Selbstgefälliges Palaver
Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von
Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger…mehrSelbstgefälliges Palaver
Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger ausgeschmückte, ansonsten aber reale Autobiografie. Ein heute bei vielen Autoren sehr beliebter, narrativer Typus übrigens, der gemeinhin als Autofiktion bezeichnet wird.
Das Alter-Ego des Verfassers wird gleich zu Beginn bei einer Verabredung mit seinem besten Freund durch dessen «so schwerwiegend wie beiläufig» vorgebrachte Bemerkung geschockt: «Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen». Der 60jährige Ewige Hippie ist nach mehr als zehnjähriger, anfangs erfolgreicher Tätigkeit in Hamburg als Hersteller von Discokugeln und ähnlichem Equipment 1979 wieder in Berlin gelandet. Er schlägt sich nun als Autor von Rundfunk-Kommentaren und mit anderen Gelegenheitsaufträgen durchs Leben. Als Rahmenhandlung des Romans dient dem Autor die seit zwei Jahren bestehende Beziehung seines Protagonisten zu einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die kurz vor dem Scheitern steht. Hella neigt zu starken Gefühlsausbrüchen und erhofft sich mit ihm ein spätes Glück. Der angestrebte gemeinsame Nestbau aber erweist sich als Illusion, er scheitert an der geradezu pathologischen Bindungsunfähigkeit des Helden. Daran kann auch eine gemeinsame Reise zum KZ Buchenwald nichts ändern, in dessen Nähe er als Kind lebte, einige der Leerstellen in seiner Vita können jedoch dank einer alten Nachbarin dort geklärt werden. Diese gemeinsame Unternehmung ändert aber nichts an dem ständigen Zank des Paares, der sich zum Krieg der Geschlechter hochschaukelt. Nicht von ungefähr sehen sich die Beiden 2005 im Deutschen Theater Edward Albees Drama «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» an. Ein Erbe aus der Drogen-Vergangenheit ist die nicht überwundene Hepatitis-Infektion des Protagonisten, die er nach dreißig Jahren mit unsicherem Ausgang durch eine mit reichlich Nebenwirkungen belastende Interferon-Therapie bekämpfen muss, - die 68er-Vergangenheit holt ihn wieder ein. Und bei einer Podiumsdiskussion trifft er dann auch noch auf das RAF-Mitglied Peter Jürgen Book, der 25 Jahre im Zuchthaus gesessen hat und ihm inzwischen äußerst unsympathisch ist.
Als melancholische Lebensbilanz erzählt der Autor in Rückblenden von seiner schwierigen Kindheit, die Mutter hatte die Familie 1945 verlassen, als er wenige Monate alt war. Es folgen schlaglichtartige Erinnerungen an seine Jugend, erste Kontakte zum anderen Geschlecht, Erfahrungen mit Drogen, die Firmengründung 1968 und die Rückkehr ins Berlin des New Wave. Als Dauergast porträtiert er mit scharfem Blick für Details die skurrilen Gestalten in seinem Stammcafé, das ihm quasi als ‹ambulantes Wohnzimmer› dient. Seine ironisch-nüchternen Reflexionen aus der Schöneberger Subkultur sind gespickt mit köstlichen Anekdoten, bei denen Sex und Frauen das Hauptthema bilden. Aber auch die diversen Intellektuellen und Künstler aller Couleur und unterschiedlichsten Renommees ergeben reichlich Gesprächsstoff für den unentwegt sinnierenden und schwadronierenden Althippie, der sich im Seinstaumel dieses spinnerten Milieus als Dauergast etabliert hat.
Der Titel des Romans lädt zu allerlei Deutungen ein. Es sind zweifellos Verluste, die der unsympathische Alt-68er in seinem Katzenjammer zu verbuchen hat, gutgeschrieben aber werden sie ihm nicht, er steht am Ende seines Lebens mit leeren Händen da. Stilistisch gut geschrieben aber ist diese Geschichte sehr wohl, Bernd Cailloux schildert das Geschehen in einer saloppen Sprache, die besonders in den Dialogen durchaus überzeugen kann. Weniger überzeugend ist der schleppende Fortgang der Geschichte, die durch ein Übermaß an selbstgefälligem Palaver des grandios gescheiterten Helden sehr schnell sehr langweilig wird.