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Anne Chengs Standardwerk über die Geschichte der chinesischen Philosophie erscheint nach fünfundzwanzig Jahren auf Deutsch
Als China sich im zwanzigsten Jahrhundert europäischen Ideen öffnete, stellte die dortige Intelligenz besorgt fest, dass es viele Errungenschaften des europäischen Westens innerhalb der eigenen Tradition nicht gab; unter anderem wurde klar, dass der Geist in China zwar zu Hause gewesen war, aber niemand seine Geschichte geschrieben hatte. Nach der chinesischen Revolution machte man sich nicht nur in China daran, diese Lücke zu füllen. Als Erster veröffentlichte in Deutschland der Sinologe Alfred Forke, dessen Arbeiten Bertolt Brecht zu sinophilen Theaterstücken und Romanfragmenten inspirierten, zwischen den Jahren 1927 und 1938 eine dreibändige Geschichte der chinesischen Philosophie. Zwar hat Otto Franke, wohl der wichtigste deutsche Sinologe der damaligen Zeit, das Werk treffend eher als eine Geschichte von Philosophen denn als Geschichte der Philosophie kritisiert, aber in vielen Details ist Forkes Darstellung aufgrund ihrer Ausführlichkeit auch heute noch lesenswert.
In China arbeiteten zur selben Zeit mehrere junge Geistesgeschichtler an Geschichten der chinesischen Philosophie. Der einflussreichste unter ihnen war Feng Youlan (1895 - 1990), der zunächst bei John Dewey an der Columbia-Universität in New York Philosophie studiert hatte und in den Jahren 1930 und 1933 in Peking eine zweibändige "Geschichte der chinesischen Philosophie" publizierte, die zwar mit weniger Namen auskam als Forke, dafür aber die inhaltlich wichtigen Positionen in einen besseren Zusammenhang stellte. Feng Youlans "Geschichte" wurde zu Anfang der Fünfzigerjahre von Derk Bodde ins Englische übersetzt und ist in der gesamten zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der westlichen Welt das maßgebliche Standardwerk geblieben, auch wenn in der Volksrepublik China, in Hongkong und vor allem auf Taiwan zahlreiche deutlich umfassendere und wissenschaftlich fundiertere Versionen herauskamen. Diese blieben aber einem Publikum vorbehalten, das chinesisch lesen kann.
Als Anne Cheng 1997 ihre "Histoire de la pensée chinoise" vorlegte, kam dies einem kleinen Beben gleich, nicht nur weil dies in der westlichen Welt der erste wirklich große Wurf seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet war, sondern auch weil damit erstmals seit Forke wieder ein maßgebliches Buch zur chinesischen Philosophiegeschichte in einer anderen Sprache als auf Englisch erschien. Zumindest in Europa wurde Chengs "Histoire" gebührend gewürdigt.
Anne Cheng betont in ihrer Einleitung zur deutschen Ausgabe die Bedeutung der nicht anglophonen Sinologien - in diesem Fall besonders auch der deutschen. Die vorliegende deutsche Fassung sei dank der Mühen des Übersetzers Ulrich Forderer sogar verlässlicher als die französische. Der Übersetzer hat in der Tat hervorragende Arbeit geleistet. Das betrifft nicht nur den Haupttext, sondern auch die Fußnoten, die oft auf den neuesten Stand der Forschung gebracht wurden und in denen auf Sekundärliteratur in englischer, französischer und deutscher Sprache verwiesen ist. Angesichts des beklagenswerten Trends zur Einsprachigkeit in den Wissenschaften wirkt das überaus wohltuend.
Ein wichtiger Grund, warum Mehrsprachigkeit ein grundlegendes Merkmal guter Geisteswissenschaften ist und bleiben sollte, ist, dass darin auch eine Chance liegt, von herrschenden Orthodoxien abweichende Terminologien durchzusetzen. Anne Cheng - und Ulrich Forderer - tun dies manchmal, so zum Beispiel wenn sie den herkömmlich als "Tugend" übersetzten chinesischen Begriff des "de" als "Charisma" oder "Kraft" wiedergeben oder wenn sie für "ti", das in der amerikanischen Sinologie gerne als "Substanz" verstanden wird, "Beschaffenheit" einsetzen. Insgesamt bleiben die Übersetzungen allerdings weitgehend traditionell, manche Termini wie "qi" (Pneuma) oder "dao" (Weg) werden in dieser "Geschichte" oft sogar nicht übersetzt. Das birgt die Gefahr der Esoterisierung.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich Anne Cheng von Feng Youlan schon durch die Wahl des Buchtitels, denn sie spricht von "Denken", nicht von "Philosophie". Tatsächlich hat es sowohl in China als auch in Europa lange Diskussionen darüber gegeben, ob man das chinesische Denken als Philosophie im europäischen Sinne bezeichnen könne. Für Anne Cheng ist das kein Thema. Sie hat sich nicht deshalb dazu entschlossen, von chinesischem Denken zu sprechen, weil es chinesische Philosophie nicht gäbe, sondern weil ihr Buch weit mehr Autoren erfasst als diejenigen, die gemeinhin als Philosophen bezeichnet worden sind. Das tut ihrer Darstellung gut. In ihrer Gesamtanlage folgt Cheng den Vorgaben Feng Youlans: Wie bei ihm umfassen auch bei ihr die ersten beiden Teile, in denen sie sich mit den Grundlagen des chinesischen Denkens auseinandersetzt, zusammen mit der Einleitung fast die Hälfte des Buchs.
Feng hatte die chinesische Philosophiegeschichte in die Zeit der philosophischen Meister (bis etwa 200 v. Chr.) und diejenige des "klassischen Lernens" eingeteilt. Das war natürlich eine sehr verkürzte Sichtweise, die dazu geführt hat, dass einer reichhaltigen Geschichte von über zweitausend Jahren nur wenig mehr Platz eingeräumt werden konnte als einem Zeitraum von dreihundert Jahren. Obwohl Anne Chengs Werk durch seine Materialfülle besticht, wirken aufgrund dieses Anknüpfens an das Feng'sche Modell einzelne Teile etwas lückenhaft. Das betrifft die Ausführungen zu den vierhundert Jahren der immer noch formativen Phase des Han-zeitlichen Denkens, das sich an die Zeit der philosophischen Meister anschloss, oder die Geschichte der buddhistischen Transformation des chinesischen Denkens im ersten Jahrtausend. Angesichts der großen sinologischen Fortschritte der letzten zwanzig Jahre auf diesen Gebieten macht sich das heute stärker bemerkbar als 1997. Anne Cheng hat sich zudem dazu entschlossen, ihre Darstellung mit der chinesischen Revolution enden zu lassen. Bei Feng war dieses Vorgehen natürlich gewesen, bei Cheng wirkt der kurze Epilog, in dem darauf verwiesen wird, dass sich das chinesische Denken im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr selbständig entwickeln konnte, ein wenig apologetisch.
Aber das sind Petitessen. Diese "Geschichte des chinesischen Denkens" ist keine leichte Bettlektüre, aber sie ist die umfassendste Darstellung ihrer Art in einer nichtasiatischen Sprache. Sie wird deshalb für universitäre Einführungen in das Thema ebenso Standard sein wie für interessierte Leser, die des Chinesischen nicht mächtig sind. Angesichts des Stimmengewirrs, das auf den westlichen Leser derzeit hereinbricht, um ihn über das gegenwärtige China aufzuklären, ist dem Verlag für die Übersetzung dieses Werks sehr zu danken. HANS VAN ESS
Anne Cheng: "Geschichte des chinesischen Denkens".
Aus dem Französischen von Ulrich Forderer. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022. 628 S., geb., 78,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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