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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jochen Hörisch lässt sich vom Titel seines Buchs nicht hindern, bei Goethe zu verweilen
Die Hauptthese von Jochen Hörischs Buch lautet: Das digitale Zeitalter ist "die Epoche der Handvergessenheit". Sie wird gleich eingangs erläutert mit dem Hinweis auf Computermaus und Touchscreen, die immer mehr bestimmten, wie wir auf die Wirklichkeit zugreifen. Die digitalen "Zauber-Instrumente" eröffnen zwar, hält Hörisch fest, "großartige kognitive Möglichkeiten". Aber nur, "wenn sie an Hände rückgekoppelt werden, die Zugang zu realen Welten gewähren". Eine Kulturgeschichte der Hand von der Prähistorie über geschichtliche Entwicklungsstufen des Handwerks bis hin zum vermeintlich handvergessenen Informatikzeitalter bietet Hörisch entgegen dem, was der Untertitel verspricht, allerdings nicht. Wer wissen will, wie aus tierischen Fortbewegungs- und Greiforganen die raffinierte Hand des Homo sapiens hervorging, wird in einem kurzen Unterkapitel auf André Leroi-Gourhans "Hand und Wort" verwiesen.
Hörisch geht es vor allem um einen zentralen Befund dieses Klassikers der Anthropologie: eine Bestätigung nämlich der Ahnungen von Dichtern und Philosophen über den Zusammenhang von "mens" und "manus" durch die moderne Evolutionstheorie. "Der Mensch ist das klügste aller Wesen, weil er Hände hat", heißt es schon bei dem Vorsokratiker Anaxagoras, die Hände seien die "Fühlhörner der Vernunft" mehr als zweitausend Jahre später bei Friedrich Schlegel. Genau dies demonstrierte Leroi-Gourhan, der sich gegen eine "zerebralistische Sicht" auf die Evolution wendete. Es war nicht das wachsende Gehirnvolumen, sondern die durch den aufrechten Gang als Werkzeug und Kommunikationsmittel freigesetzte Hand, die menschliches Denken und Sprechen ermöglicht hat. Unsere Geistigkeit ist demnach seit jeher leiblich fundiert, die "exzentrische Positionalität" des Menschen (H. Plessner) verdankt sich geradezu seinen Extremitäten. Davon nichts wissen zu wollen und in diesem Sinn handvergessen zu sein wirft Hörisch einer Philosophie vor, die den Menschen auf "reine Vernunft" verpflichten wolle.
Wovon handelt dann aber die angekündigte "Kulturgeschichte"? Auf einen groben Nenner gebracht: vom Hand-Motiv in der deutschen Literatur des achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Epoche um 1800 und speziell Goethe. Hörischs wagemutige These ist, dass die Hand "das entscheidende Leitmotiv Goethes" sei. Was die Goethe-Forschung bloß bisher übersehen habe. Goethes prominentester Held heißt ja tatsächlich Faust, und im II. Teil der Tragödie fährt der gleichsam mit allen Händen in die Welt hinein, bis hin zu den brutalen Kriegs- und Kolonisierungsfeldzügen der letzten Akte: "Gelegenheit ist da, nun, Fauste greife zu".
An dieser Stelle kommt auch das Leib-und-Magen-Thema des Verfassers ins Spiel. Jochen Hörisch ist der Finanzexperte unter den Germanisten, der in mehreren Büchern, immer mit besonderem Augenmerk auf Goethe, gezeigt hat, wie Schriftsteller ab dem achtzehnten Jahrhundert poetisch verdeutlichen, dass es nun das Geld und nicht mehr ein metaphysisches Ordnungsgefüge ist, das die Welt im Innersten zusammenhält. Bildlich gesprochen: Unser Schicksal liegt nicht mehr in der Hand Gottes, sondern in der unsichtbaren Hand des Marktes (Adam Smith' "invisible hand").
Der erste Akt von "Faust II", in dem der Titelheld mit Hilfe des Teufels das Papiergeld erfindet, an dessen Kaufkraft gleich alle glauben, bietet einen Beleg für den Übergang von Credo zu Kredit, von religiöser Schuld zu Schulden, von der Hoffnung auf Erlösung zu der auf Erlös. Das Drama thematisiert ja über weite Strecken die unheilvolle Wirkung der modernen geldvermittelten Zurichtung der Welt. Der von der rechnerischen Vernunft gesteuerten Hand des Global Players Faust konfrontiert Goethe, so kann man Hörisch verstehen, die sinnliche, zärtliche, ausdrucksstarke Hand in konkreten Verhältnissen. Dass die Liebeshand die Ökonomiehand in den Griff bekommen könnte, hielt auch der zeitweilige Weimarer Finanzminister für eine Illusion. Es galt eben nur, erstere nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Etwas von trickreicher Wortspielerei haftet dieser Erhebung der Hand zum Goethe'schen Leitmotiv an, indem sie über die metaphorischen (Hand Gottes/des Marktes) und idiomatischen Hände (Werther, der "Hand an sich legt" und den "Handwerker" zu Grabe tragen) sowie, in letzter Instanz, über das weite semantische Feld des Handelns überhaupt vollzogen wird. Trotzdem liest man die Studie mit Gewinn, weil Hörisch pointierte Brückenschläge zwischen Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur vorführt.
MANFRED KOCH
Jochen Hörisch: "Hände". Eine Kulturgeschichte.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
304 S., geb., 28,- [Euro].
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"Man wird von Hörisch aufs Angenehmste belehrt." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28.02.21
"Man liest die Studie mit Gewinn, weil Hörisch pointierte Brückenschläge zwischen Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur vorführt." Manfred Koch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.21
"Hörisch präsentiert zahlreiche Lesefrüchte, die sein pointiert geschriebenes Buch zu einem Fundus literarischer Preziosen machen." Holger Heimann, MDR Kultur, 24.02.21
"In anregendem Erzählton führt Hörisch an die große Wortfamilie 'Hand' und deren breite Metaphorik heran." Ingeborg Waldinger, Die Furche, 11.03.21
"Hörisch macht mit seinem ganzen Buch deutlich, dass es möglich wäre, die Menschheitsgeschichte als Hand-Geschichte zu erzählen." Claudia Mäder, Neue Zürcher Zeitung, 09.02.21
"Die Kulturgeschichte fasziniert durch ihre Vielfältigkeit und in ihrer assoziativen Erzählweise ... ein Buch zum Staunen und zum Lernen." Edith Rabenstein, Passauer Neue Presse, 20.02.21