poetinnen, die in diesem Jahr zu entdecken waren, Dorothea Grünzweig (deren Gedichtbände „Vom Eisgebreit” und „Glasstimmen” bei Wallstein erschienen sind) und Marion Poschmann sind. Nicht zuletzt kann man bei den beiden entdecken, dass „Naturlyrik” keineswegs am Ende ist. Es hilft nichts: Eines der Gedichte aus „Grund zu Schafen”, das verblüffende Herbstgedicht „Bäume auswickeln” muss hier am Schluss der Besprechung stehen:
Bäume auswickeln
hinterrücks mehren sich die Anzeichen: / Kältespitzen, Gefrierpunkte, Schneefräße - / Fast unerkennbar spazieren sie auf den Fenstersimsen / Trittsicher, tollkühn, ungehindert, / was wir für ewig schätzen, halten sie kahl / die Luft naturtrüb, der Vorgarten / flüchtig, die Tage am seidenen Faden, / wir sortieren Hagelkörner nach Gewicht, / die Nebel nach Dichte / die Sonne verläßt uns auf Schleichwegen / stets ohne Sichtkontakt, glänzend / kommen wir mit dem Haus zurecht, / es verhält sich vollkommen ruhig / nur das Gras ermattet verdächtig, / als träte Rost aus. Lockstoffe,fremdartig / und verschwenderisch, Leuchtkraftverstärker: / die Bäume stehen wie unbeteiligt, Zweige / zu Berge, gedrosselte Triebwerke, / hinterrücks verlieren sie sterbliche Hüllen, wir / hindern sie nicht.
JÖRG DREWS
MARION POSCHMANN: Grund zu Schafen. Gedichte. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 93 Seiten, 15,90 Euro.
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Fremdartige Lockstoffe: Marion Poschmanns Gedichtband „Grund zu Schafen”
„Grund zu Schafen” ist Marion Poschmanns zweiter Gedichtband. Und was für ein zweiter Band! Am erstaunlichsten ist vielleicht, dass man bei vielen der Gedichte gar nicht sagen kann, wovon sie handeln, wie man doch meist Gedichte auf ein Thema einigermaßen eindeutig beziehen kann. Das zeigt schon, dass Marion Poschmann nicht Standard-Sujets bedichtet. Nicht einmal in den „Oden nach der Natur”, die den Band einleiten, obschon sie dort durchaus Wind und Büsche und kleine grasbewachsene Flächen - ein verwilderter Balkonblumenkasten? ein Grab? - figurieren und Wolken ziehen und Steine herumliegen und „Schleierhaftes” im wahrsten Sinn des Wortes durch das Gedicht treiben lässt, das sie dann auch „Naturgeister” nennt.
Banane, Banane
Und immer wieder staunt man auch über ihre Gedichtanfänge - ohnehin eine noch wenig beachtete Sparte lyrischer Kunstgriffe und poetischer Eröffnungszüge. Man nehme zum Beispiel Gottfried Benn: „Banane, yes Banane, / Vie mediterranee. . .” - das hat mehr als Schmiss (und klingt doch wie Berlin der zwanziger Jahre. . .), und wer wagt es, ein Gedicht mit dem Komparativ „Fetter . . .” beginnen zu lassen? Ja, Goethe, da war er 26 und risikofreudig. Marion Poschmann gleitet entweder unauffällig ins Gedicht hinein, setzt gar nicht an einem markierten syntaktischen Einschnitt ein, sondern fängt gleich mit Kleingeschriebenem an, als wolle sie zeigen, dass dies Gedicht aus einem lyrischen Prozess herausläuft, der schon vor ihm begann, oder sie benutzt den Typus des Steineinsatzes: „100g Gras. . .” Ein Gedicht beginnt hinterrücks mit dem Wort „hinterrücks” oder mit „Kochbirnen” oder einem schroffen „so daß. . .”
Dosierte Schroffheit und Trockenheit ermüdet einen nicht und zwingt zum Hellwachsein; oft gibt es keine Sätze, sondern Setzungen, Aufzählungen, Hindeutungen, die kein Verb brauchen und einfach nennend vergegenwärtigen. Dass die Gedichte nicht sangbar, verbindlich und leicht zu lesen sind, kommt daher, dass sie sich ganz selbstvergessen ihrem Sujet anschmiegen oder es erst durch die poetische Faktur herstellen, und dann entstehen, so zum Beispiel im Gedicht „Linien ziehen bei heftigem Wind”, ganz konkret vom Wind zerzauste Linien (sprich: Zeilen): Rötliches Gestrüpp; oder bräunliche Bälle, Blähungen, Blasentang, / dünner Zufluß von Licht, ein geripptes, ertränktes Unterhemd, // Schiesser-Wäsche mit prächtigem Muschelbesetz unter perligem Wasser, / pulsierende Woge, die langsam beatmen und wieder zusammenziehen // eine gekurvte Linie im Sand, Dünenlinie . . .
Es sind überlange Zweizeiler, Streckverse, verbale Linien, die Wind und Wogen krümmen. Metaphern gibt es eigentlich in diesen Gedichten nicht, das würde ja die Orientierung erleichtern (und wäre obendrein doch auch ein wenig bieder). Aber Worte oder Bilder werden hart gefügt, die Benennungen sind schon Bild, und wenn man bisweilen über Marion Poschmanns Lyrik lesen kann, sie komme von Friederike Mayröcker her, so ist das ganz irreführend, denn ihre lyrische Sprache ist viel weniger gleitend assoziativ, gewissermaßen weniger poetisch, weniger den Wörtern oder Worten nachträumend oder ihrem verblüffenden Reiz nachschmeckend. Sie ist nicht ein solcher weiblicher Ariel wie Friederike Mayröcker, sondern spricht intellektueller, nüchterner, und dies nicht nur in jenen zwei Gedichten, die, ohne anklagende Elendspoesie zu sein, die Trostlosigkeit und grausige Hässlichkeit von Vorstädten mit Industriebrachen durchstreifen und dann sarkastisch vor dem eigenen Gefühlsabscheu den Hut ziehen: „Verneigung vor den eigenen Gefühlen” das eine, „die Nähe der Abwärme suchen” das andere.
In solchen Umgebungen langt es nicht mehr zu Schwänen und heilignüchternem Wasser; vielmehr: „Enten mit schillernden Hälsen paddeln im Abwasserzufluß. . .” Peter Waterhouse hatte schon Recht, als er vor einigen Jahren einmal erörterte, ob ernsthaft in einem - nicht von vornherein juxigen oder den Alltag beplaudernden - Gedicht das Wort „Grillparty” vorkommen könne. Marion Pochmann riskiert dergleichen, aber nicht ostentativ, nicht für Showeffekte a la Ausstellung des Banalen oder Ästhetik des Hässlichen.
Ohne Augenzwinkern
Der Eindruck ist wohl richtig, dass ihr kürzere Gedichte und insbesondere solche, denen etwa per Odenform Kürze und Disziplin vorgeschrieben oder erzwungen sind, besser gelingen als lange Gedichte; die schon genannten „Sieben Oden nach der Natur” am Anfang des Bandes sind von geradezu federnder Dichte, auch völlig unkokett, obwohl sie doch von lauter kleinen poetischen Echos romantischer Gedichte von Claudius bis Goethe widerhallen und Dürers Rasenstück samt den späteren deutschen Eichen im Hintergrund stehen oder mitgemeint sind, wie beiläufig, ohne dass bedeutungsvoll augenzwinkernd darauf angespielt würde.
Wenn einzelne Gedichte kleine Schwachstellen haben, so sind diese nicht grundsätzlicher oder systematischer Art, sondern jeweils punktuell, vereinzelt, von unterschiedlicher Weise. Adjektive wie „feinstimmig” wirken leicht blaß und feinsinnig, „feiner Nebel” ist nahe beim Klischee; explizite Vergleiche in einem Gedicht, durch ein „wie” signalisiert, forderten notwendig schon den Spott Gottfried Benns heraus, weil sie ein Heranholen statt unmittelbares Sehen verraten. Und schwächlich-abstrakt, unanschaulich - Achtung! Genitivmetaphern! - sind in einem längeren Gedicht zwei Zeilen wie „nutzlose Ländereien der Langeweile / leisten eine Anhäufung von schönem Schein”.
Wie bitte? Diese Zeilen sollen von Marion Poschmann sein, zu deren Stärken doch das Ineinandersetzen des Abstrakten und des Konkreten, des Begriffs und des Bildes gehört, wie etwa in der titelgebenden Formulierung „Grund zu Schafen”, die zugleich hermetisch und offen, einfach und rätselhaft ist?
Gedrosselte Triebwerke
Doch am Ende bleibt festzuhalten, dass die beiden Poetinnen, die in diesem Jahr zu entdecken waren, Dorothea Grünzweig (deren Gedichtbände „Vom Eisgebreit” und „Glasstimmen” bei Wallstein erschienen sind) und Marion Poschmann sind. Nicht zuletzt kann man bei den beiden entdecken, dass „Naturlyrik” keineswegs am Ende ist. Es hilft nichts: Eines der Gedichte aus „Grund zu Schafen”, das verblüffende Herbstgedicht „Bäume auswickeln” muss hier am Schluss der Besprechung stehen:
Bäume auswickeln
hinterrücks mehren sich die Anzeichen: / Kältespitzen, Gefrierpunkte, Schneefräße - / Fast unerkennbar spazieren sie auf den Fenstersimsen / Trittsicher, tollkühn, ungehindert, / was wir für ewig schätzen, halten sie kahl / die Luft naturtrüb, der Vorgarten / flüchtig, die Tage am seidenen Faden, / wir sortieren Hagelkörner nach Gewicht, / die Nebel nach Dichte / die Sonne verläßt uns auf Schleichwegen / stets ohne Sichtkontakt, glänzend / kommen wir mit dem Haus zurecht, / es verhält sich vollkommen ruhig / nur das Gras ermattet verdächtig, / als träte Rost aus. Lockstoffe,fremdartig / und verschwenderisch, Leuchtkraftverstärker: / die Bäume stehen wie unbeteiligt, Zweige / zu Berge, gedrosselte Triebwerke, / hinterrücks verlieren sie sterbliche Hüllen, wir / hindern sie nicht.
JÖRG DREWS
MARION POSCHMANN: Grund zu Schafen. Gedichte. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 93 Seiten, 15,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Harald Hartung ist recht beeindruckt vom zweiten Gedichtband Marion Poschmanns, dessen Titel er allerdings etwas verquer findet. Poschmanns Kunstfertigkeit sei beträchtlich, in ihrer Intelligenz und Sensibilität manchmal geradezu einschüchternd, bekennt Hartung. Dazu gehöre freilich, dass manches Gedicht dunkel bleibe - vielleicht, um der Banalität zu ergehen? Nicht so wichtig, findet Hartung, denn die Kunst dieser Lyrikerin ist für ihn "glücklicherweise" immer auch unreine Kunst, in der es den Schmutz der Bergarbeiterküchen ebenso gebe, wie "gänzlich Unmodernes" - zum Bespiel ihre fünf "Oden nach der Natur", die Hartungs erklärte Lieblingsstücke in dieser Sammlung sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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