Wie menschlich kann die 24h Betreuung durch osteuropäische Pflegekräfte für die Pflegenden sein?
Als Klaras Mutter nach einem Schlaganfall plötzlich pflegebedürftig wird und nicht mehr allein leben kann, stellt dies das Leben von Mutter und Tochter, aber auch der ganzen Familie auf den Kopf. Neue
Routinen müssen entwickelt werden, soziale Beziehungen, auch die Mutter-Tochter-Beziehung,…mehrWie menschlich kann die 24h Betreuung durch osteuropäische Pflegekräfte für die Pflegenden sein?
Als Klaras Mutter nach einem Schlaganfall plötzlich pflegebedürftig wird und nicht mehr allein leben kann, stellt dies das Leben von Mutter und Tochter, aber auch der ganzen Familie auf den Kopf. Neue Routinen müssen entwickelt werden, soziale Beziehungen, auch die Mutter-Tochter-Beziehung, verändern sich. Für Klaras Tochter wiederum scheint die neue Nähe zur Großmutter, die fortan bei ihnen im Haus lebt, wiederum ein Geschenk und Ersatz, für die zu oft abwesende Mutter Klara, die mit ihrer Mutterrolle oft hadert. Allein dieses Beziehungsgeflecht und die Disruption von Familienverhältnissen birgt Potenzial für Enttäuschungen, Verletzungen und Überforderung.
Die Hilfe ausländischer Pflegekräfte als 24h-Hilfe für Mutter Irene scheint so zunächst als praktische Lösung im Interesse aller. Doch ist es das wirklich? Übersehen wird dabei, dass diese Hilfe, eben nicht nur eine Kraft ist, die zum Lösen der besonderen familialen und pflegerischen Herausforderungen da ist, sondern, dass es sich dabei um ein Individuum handelt, mit eigenen Wünschen, Träumen und Bedürfnissen, die eben kein Mensch 24h für 14 Tage abstellen kann. So auch nicht die Slowakin Paulina, im selben Alter wie Klara, die aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeiten alle 14 Tage für 2 Wochen ihre Heimat und eigenen Kinder, letztlich ihr ganzes Leben, verlässt, um mit Klaras Familie zu leben und deren Mutter zu pflegen. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob all das, was Gregor in diesem Roman anschaulich und eindringlich vor Augen führt, eben kein Einzelfall ist, sondern viel mehr als typischer Fall einem Konstrukt geschuldet ist, das unter Bedingungen, die das Menschsein und die Augenhöhe unter verschiedenen Parteien ernst nimmt, schlicht nicht zu realisieren ist.
Gregor gelingt es die Interessen, Bedürfnisse, Absurditäten und Widersprüche dieser Situation sowohl aus den verschiedenen personalen Perspektiven als auch auf gesellschaftlicher Ebene in allen Facetten eindringlich einzufangen. Dabei ist der Blick immer differenziert, nie anklagend. Auch Paulina wird in ihrer Zerrissenheit zwischen Welten porträtiert. Sie genießt zu Beginn durchaus auch die neue Familie, dort wird sie gebraucht, macht allen das Leben leichter, während sie sich in der Heimat mit ihren Schulgefühlen und den von der abwesenden Mutter enttäuschten eigenen Kindern konfrontiert sieht. Mit Klaras Tod, der zu Beginn einen dramaturgischen Rahmen setzt, arbeitet sie die Handlung geschickt im Rückblick auf dieses Ereignis hin aus. Man spürt förmlich wie jede kleine Verletzung, giftige Bitte und unreflektierte Handlung das Unglück heraufbeschwört. Dabei wird auch immer wieder die Frage von Schuld und Verantwortung, Autonomie und Fremdbestimmung in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, hier insbesondere auch Müttern und Töchtern, in verschiedenen Konstellationen thematisiert.
Die Sprache ist nüchtern und unprätentiös, und erfasst so auch in der Stimmung die Situation angemessen und präzise.
Halbe Leben von Susanne Gregor ist ein sehr gutes und schwieriges Buch zugleich. So präzise und differenziert wie die Autorin analysiert und formuliert, so bedrückend sind die Einschränkungen der Leben für alle Protagonistinnen und der gesellschaftliche Missstand, dass wir bisher keine wirklich gute Lösung für die letzte Lebensphase unserer Lieben gefunden haben. Um so wichtiger ist dieser auch dramaturgisch gelungen erzählte Roman, der zum Nachdenken über unbequeme Wahrheiten anregt! Unbedingt lesen!