Für Sascha beginnt das letzte Schuljahr. Abhängen im Abbruchhaus, Mutproben mit seinen Kumpels, die immer gefährlicher werden: Sieht so der Rest seines Lebens aus? Und dann passiert etwas. Etwas, das alles, was war, zerschlägt und alles infrage stellt, was noch sein kann. Sich weiter wegducken – unmöglich. Rau im Sound der Straße, darunter voller Herz: Johannes Herwig erzählt in seinem neuen Roman von einer Freundschaft, die scheinbar über allem steht, und von der Schwierigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Für die, an denen einem was liegt – und für sich selbst.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Im rauen
Revier
Rigoros und verstörend: In Johannes Herwigs
Roman „Halber Löwe“ löst sich ein Junge im
Leipzig der Nachwendejahre aus seiner Clique
VON SIGGI SEUSS
eipzig Anfang der Neunziger, ein paar Jahre nach den Ereignissen der friedlichen Revolution. Die Südstadt ist in Johannes Herwigs neuem Roman „Halber Löwe“ das Revier des 15-jährigen Sascha und seiner drei Kumpels – junge Menschen, denen jedes Vertrauen in eine Zukunft voll blühender Landschaften fehlt. Ihr Leben ist rau, Raum zur Selbstfindung, zum Nachdenken, gibt es nicht. Nur für Augenblicke scheint Sascha zur Besinnung zu kommen, zum Beispiel als er im Auftrag der Mutter einen Blumenstrauß am Grab des Vaters niederlegt und sich an die schlimmen Erlebnisse seiner frühen Kindheit erinnert.
Davon abgesehen treiben er und seine Clique orientierungslos durchs Leben. Der Autor lässt als Ursachen für die Weltverneinung seiner Protagonisten zwar immer wieder ihre Sozialisation in der DDR einfließen und Armut und Perspektivlosigkeit im wiedervereinten Land. Doch die geschilderten Verhältnisse hätte man zur selben Zeit sicher auch in westdeutschen Milieus finden können. Die Leipziger Gang jedenfalls hat sich in einem Abbruchhaus eine Bude eingerichtet, dröhnt sich im Dunst selbstgedrehter Kippen und Joints mit Bier und Schnaps zu und stellt sich immer wieder kleinkriminellen Mutproben, um Männlichkeit zu zelebrieren.
In seinem Debütroman „Bis die Sterne zittern“, erzählte Johannes Herwig 2017 von einer Leipziger Gruppe bündischer Jugendlicher, die sich noch 1936 unter großer Gefahr dem Gleichschaltungsterror entgegenstellte. Basierend auf eigenen Szeneerfahrungen des Autors handelte der zweite Roman, „Scherbenhelden“ von Leipziger Punks, die Anfang der Neunzigerjahre ihr Territorium gegen Glatzen und andere Neonazis verteidigten. Und nun stehen vier selbsternannte Outlaws im Zentrum der Geschichte.
Dreimal Ich-Erzähler in der Coming-of-Age-Phase, dreimal Brennpunkt Leipziger Südstadt, dreimal gut recherchierte, detailreiche Einblicke ins jeweilige Jugendmilieu. Allerdings schlug Herwigs preisgekröntes Debüt in Sprache und Botschaft einen ganz anderen Ton an als die beiden Romane, die in den frühen Neunzigern spielen. In „Bis die Sterne zittern“ ging es um das bewusste Aufbegehren Jugendlicher gegen das Naziregime und um Courage aus Überzeugung. Den nächsten beiden Romanen fehlt dieses Grundmotiv. Schreibstil und Dialogdichte ähneln sich zwar, den Charakteren aber ist der Glaube an eine menschenwürdige Zukunft abhandengekommen. In manchmal endlos wirkenden Beschreibungen von Ritualen ohne Sinn erfährt man eins in aller Deutlichkeit: die Verlorenheit junger Menschen in dieser Zeit in diesem Land.
Der Szenejargon beherrscht in „Halber Löwe“ die Kommunikation. Ansätze von Gedankengängen werden mit „Fresse jetzt“ oder „Dir hamm sie ins Gehirn geschissen“ unterbrochen. Die Versuche Saschas sich in seinen bescheidenen Reflexionen über das dumpfe Milieu zu erheben, gelingen nur dort, wo er Geborgenheit spürt: wenn er seiner Leidenschaft, der Graffitikunst, nachgeht. Und zu Hause in der Mietswohnung um die Ecke, bei seiner Mutter und der sechsjährigen Halbschwester, die er liebevoll und pflichtbewusst betreut, wenn seine Mutter als Krankenschwester malocht. Saschas Vater starb, als der Sohn fünf war, eine spätere Liaison der Mutter ging in die Brüche.
Wie die Erzähler in den Vorgängerromanen erfüllt auch Sascha die Klischees, die ihn zum geborenen Antihelden machen und ihn leicht aus der Bahn tragen könnten. Er ist Arbeiterkind, wächst in prekären Verhältnissen auf, ist zwar intelligent, tut sich aber in der Schule schwer. Bekommt Bestätigung in der Clique, nicht aber, wie er es sich erträumt, bei Mädchen. Und findet nur nach tragischen Erfahrungen zum Mut, Nein zu sagen.
Johannes Herwigs Erzählstil klingt, wenn er das Cliquenmilieu beschreibt, wie eine Eins-zu-eins-Übernahme des Szenesprechs: rigoros und verstörend. Jede Art von Nachdenken über die eigene Situation scheint dort im Keim zu ersticken. Selbst der Tod eines neuen Kumpels bei einer Mutprobe führt erst nach einigen Umwegen zu der Frage „Was tun wir hier eigentlich?“ Kursiv gesetzt, wie Regieanweisungen, verstärken die grau-grauen Vorstadtkulissen samt Schlaglöchern und die zur Stimmung passenden düsteren Wetterlagen die Tristesse der Erzählung.
Herwigs neuer Roman liest sich wie ein Stimmungsbild aus einem Land vor unserer Zeit, dessen Milieus an den Rändern der Gesellschaft heute noch existieren. Nur sind die Akteure jetzt die Kindeskinder der friedlichen Revolution. Mit der radikalen Beschreibung eines in der Jugendliteratur eher vernachlässigten Szenemilieus gelingt Johannes Herwig vor allem eines: zu zeigen, wie schwer es ist, Verantwortung zu übernehmen und sich aus selbstzerstörerischer Unmündigkeit zu befreien. In Leipzig und anderswo.
L
Es geht um DDR-
Sozialisation,
aber diese
Verhältnisse
hätte man
sicher auch in
westdeutschen
Milieus
finden können
Johannes Herwig:
Halber Löwe.
Gerstenberg Verlag,
Hildesheim 2023,
234 Seiten, 18 Euro.
Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Revier
Rigoros und verstörend: In Johannes Herwigs
Roman „Halber Löwe“ löst sich ein Junge im
Leipzig der Nachwendejahre aus seiner Clique
VON SIGGI SEUSS
eipzig Anfang der Neunziger, ein paar Jahre nach den Ereignissen der friedlichen Revolution. Die Südstadt ist in Johannes Herwigs neuem Roman „Halber Löwe“ das Revier des 15-jährigen Sascha und seiner drei Kumpels – junge Menschen, denen jedes Vertrauen in eine Zukunft voll blühender Landschaften fehlt. Ihr Leben ist rau, Raum zur Selbstfindung, zum Nachdenken, gibt es nicht. Nur für Augenblicke scheint Sascha zur Besinnung zu kommen, zum Beispiel als er im Auftrag der Mutter einen Blumenstrauß am Grab des Vaters niederlegt und sich an die schlimmen Erlebnisse seiner frühen Kindheit erinnert.
Davon abgesehen treiben er und seine Clique orientierungslos durchs Leben. Der Autor lässt als Ursachen für die Weltverneinung seiner Protagonisten zwar immer wieder ihre Sozialisation in der DDR einfließen und Armut und Perspektivlosigkeit im wiedervereinten Land. Doch die geschilderten Verhältnisse hätte man zur selben Zeit sicher auch in westdeutschen Milieus finden können. Die Leipziger Gang jedenfalls hat sich in einem Abbruchhaus eine Bude eingerichtet, dröhnt sich im Dunst selbstgedrehter Kippen und Joints mit Bier und Schnaps zu und stellt sich immer wieder kleinkriminellen Mutproben, um Männlichkeit zu zelebrieren.
In seinem Debütroman „Bis die Sterne zittern“, erzählte Johannes Herwig 2017 von einer Leipziger Gruppe bündischer Jugendlicher, die sich noch 1936 unter großer Gefahr dem Gleichschaltungsterror entgegenstellte. Basierend auf eigenen Szeneerfahrungen des Autors handelte der zweite Roman, „Scherbenhelden“ von Leipziger Punks, die Anfang der Neunzigerjahre ihr Territorium gegen Glatzen und andere Neonazis verteidigten. Und nun stehen vier selbsternannte Outlaws im Zentrum der Geschichte.
Dreimal Ich-Erzähler in der Coming-of-Age-Phase, dreimal Brennpunkt Leipziger Südstadt, dreimal gut recherchierte, detailreiche Einblicke ins jeweilige Jugendmilieu. Allerdings schlug Herwigs preisgekröntes Debüt in Sprache und Botschaft einen ganz anderen Ton an als die beiden Romane, die in den frühen Neunzigern spielen. In „Bis die Sterne zittern“ ging es um das bewusste Aufbegehren Jugendlicher gegen das Naziregime und um Courage aus Überzeugung. Den nächsten beiden Romanen fehlt dieses Grundmotiv. Schreibstil und Dialogdichte ähneln sich zwar, den Charakteren aber ist der Glaube an eine menschenwürdige Zukunft abhandengekommen. In manchmal endlos wirkenden Beschreibungen von Ritualen ohne Sinn erfährt man eins in aller Deutlichkeit: die Verlorenheit junger Menschen in dieser Zeit in diesem Land.
Der Szenejargon beherrscht in „Halber Löwe“ die Kommunikation. Ansätze von Gedankengängen werden mit „Fresse jetzt“ oder „Dir hamm sie ins Gehirn geschissen“ unterbrochen. Die Versuche Saschas sich in seinen bescheidenen Reflexionen über das dumpfe Milieu zu erheben, gelingen nur dort, wo er Geborgenheit spürt: wenn er seiner Leidenschaft, der Graffitikunst, nachgeht. Und zu Hause in der Mietswohnung um die Ecke, bei seiner Mutter und der sechsjährigen Halbschwester, die er liebevoll und pflichtbewusst betreut, wenn seine Mutter als Krankenschwester malocht. Saschas Vater starb, als der Sohn fünf war, eine spätere Liaison der Mutter ging in die Brüche.
Wie die Erzähler in den Vorgängerromanen erfüllt auch Sascha die Klischees, die ihn zum geborenen Antihelden machen und ihn leicht aus der Bahn tragen könnten. Er ist Arbeiterkind, wächst in prekären Verhältnissen auf, ist zwar intelligent, tut sich aber in der Schule schwer. Bekommt Bestätigung in der Clique, nicht aber, wie er es sich erträumt, bei Mädchen. Und findet nur nach tragischen Erfahrungen zum Mut, Nein zu sagen.
Johannes Herwigs Erzählstil klingt, wenn er das Cliquenmilieu beschreibt, wie eine Eins-zu-eins-Übernahme des Szenesprechs: rigoros und verstörend. Jede Art von Nachdenken über die eigene Situation scheint dort im Keim zu ersticken. Selbst der Tod eines neuen Kumpels bei einer Mutprobe führt erst nach einigen Umwegen zu der Frage „Was tun wir hier eigentlich?“ Kursiv gesetzt, wie Regieanweisungen, verstärken die grau-grauen Vorstadtkulissen samt Schlaglöchern und die zur Stimmung passenden düsteren Wetterlagen die Tristesse der Erzählung.
Herwigs neuer Roman liest sich wie ein Stimmungsbild aus einem Land vor unserer Zeit, dessen Milieus an den Rändern der Gesellschaft heute noch existieren. Nur sind die Akteure jetzt die Kindeskinder der friedlichen Revolution. Mit der radikalen Beschreibung eines in der Jugendliteratur eher vernachlässigten Szenemilieus gelingt Johannes Herwig vor allem eines: zu zeigen, wie schwer es ist, Verantwortung zu übernehmen und sich aus selbstzerstörerischer Unmündigkeit zu befreien. In Leipzig und anderswo.
L
Es geht um DDR-
Sozialisation,
aber diese
Verhältnisse
hätte man
sicher auch in
westdeutschen
Milieus
finden können
Johannes Herwig:
Halber Löwe.
Gerstenberg Verlag,
Hildesheim 2023,
234 Seiten, 18 Euro.
Ab 14 Jahren.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Siggi Seuß schätzt die Romane von Johannes Herwig, die immer wieder Einblicke in verschiedene Jugendmilieus in Leipzig zu verschiedenen Epochen gewähren. Nun widmet sich Herwig einer Clique von Kumpels, die Anfang der Neunziger kiffen, saufen, kleinkriminelle Mutproben absolvieren und deren Lebenssinnsuche sich schnell in der allgemeinen Verlorenheit jener Jahre erschöpft. Vor allem folgt Seuß hier Antiheld Sascha, einem Arbeiterkind aus prekären Verhältnissen, der in der Clique den Ton angibt, bei Mädchen aber nicht gut wegkommt. Auch sprachlich vermag Herwig das Gefühl jener Nachwendejahre gut einzufangen, versichert der Kritiker. Und selbst der Szenejargon klingt hier angemessen "verstörend", meint Seuß.
© Perlentaucher Medien GmbH
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