Verbrechen - Grausamkeiten - Pflichtverletzungen: Die schonungslose Bilanz zur k.u.k. Kriegsführung im Ersten Weltkrieg Neue Erkenntnisse über die düstersten Kapitel des Ersten Weltkriegs: Die Autoren untersuchen die Beschlüsse und Kalkulationen der habsburgischen Entscheidungsträger. Sie zeigen, wie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen der Krieg entfesselt wurde. Ihre Arbeit wirft zudem ein erschreckendes Schlaglicht auf Befehlsketten, Feindbilder und die eskalierende Gewalt gegenüber Verdächtigen, Wehrlosen und "verwalteten Massen".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2015Gespenstische Szenen
Die Abgründe in der österreichisch-ungarischen Kriegführung
Vor Beginn des Ersten Weltkrieges hatte unter allen Ländern Europas - mit Ausnahme Russlands - kein Staat eine Bevölkerung mit mehr Nationalitäten als die k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn. Diese Nationalitätenvielfalt prägte auch die Struktur des Heeres: Deutschösterreicher, Magyaren, Tschechen, Polen, Ruthenen, Serbokroaten, Rumänen und Slowaken stellten zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 96 Prozent der Heeresstärke; davon die Deutschsprachigen 29 Prozent. Das Verhältnis der Nationalitäten untereinander war allerdings nicht frei von Spannungen, was sich im Krieg auch auf den inneren Zusammenhalt des Heeres auswirken sollte.
Bei der Aufarbeitung der Geschichte des Weltkrieges überwogen in Österreich lange Zeit verharmlosende Darstellungen. Das Problem der Spione, Kollaborateure, zu Unrecht Verdächtigten und Hingerichteten blieb oft ausgeblendet. Seit einigen Jahren zeichnet sich ab, dass österreichische Historiker die damalige Kriegführung ihres Landes anhand der überlieferten Primärquellen kritisch untersuchen. Der 100. Jahrestag des Kriegsbeginns bot sich daher an, neue Gesamtdarstellungen und Spezialstudien vorzulegen. So haben unter Leitung von Hannes Leidinger junge Autorinnen und Autoren den anspruchsvollen Versuch unternommen, die Abgründe der österreichisch-ungarischen Kriegführung aufzuzeigen.
"Den Opfern, die in Vergessenheit geraten sind", ist dieser Band gewidmet. Die thematische Breite der neun Teile des Bandes reicht von einer Vorbemerkung über die Kriegsschuld und die Eskalation der Gewalt, über Gefangenschaft, "Ordnung schaffen", Besatzungswirklichkeiten, Fragen des Rechts, Verzerrung und Ausblendung bis zum "visuellen Erinnern" des Weltkrieges im österreichischen Film- und Fernsehschaffen. Die Untergliederung der Beiträge wird im Text durch prägnante Schlagworte hervorgehoben, wie zum Beispiel im Teil "Die Kriegsschuld" durch Formulierungen wie: Uneindeutigkeiten, Tendenzen, eine klare Linie, der Kurs wird gehalten, ohne Rücksicht auf Verluste, serbische Reaktionen sowie Schritte in den Abgrund. Allerdings setzen die Autoren einiges an Vorwissen über Verlauf und Dimensionen des Krieges voraus. So wurde nicht nur auf eine Zeittafel, sondern auch auf Karten verzichtet, die den Frontverlauf und die Siedlungsräume der Nationalitäten zeigen.
Nachdem bei der Kriegführung an zwei Fronten - im Südosten gegen Serbien und im Nordosten gegen Russland - die erhofften Erfolge ausgeblieben waren, zeichnete sich bald eine dritte innere Front zwischen den Nationalitäten ab. Bereits am 25. August 1914 sah sich das k. u. k. 5. Armeekommando in einen "schmutzigen Krieg" verwickelt, "wie ,er nur seitens eines kulturell tief stehenden Volkes' geführt werden könne". Daher sollten sich die "Gegenmaßnahmen ,innerhalb jener Grenzen' bewegen, ,welche uns die Zugehörigkeit zur europäischen Kultur zu ziehen zwingen.'" Doch bald darauf kam es auch auf österreichischer Seite "immer öfter zu zügelloser Gewalt". An der Front in Galizien standen sich zwar reguläre Armeen gegenüber, "doch boten die multikulturellen Gebiete an der russisch-österreichischen Grenze genug Zündstoff zur Brutalisierung und Ethnisierung der Kriegführung auf beiden Seiten". Teile der lokalen Bevölkerung galten als unzuverlässig und illoyal. Es kam zu Massenvertreibungen und Deportationen von "Verdächtigen". Für die russische Armeeführung galten Juden als "Feinde, Verräter und Sündenböcke".
Der Beitrag "Gefangenschaften" von Verena Moritz zeichnet ein düsteres Bild vom Schicksal der Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft. Gefangene, denen die Flucht aus Russland gelungen war, wurden verhört und sofort mit militärischem Drill traktiert. 1918 kam es in Verbänden, bei denen Heimkehrer eingegliedert waren, zu Meutereien. Die Motive waren vor allem "Hass auf den Krieg" sowie "Hass auf jene, die ihn führten". Die drakonische Niederschlagung der Meutereien hatte zahlreiche Exekutionen zur Folge. Bei den Hinrichtungen kam es zu gespenstischen Szenen: "Zuschauer suchten die Nähe der Hinrichtungskommandos." Über Nacht stampften Wirte "Würstelstände und Bierbuden aus dem Boden. Das bedrückende Spektakel verwandelte sich in eine Jahrmarktattraktion." Es war bezeichnend für den Verfall des inneren Zusammenhalts der k. u. k. Monarchie, dass man "bei den Exekutionen der Meuterer die Angehörigen der einen auf Angehörige der anderen Nationalität schießen" ließ.
Im Hinblick auf den kritischen Ansatz des Bandes ist es erstaunlich, dass ein nicht zuletzt aus politischen Gründen gefälltes Todesurteil in dem Beitrag "Gefangenschaften" nur kurz erwähnt und in dem Beitrag "Welches Recht?" von Hannes Leidinger nicht aufgegriffen und kommentiert wird. Es handelt sich um den österreichischen Parlamentarier Cesare Battisti, der sich bei Kriegsbeginn nach Italien abgesetzt hatte und im Juli 1916 als italienischer Leutnant in Gefangenschaft geraten war. Nach einem kurzen Prozess wurde er mit einer äußerst brutalen Methode öffentlich hingerichtet.
In allen Beiträgen wird die Nationalität der kriegführenden Länder konsequent nur mit der herrschenden Monarchie verbunden; so werden deutsche Truppen stets als "Hohenzollerntruppen" bezeichnet. Der Bildteil des Bandes lässt die Realität des damaligen Krieges auf dem Balkan erahnen. Doch im Namensregister fehlt der abgebildete elfjährige Knabe W. Bojko, der vom k. u. k. Nachrichtendienst als russischer Spion eingestuft wurde.
Die Belege der Zitate und Literaturhinweise sind im Anhang kapitelweise als Endnoten zusammengefasst. Ein Abkürzungsverzeichnis und ein Glossar wären hilfreich gewesen. Nicht jeder Leser im deutschen Sprachraum kann die Abkürzung GdI (General der Infanterie) gleich auflösen oder die Bedeutung der Begriffe Justifizierung (Hinrichtung), Konfinierung (erzwungener Aufenthalt in einem Ort) oder Perlustrierung (Durchsuchung eines Verdächtigen) erkennen. Doch diese Defizite sind nur Marginalien im Vergleich zu den meist überzeugenden detailreichen Forschungsergebnissen, die das Team vorgelegt hat.
WERNER RAHN
Hannes Leidinger/Verena Moritz/Karin Moser/Wolfram Dornik: Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914-1918. Residenz Verlag, St. Pölten 2014. 326 S., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Abgründe in der österreichisch-ungarischen Kriegführung
Vor Beginn des Ersten Weltkrieges hatte unter allen Ländern Europas - mit Ausnahme Russlands - kein Staat eine Bevölkerung mit mehr Nationalitäten als die k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn. Diese Nationalitätenvielfalt prägte auch die Struktur des Heeres: Deutschösterreicher, Magyaren, Tschechen, Polen, Ruthenen, Serbokroaten, Rumänen und Slowaken stellten zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 96 Prozent der Heeresstärke; davon die Deutschsprachigen 29 Prozent. Das Verhältnis der Nationalitäten untereinander war allerdings nicht frei von Spannungen, was sich im Krieg auch auf den inneren Zusammenhalt des Heeres auswirken sollte.
Bei der Aufarbeitung der Geschichte des Weltkrieges überwogen in Österreich lange Zeit verharmlosende Darstellungen. Das Problem der Spione, Kollaborateure, zu Unrecht Verdächtigten und Hingerichteten blieb oft ausgeblendet. Seit einigen Jahren zeichnet sich ab, dass österreichische Historiker die damalige Kriegführung ihres Landes anhand der überlieferten Primärquellen kritisch untersuchen. Der 100. Jahrestag des Kriegsbeginns bot sich daher an, neue Gesamtdarstellungen und Spezialstudien vorzulegen. So haben unter Leitung von Hannes Leidinger junge Autorinnen und Autoren den anspruchsvollen Versuch unternommen, die Abgründe der österreichisch-ungarischen Kriegführung aufzuzeigen.
"Den Opfern, die in Vergessenheit geraten sind", ist dieser Band gewidmet. Die thematische Breite der neun Teile des Bandes reicht von einer Vorbemerkung über die Kriegsschuld und die Eskalation der Gewalt, über Gefangenschaft, "Ordnung schaffen", Besatzungswirklichkeiten, Fragen des Rechts, Verzerrung und Ausblendung bis zum "visuellen Erinnern" des Weltkrieges im österreichischen Film- und Fernsehschaffen. Die Untergliederung der Beiträge wird im Text durch prägnante Schlagworte hervorgehoben, wie zum Beispiel im Teil "Die Kriegsschuld" durch Formulierungen wie: Uneindeutigkeiten, Tendenzen, eine klare Linie, der Kurs wird gehalten, ohne Rücksicht auf Verluste, serbische Reaktionen sowie Schritte in den Abgrund. Allerdings setzen die Autoren einiges an Vorwissen über Verlauf und Dimensionen des Krieges voraus. So wurde nicht nur auf eine Zeittafel, sondern auch auf Karten verzichtet, die den Frontverlauf und die Siedlungsräume der Nationalitäten zeigen.
Nachdem bei der Kriegführung an zwei Fronten - im Südosten gegen Serbien und im Nordosten gegen Russland - die erhofften Erfolge ausgeblieben waren, zeichnete sich bald eine dritte innere Front zwischen den Nationalitäten ab. Bereits am 25. August 1914 sah sich das k. u. k. 5. Armeekommando in einen "schmutzigen Krieg" verwickelt, "wie ,er nur seitens eines kulturell tief stehenden Volkes' geführt werden könne". Daher sollten sich die "Gegenmaßnahmen ,innerhalb jener Grenzen' bewegen, ,welche uns die Zugehörigkeit zur europäischen Kultur zu ziehen zwingen.'" Doch bald darauf kam es auch auf österreichischer Seite "immer öfter zu zügelloser Gewalt". An der Front in Galizien standen sich zwar reguläre Armeen gegenüber, "doch boten die multikulturellen Gebiete an der russisch-österreichischen Grenze genug Zündstoff zur Brutalisierung und Ethnisierung der Kriegführung auf beiden Seiten". Teile der lokalen Bevölkerung galten als unzuverlässig und illoyal. Es kam zu Massenvertreibungen und Deportationen von "Verdächtigen". Für die russische Armeeführung galten Juden als "Feinde, Verräter und Sündenböcke".
Der Beitrag "Gefangenschaften" von Verena Moritz zeichnet ein düsteres Bild vom Schicksal der Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft. Gefangene, denen die Flucht aus Russland gelungen war, wurden verhört und sofort mit militärischem Drill traktiert. 1918 kam es in Verbänden, bei denen Heimkehrer eingegliedert waren, zu Meutereien. Die Motive waren vor allem "Hass auf den Krieg" sowie "Hass auf jene, die ihn führten". Die drakonische Niederschlagung der Meutereien hatte zahlreiche Exekutionen zur Folge. Bei den Hinrichtungen kam es zu gespenstischen Szenen: "Zuschauer suchten die Nähe der Hinrichtungskommandos." Über Nacht stampften Wirte "Würstelstände und Bierbuden aus dem Boden. Das bedrückende Spektakel verwandelte sich in eine Jahrmarktattraktion." Es war bezeichnend für den Verfall des inneren Zusammenhalts der k. u. k. Monarchie, dass man "bei den Exekutionen der Meuterer die Angehörigen der einen auf Angehörige der anderen Nationalität schießen" ließ.
Im Hinblick auf den kritischen Ansatz des Bandes ist es erstaunlich, dass ein nicht zuletzt aus politischen Gründen gefälltes Todesurteil in dem Beitrag "Gefangenschaften" nur kurz erwähnt und in dem Beitrag "Welches Recht?" von Hannes Leidinger nicht aufgegriffen und kommentiert wird. Es handelt sich um den österreichischen Parlamentarier Cesare Battisti, der sich bei Kriegsbeginn nach Italien abgesetzt hatte und im Juli 1916 als italienischer Leutnant in Gefangenschaft geraten war. Nach einem kurzen Prozess wurde er mit einer äußerst brutalen Methode öffentlich hingerichtet.
In allen Beiträgen wird die Nationalität der kriegführenden Länder konsequent nur mit der herrschenden Monarchie verbunden; so werden deutsche Truppen stets als "Hohenzollerntruppen" bezeichnet. Der Bildteil des Bandes lässt die Realität des damaligen Krieges auf dem Balkan erahnen. Doch im Namensregister fehlt der abgebildete elfjährige Knabe W. Bojko, der vom k. u. k. Nachrichtendienst als russischer Spion eingestuft wurde.
Die Belege der Zitate und Literaturhinweise sind im Anhang kapitelweise als Endnoten zusammengefasst. Ein Abkürzungsverzeichnis und ein Glossar wären hilfreich gewesen. Nicht jeder Leser im deutschen Sprachraum kann die Abkürzung GdI (General der Infanterie) gleich auflösen oder die Bedeutung der Begriffe Justifizierung (Hinrichtung), Konfinierung (erzwungener Aufenthalt in einem Ort) oder Perlustrierung (Durchsuchung eines Verdächtigen) erkennen. Doch diese Defizite sind nur Marginalien im Vergleich zu den meist überzeugenden detailreichen Forschungsergebnissen, die das Team vorgelegt hat.
WERNER RAHN
Hannes Leidinger/Verena Moritz/Karin Moser/Wolfram Dornik: Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914-1918. Residenz Verlag, St. Pölten 2014. 326 S., 24,90 [Euro].
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