Was kann die Germanistik als Literatur- und Kulturwissenschaft von den sogenannten ,Postcolonial Studies' in Bezug auf das imperiale Österreich im langen 19. Jahrhundert von 1815 bis 1914 lernen? Es ist ein meist unhinterfragtes Mantra der Habsburg-Forschung, dass die k.u.k.-Monarchie keine Überseekolonien besaß und in ihrem inneren Identitätsmanagement richtungsweisende Ansätze für den Multikulturalismus der Gegenwart aufwies: Doch ist nicht die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 (und die Annexion 1908) - die letzte fatale Expansion des niedergehenden Reiches - in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der britischen Herrschaft über Indien? Die vorliegende Monografie geht nicht nur dieser Frage nach. Im Anschluss an eine ausführliche theoretische Diskussion existierender germanistischer und anderer Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus (z. B. anhand von Kafkas "Strafkolonie") sowie einer kritischen Neubestimmung der Imagologie als Methodik literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung werden auch andere Fallstudien präsentiert. Sie zeigen koloniales Fantasieren und Begehren anhand zentraler und bisher in dieser Hinsicht unerforschter deutschsprachiger Literatur aus dem alten Österreich auf: Franz Grillparzers Trilogie "Das goldene Vließ" und seine Reisetagebücher sind eine interkulturelle Odyssee durch das später so genannte ,Kakanien'; Peter Altenbergs "Ashantee" entspringt einem Kontakt mit einer afrikanischen 'Völkerschau' im Wiener Prater 1896; Alfred Kubins "Die andere Seite" (1908) erschließt sich als koloniale Allegorie auf die Donaumonarchie in ihrer Spätphase. Im Anschluss an eine kritische Zusammenschau der Befunde soll abschließend auch das Verhältnis von ,postkolonial' und ,postimperial' in Bezug auf das posthabsburgische Zentraleuropa erörtert und die Forschungen des Autors in den letzten 15 Jahren konklusiv zusammengefasst werden.