Von Goethes Faust bis zum Handspiel – Nicht nur als Sinnesorgan und Werkzeug spielt die Hand eine zentrale Rolle, sondern auch in Geschichte und Literatur.
Sie greift und tastet, streichelt und schlägt, begrüßt und schließt Verträge: Kein Körperteil ist so vielseitig wie die Hand. In der Sprache finden wir unzählige Beispiele für ihre herausragende Rolle: Wir nehmen eine Sache in die Hand, etwas lässt sich nicht von der Hand weisen und ein Ziel wäre zum Greifen nahe, hätten wir nur nicht zwei linke Hände. Jede Epoche verbindet ihre eigenen Vorstellungen mit der Hand – und wenn wir Maschinen immer häufiger mit der Sprache steuern, sagt das viel über den Wandel, den wir durchleben. Jochen Hörisch führt uns die ganze Vielfalt der Hände vor, die uns in der Literatur und in der Geschichte der Ideen begegnen.
Sie greift und tastet, streichelt und schlägt, begrüßt und schließt Verträge: Kein Körperteil ist so vielseitig wie die Hand. In der Sprache finden wir unzählige Beispiele für ihre herausragende Rolle: Wir nehmen eine Sache in die Hand, etwas lässt sich nicht von der Hand weisen und ein Ziel wäre zum Greifen nahe, hätten wir nur nicht zwei linke Hände. Jede Epoche verbindet ihre eigenen Vorstellungen mit der Hand – und wenn wir Maschinen immer häufiger mit der Sprache steuern, sagt das viel über den Wandel, den wir durchleben. Jochen Hörisch führt uns die ganze Vielfalt der Hände vor, die uns in der Literatur und in der Geschichte der Ideen begegnen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass der Autor die Hand gleich zum Hauptmotiv bei Goethe macht (siehe "Faust"), findet Rezensent Manfred Koch dann doch etwas steil bzw. allzu verspielt. Davon abgesehen aber bietet ihm Jochen Hörischs Buch interessante Einblicke in die Zusammenhänge von Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur unter dem Gesichtspunkt der Hand als entscheidendes Detail in der Evolutionstheorie. Auch wenn der Autor für Koch nicht die angekündigte Kulturgeschichte schreibt, als anregende Verfolgung des Hand-Motivs in der deutschen Literatur im 18. bis ins 20. Jahrhundert scheint ihm der Band lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2021Metaphernschlachtengemälde
Haben wir im Zeitalter des digitalen Kapitalismus unsere Hände vergessen? Jochen Hörischs Kulturgeschichte der Hand
Hände können verführerisch sein. Zu ihrem Gestenrepertoire gehört das Flehen um Hilfe. Leider sind sie auch Schauspieler, denen man nicht immer trauen kann. Den Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch haben sie jetzt dazu gebracht, sie aus einer Gefahr zu erretten, von der gar nicht so klar ist, ob es sie gibt. Am Beginn seines neuen Buches „Hände. Eine Kulturgeschichte“ steht die Klage über die „radikale Abwertung, ja Negativbewertung der Hand“ und die „massenhaft verbreitete kultische Verehrung strammer Beine, muskulöser Waden und virtuoser Füße“. Die Klage mündet in die These: „Fußball ist der deutlichste Ausdruck der Handvergessenheit, die unsere Gegenwart kennzeichnet.“ Das leuchtet nicht unmittelbar ein. Ist die große Bedeutung von Baseball und Basketball in den Vereinigten Staaten ein Symptom für die Fußvergessenheit der amerikanischen Gesellschaft?
Der Fußball ist eher ein launiger Einstieg, doch mit dem „Zeitalter der Handvergessenheit“ ist es dem Autor ernst. Er sieht es zum einen aus der Abwertung des Handwerks hervorgehen, die schon Rousseau beklagte, zum anderen aus dem Aufstieg des „digitalen Kapitalismus“, der zur „ Erosion aller Handgreiflichkeiten“ führt und im Niedergang der Handschrift am deutlichsten sichtbar wird.
Der Ausdruck „Handvergessenheit“ ist Heideggers „Seinsvergessenheit“ nachgebildet, doch zielt er auf die politische Ökonomie des digitalen Kapitalismus: „Die invisible hand des spätkapitalistischen Marktes schätzt den Wert von Firmen am höchsten, die nichts Handgreifliches produzieren.“ Das ist mit Blick auf Google, Facebook, Instagram, Twitter und mannigfache Streaming-Dienste plausibel. Aber was folgt daraus für die Kulturgeschichte der Hände, die der Buchtitel verspricht?
Im Aufstieg der Plattformen steckt, wenn nicht Handgreifliches im überkommenen Sinn, so doch eine historisch neue Kooperation von Auge, Hand und Ding. Fingerkuppen gleiten bei vielen Menschen hochvirtuos über sensible Touchpads, schon die Hände der Kleinen wischen Bilder fort und heran, Minimalberührungen in der falschen Sekunde können ungewollte Transaktionen auslösen. Hörisch hat die Finger, die beim Liebesspiel oder Klavierspiel ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, vor Augen, ebenso die Finger, die auf den modernen Zauber-Instrumenten virtuelle Welten erschließen.
Aber die Realgeschichte der Hände in der großen Epoche des aufblühenden Handwerks, beim Take Off der industriellen Revolution oder in den aktuellen Digitalisierungsschüben lockt ihn sehr viel weniger als die Welt der Metaphern, Redewendungen, begrifflichen Formeln, Wortspiele und poetischen Muster, die mit den Händen verknüpft sind, oder die Darstellungen von Händen in der bildenden Kunst, sei es bei Dürer oder M.C. Escher. Hörisch erläutert die Anatomie der Hand, ihr Freiwerden durch den aufrechten Gang, blickt auf ihr Skelett und die Fingerknochen. Die Hand jedoch als physisches Gebilde und Werkzeug ist eher der Stichwortgeber für die Auftritte der Hand in der Sprache und der bildenden Kunst. Die Finger in ihrem Verhältnis zueinander und der Daumen spielen nur Nebenrollen, beim Tastsinn bleibt das große Feld der Warm-Kalt-Empfindungen weitgehend ausgespart.
Es zieht den Autor Hörisch in die Welt des Wortes, der reflexiven Inanspruchnahmen der Hände. Die unsichtbare Hand des Marktes ist die heimliche Hauptfigur des Buches. Seine „Phänomenologie der Hand“ entwickelt er am Leitfaden der Formel Friedrich Schlegels, der die Hände „Fühlhörner der Vernunft“ nannte. Hier ist er in seinem Element, der Literatur- und Geistesgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Er ist mit Johann Gottfried Herder im Bunde, der Tastsinn und Gefühl aufwertete und gegen ihre Isolierung von den vermeintlich höheren Sinnen Auge und Ohr in Schutz nahm.
Vor allem Goethe ist der große Kronzeuge für das Lob der Geistesaffinität der Hand, von der Worte wie das Begreifen und der Begriff zeugen. Manche Passagen über die Hand, den Verstand und die Vorzüge des „Unreinen“ klingen wie ein fernes Echo der Zeiten, in denen mehr oder weniger lautstark die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften gefordert wurde: „Die Hand ist (wie der Handel und sein Medium Geld, das von Hand zu Hand geht) geistreicher, als es dem selbstbewussten Geist lieb sein kann.“
Jochen Hörisch, Jahrgang 1951, hat vor kurzem seine Professorenstelle in Mannheim verlassen. Jetzt nimmt er sich die Freiheit des Enzyklopädisch-Assoziativen. Maradona taucht mit seiner Hand Gottes auf, Thomas Mann mit den Händen, die in den Buddenbrooks eine so auffällige Rolle spielen, Rilke als Ausleger der von Rodin geformten Hände, Matthias Claudius mit den Versen an und auf seine Frau Rebekka, Sartre mit dem „Ekel“ und F.C. Delius mit „Die linke Hand des Papstes“.
Manchmal scheint es, als kehre hier ein Philologe aus der Generation, die ihr Fach durch immer neue Theorieaufbrüche lustvoll unterminiert hat, nach dem Ende der Amtszeit zur guten alten Motivgeschichte zurück. Einer Motivgeschichte neuen Typs allerdings, die ihre Perlen auf einen mit Kapitalismuskritik durchwirkten Faden aufzieht: „Die unsichtbare Hand des Marktes ist das neuzeitlich-moderne funktionale Äquivalent der Hand Gottes. Beide Hände bewirtschaften Knappheit, Endlichkeit und Zeitlichkeit.“
Über Gott, Geld und Medien oder die Theologie der Märkte hat Hörisch schon häufig geschrieben. Hier unterfüttert er seine Diagnosen durch einen Streifzug durch seinen privaten Kanon mit dem Suchbefehl „Hände“. Ein facettenreicher Goethe-Essay entsteht dabei unter der Hand, im Blick auf Faust und Mephisto, auf Wilhelm Meister, Mignon und ihren Tanz, auf die eiserne Hand des Götz von Berlichingen, das Faustrecht und den modernen Staat. Kafkas hinreißende Beschreibung eines Kampfes seiner beiden Hände hat zu Recht einen großen Auftritt. Am Ende treten zwei Großmetaphern gegeneinander an, die unsichtbare Hand des Marktes und die öffentliche Hand, und am Ende wird der Manager („macht sich die Hände nicht schmutzig“) zur emblematischen Figur der „Handvergessenheit“ des modernen Kapitalismus.
Das Buch ist ein Zeichen dafür, dass die Wunderkammer als Modell kulturhistorischer Bücher noch nicht ausgedient hat. Trotz aller Fülle geht ihr hier allerdings die barocke Vielfalt des Nebeneinander von Kunst und Natur ab. Die Diagnose des digitalen Kapitalismus als „Zeitalter der Handvergessenheit“ kennt das Schicksal der Handschrift, aber kaum das Schicksal der Hände dort, wo sie nicht in der Sprache leben. Für das, was die Hände tun und leiden in der Geschichte, wie sie erzogen und oft auch dressiert wurden, wären Handwerksregeln, Apparaturen, Schreibgeräte, pädagogische Traktate, Gebrauchsanweisungen, Unfallberichte, Schulordnungen, technologische Magazine etc. geeignete Auskunftgeber. Wer eine Kulturgeschichte der Hände verspricht, sollte an ihnen nicht allzu nonchalant vorbeigehen.
LOTHAR MÜLLER
Kafkas hinreißende Beschreibung
eines Kampfes seiner beiden
Hände hat einen großen Auftritt
Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. Carl Hanser Verlag, München 2021. 304 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Haben wir im Zeitalter des digitalen Kapitalismus unsere Hände vergessen? Jochen Hörischs Kulturgeschichte der Hand
Hände können verführerisch sein. Zu ihrem Gestenrepertoire gehört das Flehen um Hilfe. Leider sind sie auch Schauspieler, denen man nicht immer trauen kann. Den Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch haben sie jetzt dazu gebracht, sie aus einer Gefahr zu erretten, von der gar nicht so klar ist, ob es sie gibt. Am Beginn seines neuen Buches „Hände. Eine Kulturgeschichte“ steht die Klage über die „radikale Abwertung, ja Negativbewertung der Hand“ und die „massenhaft verbreitete kultische Verehrung strammer Beine, muskulöser Waden und virtuoser Füße“. Die Klage mündet in die These: „Fußball ist der deutlichste Ausdruck der Handvergessenheit, die unsere Gegenwart kennzeichnet.“ Das leuchtet nicht unmittelbar ein. Ist die große Bedeutung von Baseball und Basketball in den Vereinigten Staaten ein Symptom für die Fußvergessenheit der amerikanischen Gesellschaft?
Der Fußball ist eher ein launiger Einstieg, doch mit dem „Zeitalter der Handvergessenheit“ ist es dem Autor ernst. Er sieht es zum einen aus der Abwertung des Handwerks hervorgehen, die schon Rousseau beklagte, zum anderen aus dem Aufstieg des „digitalen Kapitalismus“, der zur „ Erosion aller Handgreiflichkeiten“ führt und im Niedergang der Handschrift am deutlichsten sichtbar wird.
Der Ausdruck „Handvergessenheit“ ist Heideggers „Seinsvergessenheit“ nachgebildet, doch zielt er auf die politische Ökonomie des digitalen Kapitalismus: „Die invisible hand des spätkapitalistischen Marktes schätzt den Wert von Firmen am höchsten, die nichts Handgreifliches produzieren.“ Das ist mit Blick auf Google, Facebook, Instagram, Twitter und mannigfache Streaming-Dienste plausibel. Aber was folgt daraus für die Kulturgeschichte der Hände, die der Buchtitel verspricht?
Im Aufstieg der Plattformen steckt, wenn nicht Handgreifliches im überkommenen Sinn, so doch eine historisch neue Kooperation von Auge, Hand und Ding. Fingerkuppen gleiten bei vielen Menschen hochvirtuos über sensible Touchpads, schon die Hände der Kleinen wischen Bilder fort und heran, Minimalberührungen in der falschen Sekunde können ungewollte Transaktionen auslösen. Hörisch hat die Finger, die beim Liebesspiel oder Klavierspiel ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, vor Augen, ebenso die Finger, die auf den modernen Zauber-Instrumenten virtuelle Welten erschließen.
Aber die Realgeschichte der Hände in der großen Epoche des aufblühenden Handwerks, beim Take Off der industriellen Revolution oder in den aktuellen Digitalisierungsschüben lockt ihn sehr viel weniger als die Welt der Metaphern, Redewendungen, begrifflichen Formeln, Wortspiele und poetischen Muster, die mit den Händen verknüpft sind, oder die Darstellungen von Händen in der bildenden Kunst, sei es bei Dürer oder M.C. Escher. Hörisch erläutert die Anatomie der Hand, ihr Freiwerden durch den aufrechten Gang, blickt auf ihr Skelett und die Fingerknochen. Die Hand jedoch als physisches Gebilde und Werkzeug ist eher der Stichwortgeber für die Auftritte der Hand in der Sprache und der bildenden Kunst. Die Finger in ihrem Verhältnis zueinander und der Daumen spielen nur Nebenrollen, beim Tastsinn bleibt das große Feld der Warm-Kalt-Empfindungen weitgehend ausgespart.
Es zieht den Autor Hörisch in die Welt des Wortes, der reflexiven Inanspruchnahmen der Hände. Die unsichtbare Hand des Marktes ist die heimliche Hauptfigur des Buches. Seine „Phänomenologie der Hand“ entwickelt er am Leitfaden der Formel Friedrich Schlegels, der die Hände „Fühlhörner der Vernunft“ nannte. Hier ist er in seinem Element, der Literatur- und Geistesgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Er ist mit Johann Gottfried Herder im Bunde, der Tastsinn und Gefühl aufwertete und gegen ihre Isolierung von den vermeintlich höheren Sinnen Auge und Ohr in Schutz nahm.
Vor allem Goethe ist der große Kronzeuge für das Lob der Geistesaffinität der Hand, von der Worte wie das Begreifen und der Begriff zeugen. Manche Passagen über die Hand, den Verstand und die Vorzüge des „Unreinen“ klingen wie ein fernes Echo der Zeiten, in denen mehr oder weniger lautstark die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften gefordert wurde: „Die Hand ist (wie der Handel und sein Medium Geld, das von Hand zu Hand geht) geistreicher, als es dem selbstbewussten Geist lieb sein kann.“
Jochen Hörisch, Jahrgang 1951, hat vor kurzem seine Professorenstelle in Mannheim verlassen. Jetzt nimmt er sich die Freiheit des Enzyklopädisch-Assoziativen. Maradona taucht mit seiner Hand Gottes auf, Thomas Mann mit den Händen, die in den Buddenbrooks eine so auffällige Rolle spielen, Rilke als Ausleger der von Rodin geformten Hände, Matthias Claudius mit den Versen an und auf seine Frau Rebekka, Sartre mit dem „Ekel“ und F.C. Delius mit „Die linke Hand des Papstes“.
Manchmal scheint es, als kehre hier ein Philologe aus der Generation, die ihr Fach durch immer neue Theorieaufbrüche lustvoll unterminiert hat, nach dem Ende der Amtszeit zur guten alten Motivgeschichte zurück. Einer Motivgeschichte neuen Typs allerdings, die ihre Perlen auf einen mit Kapitalismuskritik durchwirkten Faden aufzieht: „Die unsichtbare Hand des Marktes ist das neuzeitlich-moderne funktionale Äquivalent der Hand Gottes. Beide Hände bewirtschaften Knappheit, Endlichkeit und Zeitlichkeit.“
Über Gott, Geld und Medien oder die Theologie der Märkte hat Hörisch schon häufig geschrieben. Hier unterfüttert er seine Diagnosen durch einen Streifzug durch seinen privaten Kanon mit dem Suchbefehl „Hände“. Ein facettenreicher Goethe-Essay entsteht dabei unter der Hand, im Blick auf Faust und Mephisto, auf Wilhelm Meister, Mignon und ihren Tanz, auf die eiserne Hand des Götz von Berlichingen, das Faustrecht und den modernen Staat. Kafkas hinreißende Beschreibung eines Kampfes seiner beiden Hände hat zu Recht einen großen Auftritt. Am Ende treten zwei Großmetaphern gegeneinander an, die unsichtbare Hand des Marktes und die öffentliche Hand, und am Ende wird der Manager („macht sich die Hände nicht schmutzig“) zur emblematischen Figur der „Handvergessenheit“ des modernen Kapitalismus.
Das Buch ist ein Zeichen dafür, dass die Wunderkammer als Modell kulturhistorischer Bücher noch nicht ausgedient hat. Trotz aller Fülle geht ihr hier allerdings die barocke Vielfalt des Nebeneinander von Kunst und Natur ab. Die Diagnose des digitalen Kapitalismus als „Zeitalter der Handvergessenheit“ kennt das Schicksal der Handschrift, aber kaum das Schicksal der Hände dort, wo sie nicht in der Sprache leben. Für das, was die Hände tun und leiden in der Geschichte, wie sie erzogen und oft auch dressiert wurden, wären Handwerksregeln, Apparaturen, Schreibgeräte, pädagogische Traktate, Gebrauchsanweisungen, Unfallberichte, Schulordnungen, technologische Magazine etc. geeignete Auskunftgeber. Wer eine Kulturgeschichte der Hände verspricht, sollte an ihnen nicht allzu nonchalant vorbeigehen.
LOTHAR MÜLLER
Kafkas hinreißende Beschreibung
eines Kampfes seiner beiden
Hände hat einen großen Auftritt
Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. Carl Hanser Verlag, München 2021. 304 Seiten, 28 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2021Winke mit der Liebeshand
Jochen Hörisch lässt sich vom Titel seines Buchs nicht hindern, bei Goethe zu verweilen
Die Hauptthese von Jochen Hörischs Buch lautet: Das digitale Zeitalter ist "die Epoche der Handvergessenheit". Sie wird gleich eingangs erläutert mit dem Hinweis auf Computermaus und Touchscreen, die immer mehr bestimmten, wie wir auf die Wirklichkeit zugreifen. Die digitalen "Zauber-Instrumente" eröffnen zwar, hält Hörisch fest, "großartige kognitive Möglichkeiten". Aber nur, "wenn sie an Hände rückgekoppelt werden, die Zugang zu realen Welten gewähren". Eine Kulturgeschichte der Hand von der Prähistorie über geschichtliche Entwicklungsstufen des Handwerks bis hin zum vermeintlich handvergessenen Informatikzeitalter bietet Hörisch entgegen dem, was der Untertitel verspricht, allerdings nicht. Wer wissen will, wie aus tierischen Fortbewegungs- und Greiforganen die raffinierte Hand des Homo sapiens hervorging, wird in einem kurzen Unterkapitel auf André Leroi-Gourhans "Hand und Wort" verwiesen.
Hörisch geht es vor allem um einen zentralen Befund dieses Klassikers der Anthropologie: eine Bestätigung nämlich der Ahnungen von Dichtern und Philosophen über den Zusammenhang von "mens" und "manus" durch die moderne Evolutionstheorie. "Der Mensch ist das klügste aller Wesen, weil er Hände hat", heißt es schon bei dem Vorsokratiker Anaxagoras, die Hände seien die "Fühlhörner der Vernunft" mehr als zweitausend Jahre später bei Friedrich Schlegel. Genau dies demonstrierte Leroi-Gourhan, der sich gegen eine "zerebralistische Sicht" auf die Evolution wendete. Es war nicht das wachsende Gehirnvolumen, sondern die durch den aufrechten Gang als Werkzeug und Kommunikationsmittel freigesetzte Hand, die menschliches Denken und Sprechen ermöglicht hat. Unsere Geistigkeit ist demnach seit jeher leiblich fundiert, die "exzentrische Positionalität" des Menschen (H. Plessner) verdankt sich geradezu seinen Extremitäten. Davon nichts wissen zu wollen und in diesem Sinn handvergessen zu sein wirft Hörisch einer Philosophie vor, die den Menschen auf "reine Vernunft" verpflichten wolle.
Wovon handelt dann aber die angekündigte "Kulturgeschichte"? Auf einen groben Nenner gebracht: vom Hand-Motiv in der deutschen Literatur des achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Epoche um 1800 und speziell Goethe. Hörischs wagemutige These ist, dass die Hand "das entscheidende Leitmotiv Goethes" sei. Was die Goethe-Forschung bloß bisher übersehen habe. Goethes prominentester Held heißt ja tatsächlich Faust, und im II. Teil der Tragödie fährt der gleichsam mit allen Händen in die Welt hinein, bis hin zu den brutalen Kriegs- und Kolonisierungsfeldzügen der letzten Akte: "Gelegenheit ist da, nun, Fauste greife zu".
An dieser Stelle kommt auch das Leib-und-Magen-Thema des Verfassers ins Spiel. Jochen Hörisch ist der Finanzexperte unter den Germanisten, der in mehreren Büchern, immer mit besonderem Augenmerk auf Goethe, gezeigt hat, wie Schriftsteller ab dem achtzehnten Jahrhundert poetisch verdeutlichen, dass es nun das Geld und nicht mehr ein metaphysisches Ordnungsgefüge ist, das die Welt im Innersten zusammenhält. Bildlich gesprochen: Unser Schicksal liegt nicht mehr in der Hand Gottes, sondern in der unsichtbaren Hand des Marktes (Adam Smith' "invisible hand").
Der erste Akt von "Faust II", in dem der Titelheld mit Hilfe des Teufels das Papiergeld erfindet, an dessen Kaufkraft gleich alle glauben, bietet einen Beleg für den Übergang von Credo zu Kredit, von religiöser Schuld zu Schulden, von der Hoffnung auf Erlösung zu der auf Erlös. Das Drama thematisiert ja über weite Strecken die unheilvolle Wirkung der modernen geldvermittelten Zurichtung der Welt. Der von der rechnerischen Vernunft gesteuerten Hand des Global Players Faust konfrontiert Goethe, so kann man Hörisch verstehen, die sinnliche, zärtliche, ausdrucksstarke Hand in konkreten Verhältnissen. Dass die Liebeshand die Ökonomiehand in den Griff bekommen könnte, hielt auch der zeitweilige Weimarer Finanzminister für eine Illusion. Es galt eben nur, erstere nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Etwas von trickreicher Wortspielerei haftet dieser Erhebung der Hand zum Goethe'schen Leitmotiv an, indem sie über die metaphorischen (Hand Gottes/des Marktes) und idiomatischen Hände (Werther, der "Hand an sich legt" und den "Handwerker" zu Grabe tragen) sowie, in letzter Instanz, über das weite semantische Feld des Handelns überhaupt vollzogen wird. Trotzdem liest man die Studie mit Gewinn, weil Hörisch pointierte Brückenschläge zwischen Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur vorführt.
MANFRED KOCH
Jochen Hörisch: "Hände". Eine Kulturgeschichte.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
304 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jochen Hörisch lässt sich vom Titel seines Buchs nicht hindern, bei Goethe zu verweilen
Die Hauptthese von Jochen Hörischs Buch lautet: Das digitale Zeitalter ist "die Epoche der Handvergessenheit". Sie wird gleich eingangs erläutert mit dem Hinweis auf Computermaus und Touchscreen, die immer mehr bestimmten, wie wir auf die Wirklichkeit zugreifen. Die digitalen "Zauber-Instrumente" eröffnen zwar, hält Hörisch fest, "großartige kognitive Möglichkeiten". Aber nur, "wenn sie an Hände rückgekoppelt werden, die Zugang zu realen Welten gewähren". Eine Kulturgeschichte der Hand von der Prähistorie über geschichtliche Entwicklungsstufen des Handwerks bis hin zum vermeintlich handvergessenen Informatikzeitalter bietet Hörisch entgegen dem, was der Untertitel verspricht, allerdings nicht. Wer wissen will, wie aus tierischen Fortbewegungs- und Greiforganen die raffinierte Hand des Homo sapiens hervorging, wird in einem kurzen Unterkapitel auf André Leroi-Gourhans "Hand und Wort" verwiesen.
Hörisch geht es vor allem um einen zentralen Befund dieses Klassikers der Anthropologie: eine Bestätigung nämlich der Ahnungen von Dichtern und Philosophen über den Zusammenhang von "mens" und "manus" durch die moderne Evolutionstheorie. "Der Mensch ist das klügste aller Wesen, weil er Hände hat", heißt es schon bei dem Vorsokratiker Anaxagoras, die Hände seien die "Fühlhörner der Vernunft" mehr als zweitausend Jahre später bei Friedrich Schlegel. Genau dies demonstrierte Leroi-Gourhan, der sich gegen eine "zerebralistische Sicht" auf die Evolution wendete. Es war nicht das wachsende Gehirnvolumen, sondern die durch den aufrechten Gang als Werkzeug und Kommunikationsmittel freigesetzte Hand, die menschliches Denken und Sprechen ermöglicht hat. Unsere Geistigkeit ist demnach seit jeher leiblich fundiert, die "exzentrische Positionalität" des Menschen (H. Plessner) verdankt sich geradezu seinen Extremitäten. Davon nichts wissen zu wollen und in diesem Sinn handvergessen zu sein wirft Hörisch einer Philosophie vor, die den Menschen auf "reine Vernunft" verpflichten wolle.
Wovon handelt dann aber die angekündigte "Kulturgeschichte"? Auf einen groben Nenner gebracht: vom Hand-Motiv in der deutschen Literatur des achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Epoche um 1800 und speziell Goethe. Hörischs wagemutige These ist, dass die Hand "das entscheidende Leitmotiv Goethes" sei. Was die Goethe-Forschung bloß bisher übersehen habe. Goethes prominentester Held heißt ja tatsächlich Faust, und im II. Teil der Tragödie fährt der gleichsam mit allen Händen in die Welt hinein, bis hin zu den brutalen Kriegs- und Kolonisierungsfeldzügen der letzten Akte: "Gelegenheit ist da, nun, Fauste greife zu".
An dieser Stelle kommt auch das Leib-und-Magen-Thema des Verfassers ins Spiel. Jochen Hörisch ist der Finanzexperte unter den Germanisten, der in mehreren Büchern, immer mit besonderem Augenmerk auf Goethe, gezeigt hat, wie Schriftsteller ab dem achtzehnten Jahrhundert poetisch verdeutlichen, dass es nun das Geld und nicht mehr ein metaphysisches Ordnungsgefüge ist, das die Welt im Innersten zusammenhält. Bildlich gesprochen: Unser Schicksal liegt nicht mehr in der Hand Gottes, sondern in der unsichtbaren Hand des Marktes (Adam Smith' "invisible hand").
Der erste Akt von "Faust II", in dem der Titelheld mit Hilfe des Teufels das Papiergeld erfindet, an dessen Kaufkraft gleich alle glauben, bietet einen Beleg für den Übergang von Credo zu Kredit, von religiöser Schuld zu Schulden, von der Hoffnung auf Erlösung zu der auf Erlös. Das Drama thematisiert ja über weite Strecken die unheilvolle Wirkung der modernen geldvermittelten Zurichtung der Welt. Der von der rechnerischen Vernunft gesteuerten Hand des Global Players Faust konfrontiert Goethe, so kann man Hörisch verstehen, die sinnliche, zärtliche, ausdrucksstarke Hand in konkreten Verhältnissen. Dass die Liebeshand die Ökonomiehand in den Griff bekommen könnte, hielt auch der zeitweilige Weimarer Finanzminister für eine Illusion. Es galt eben nur, erstere nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Etwas von trickreicher Wortspielerei haftet dieser Erhebung der Hand zum Goethe'schen Leitmotiv an, indem sie über die metaphorischen (Hand Gottes/des Marktes) und idiomatischen Hände (Werther, der "Hand an sich legt" und den "Handwerker" zu Grabe tragen) sowie, in letzter Instanz, über das weite semantische Feld des Handelns überhaupt vollzogen wird. Trotzdem liest man die Studie mit Gewinn, weil Hörisch pointierte Brückenschläge zwischen Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur vorführt.
MANFRED KOCH
Jochen Hörisch: "Hände". Eine Kulturgeschichte.
Carl Hanser Verlag,
München 2021.
304 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Buch, das nicht nur ein handverlesenes Publikum erreichen sollte." Denis Scheck, SWR2 lesenswert, 08.04.21
"Man wird von Hörisch aufs Angenehmste belehrt." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28.02.21
"Man liest die Studie mit Gewinn, weil Hörisch pointierte Brückenschläge zwischen Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur vorführt." Manfred Koch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.21
"Hörisch präsentiert zahlreiche Lesefrüchte, die sein pointiert geschriebenes Buch zu einem Fundus literarischer Preziosen machen." Holger Heimann, MDR Kultur, 24.02.21
"In anregendem Erzählton führt Hörisch an die große Wortfamilie 'Hand' und deren breite Metaphorik heran." Ingeborg Waldinger, Die Furche, 11.03.21
"Hörisch macht mit seinem ganzen Buch deutlich, dass es möglich wäre, die Menschheitsgeschichte als Hand-Geschichte zu erzählen." Claudia Mäder, Neue Zürcher Zeitung, 09.02.21
"Die Kulturgeschichte fasziniert durch ihre Vielfältigkeit und in ihrer assoziativen Erzählweise ... ein Buch zum Staunen und zum Lernen." Edith Rabenstein, Passauer Neue Presse, 20.02.21
"Man wird von Hörisch aufs Angenehmste belehrt." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28.02.21
"Man liest die Studie mit Gewinn, weil Hörisch pointierte Brückenschläge zwischen Religion, Philosophie, Ökonomie und Literatur vorführt." Manfred Koch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.21
"Hörisch präsentiert zahlreiche Lesefrüchte, die sein pointiert geschriebenes Buch zu einem Fundus literarischer Preziosen machen." Holger Heimann, MDR Kultur, 24.02.21
"In anregendem Erzählton führt Hörisch an die große Wortfamilie 'Hand' und deren breite Metaphorik heran." Ingeborg Waldinger, Die Furche, 11.03.21
"Hörisch macht mit seinem ganzen Buch deutlich, dass es möglich wäre, die Menschheitsgeschichte als Hand-Geschichte zu erzählen." Claudia Mäder, Neue Zürcher Zeitung, 09.02.21
"Die Kulturgeschichte fasziniert durch ihre Vielfältigkeit und in ihrer assoziativen Erzählweise ... ein Buch zum Staunen und zum Lernen." Edith Rabenstein, Passauer Neue Presse, 20.02.21