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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Scheiternde Lebensträume der Generation Prenzlauer Berg: Anke Stelling seziert die Beziehungsunfähigkeit postmoderner Individualisten
Ist Deutschland in der Midlife-Krise? Geht es uns zu gut? Fünfundsiebzig Jahre ohne Krieg, drei Jahrzehnte nach dem kleinlauten Abgang des Sozialismus, da kann schon einmal die Frage nach dem Kinderwagenmodell zur lebensbeherrschenden werden. Und wer nicht mit Mitte dreißig eine Schar sonniger Bälger in zipfelbemützten Ringeljacken um sich versammelt, den Hybrid-SUV vor der Tür des Eigenheims, sollte ohnehin psychologische Beratung aufsuchen. Eigentlich könnte man Therapie- und Kitaplätze gleich im Paket vergeben.
Das schallende Lachen über diesen Ruinen des Wohlstands hört auf den Namen Anke Stelling. Seit zwei Jahrzehnten bereits amüsiert es die Berliner Autorin, dass wir uns freiwillig in Käfige aus Normen, Erwartungen und Kontrollen sperren. Vergangenes Jahr erhielt sie für ihren um die vor Corona doch eher blassen Abstiegs- und Entmietungsängste selbstbezogener Berliner Projektemacher kreisenden Roman "Schäfchen im Trockenen" den Leipziger Buchpreis.
Jetzt ist mit "Grundlagenforschung" so etwas wie eine Langzeit-Milieustudie erschienen, eine Sammlung von lebensnahen, analytisch scharfen, lakonisch gewandeten, aber im Kern bitterbösen Erzählungen Stellings seit dem Jahr 2001. Allesamt scheitern ihre sich nach Geborgenheit sehnenden Protagonisten an Beziehungen; am traurigsten wirken sogar die nicht aufgelösten, die zu Biotopen der Mikrofolter versauern. Schon die Figurennamen sind eine Wüstenei an biodeutscher Ödnis: Es wimmelt nur so von Sonjas, Claudias, Christians, Svens, Sandras und Heiners. Ein einziges Mal bringt ein Varut dunkelhäutige Migrationshintergrund-Abwechslung in die Handlung, aber nur, um eine Liebe noch brutaler in ihr Gegenteil zu verkehren, denn Varut erweist sich als manipulativer Pseudointellektueller, der Franziska in seine wüste Abrechnung mit der Welt hineinzieht. Eine gesellschaftsformende Vision, eine Berufung zu Höherem hat hier niemand: Es sind satte, nur auf ihre eigene Stellung bedachte Individualisten. Das ist das eigentlich Böse an Stellings Beobachtungen.
Prononciert gesagt, handelt es sich um vierzehn Variationen derselben Geschichte, um Fallanalysen, die ein Muster sichtbar machen. Wir sehen das Scheitern der Generation Prenzlauer Berg an den eigenen Lebensträumen, was aber nicht zu Korrekturen an den Ambitionen führt, sondern zur obsessiven Selbstkasteiung - einer besonders perfiden Form der Depression -, denn die (zumeist weiblichen) Protagonisten sind viel zu klug, um nicht nur ihre Verstrickung in Rollenbilder, sondern auch die Ausweglosigkeit dieser Situation zu verkennen. Mann, Kinder, Haus, gegen diese Trias kommt Frau selbst mit Punk oder Karriere nicht an. Emanzipation und Zufriedenheit scheinen hier in einem reziproken Verhältnis zu stehen, das ist das bedrückendste Resultat von Stellings "Forschung".
Mit Rotz und Löffel rühren die Erzählungen in den Enttäuschungen der Mutterschaft; noch schlimmer ist dabei nur das Versagensgefühl der Kinderlosen. Am Ende steht immer die Einsamkeit. Man bindet sich dann neu, macht sich vor, diesmal werde alles anders, nur um festzustellen, dass mit den Jahren nicht allein Bindegewebe erschlafft. Altern gilt hier übrigens als reines Frauenproblem.
Dass das Glück vor denen zurückweicht, die ihm mit Plänen und Listen auf der Spur sind, ist eine alte Erkenntnis. Schon der kluge Gottfried Benn hat dafür die perfekt paradoxe Sehnsuchtsformulierung gefunden: "Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück." Bei Anke Stelling klingt das so: "Ich lerne den Ausspruch ,Dumm fickt gut' und denke, dass er nicht stimmt. Es müsste heißen ,Dumm fickt'."
Das Leben ist in diesen Erzählungen eine einzige Reihe aus Liebesfehlschlägen, jede Nähe führt geradewegs zu Fremdheit (auch gegenüber sich selbst). Die einen flüchten dann in den Alkohol, andere verramschen sich oder werden zu Platonikern. Wenn das Fatum es wider Erwarten einmal gut meint, wie in "Was, wenn nicht das" oder "Glückliche Fügung", wächst sich das Misstrauen dagegen zu einem Problem aus. Dass man sich durch diesen trist-komischen Reigen bei aller Gleichförmigkeit gut hindurchlesen kann, liegt daran, dass die Beobachtungen so treffend sind. Mehr als einmal meint man (und das gilt vermutlich für alle Leserinnen und Leser), entfernte Bekannte wiederzuerkennen.
Literarisch sind Stellings Mittel begrenzt. Fast immer dominiert die extrem personale Perspektive, wobei dialogische Passagen mit freischwebenden auktorialen Einwürfen oder inneren Monologen wechseln, ein Befindlichkeitsprosa-Stil, wie man ihn von den Creative-Writing-Schmieden kennt (Stelling hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert): "Werner ist in Ordnung. Es gibt nur ein kleines Problem: Er will sich nicht anschreien lassen. Schon gar nicht direkt nach dem Aufwachen. Saskia und Werner. Ein Lied könnte man daraus nicht machen."
Was mit der Zeit aufstößt, ist das Fehlen jedes symbolischen oder klanglichen Surplus. Das Erzählte ist voll da im Ausgesagten, erschöpft sich im (Nicht-)Geschehen und ist damit eminent unpoetisch, ein Mono-Schriftsinn, dem das Selbstvergessene eines auf sich gestellten, ambivalenten Sprachkunstwerks abgeht.
Das ändert sich ansatzweise in den jüngeren Texten, vor allem in der bislang unveröffentlichten, von einer wegen übermäßigen Metapherngebrauchs aussortierten Journalistin handelnden Geschichte "Ranunkeln", in der die Autorin auf eine allzu durchsichtige Strukturierung durch formale Wiederholungen (Uhrzeiten, Regeln, Regieanweisungen) verzichtet und sich stilistisch spielerischer zeigt: "Diesen ,Stolz', nichts zu brauchen, was man nicht schon hatte. Der biss sich ein bisschen mit dem Konzept der laufenden Kosten, und die laufenden Kosten entkamen, schnappten stattdessen nach Claudias Waden und überzeugten sie (Claudia, nicht ihre Waden), dass sie Hilfe brauchte, und die bekam sie auch."
Ein Lied kann man daraus zwar immer noch nicht machen, aber man kann doch wenigstens ahnen, dass es Anderes, Größeres gibt als die Dauerbeschäftigung postmoderner Selbstoptimierer mit dem eigenen privilegierten Leben. Die Kunst etwa.
OLIVER JUNGEN
Anke Stelling: "Grundlagenforschung". Erzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2020. 192 S., geb., 20,- [Euro].
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