Zwei jüdische Jungen am Rande der zerbrechenden sowjetischen Welt: ein grandioses Sprach- und Fantasiespektakel, das den Leser mitreißt … Dieses Buch, ach was: "diese Wort-Arche aus Rotz und Heiligkeit" ist so quicklebendig, wie es nur die Erinnerung an die Kindheit und alle versunkenen Reiche dieser Welt sein kann: Während im fernen Moskau Gorbatschow das Ruder übernimmt und die UdSSR langsam und sicher auf ihr Ende zusteuert, liegen im noch ferneren Judatin, einem öden Winkel nahe der sowjetisch-finnischen Ostseegrenze, zwei Bengel krank im Bett. Der eine verbringt hier seine Ferien und träumt von Marilyn Monroes Titten; der andere, Abkömmling von Kryptojuden, die sich vor Jahrhunderten in dieser Einöde vor dem Zaren versteckt haben, fiebert nach seiner Beschneidung der Ankunft des Propheten Elias entgegen. Sie stammen aus verschiedenen Universen, wie alle Pubertierenden bewohnen sie aber dasselbe Haus: Nur durch hellhörige Wände voneinander getrennt, lauschen sie mit spitzen Ohren, um zu verstehen, was um sie herum vorgeht, und setzen sich daraus in ihren erhitzten Gehirnen die Welt zusammen. Als sie hören, ein russischer Junge sei entführt worden, um für das jüdische Osterfest geopfert zu werden, sorgen sie sich: um sich und den anderen - weil sie glauben, nur sie selbst seien Juden.Aus dem Russischen von Elke Erb unter Mitwirkung von Sergej Gladkich
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2014Wenn russische Jungs von Marilyn Monroe träumen
Sprachgewaltig und spitzfindig: Oleg Jurjew komponiert seinen Roman "Halbinsel Judatin" neu
Dass man sein kann, wer und was man will, ist ein amerikanischer Traum, der vor dem Hintergrund der sowjetischen Realität zu westlichem Flitter zerfiel. In Billy Wilders Film "Manche mögen's heiß" gaukeln die Hauptakteure aus mehr oder weniger ehrbaren Gründen stets vor, jemand anderer zu sein, und werden am Ende doch für das geliebt, was sie sind. "Nobody is perfect", meinte der Millionär Osgood gelassen, als sich seine angebetete Lady als männlicher Jerry entpuppte, der Liebe tat's keinen Abbruch.
Der Film war wohl in der Sowjetunion der achtziger Jahre ein Renner. In Oleg Jurjews nach Überarbeitung durch den Autor neu aufgelegtem Roman "Halbinsel Judatin" durchkreuzen er und vor allem seine Hauptdarstellerin Marilyn Monroe die Tagträume zweier Dreizehnjähriger, die fieberkrank in einem alten Packhaus liegen. Das stammt noch aus den Zeiten Peters des Großen, als der von dieser fiktiven Insel Judatin aus Baumaterial für sein neues Rom an die Newa-Mündung transportieren ließ.
Es sind die Tage vor dem russischen Osterfest 1985. Im fernen Moskau stirbt der greise Parteichef Tschernenko; was von seinem Nachfolger zu halten ist, weiß man noch nicht. Dass mit diesem Gorbatschow das sowjetische Imperium schon bald seinem Untergang entgegenrasen sollte, ahnt im russisch-finnischen Grenzgebiet jedenfalls keiner. Im Sperrgebiet herrscht der allgemeine Schlendrian der späten Sowjet-Ära. Die Kinder tauschen bei durchreisenden finnischen Touristen Sowjetabzeichen gegen Kaugummis oder Bibeln ein. Die Zigeuner, die von den sowjetischen Behörden in einer Pelztierkolchose vergeblich sesshaft gemacht werden sollten, ziehen pünktlich im Frühjahr wieder ins Nomadendasein davon, kein Fünfjahresplan kann sie aufhalten. Die hehren Ziele des Sozialismus haben sich im Rausch aus billigem Fusel verflüchtigt. Selbst die Grenztruppen sind nicht mehr, was sie mal waren.
Hin und wieder verschwinden Inselbewohner, unlängst zwei Lehrerinnen. Dass es sich um eine Flucht in den Westen handeln könnte, wird tunlichst verschwiegen. Derzeit sucht man angeblich einen russischen Jungen, die Leute munkeln, Juden könnten ihn gekidnappt haben, als Opfergabe zum Pessachfest. Pogromstimmung liegt in der Luft.
Vielleicht hatte der 1959 im damaligen Leningrad geborene Oleg Jurjew die Sentenz französisch-jüdischen Philosophen Jacques Derrida, man sei umso mehr Jude, je weniger man einer sei, im Sinn, als er 1999 seinen Roman über zwei jüdische Daseinsweisen veröffentlichte - über einen Marranen und über einen säkularen, ungläubigen Juden. Der Marrane ist als unter dem Druck der Assimilierung im Spanien und Portugal der Reconquista zum Christentum übergetretener Israelit eine zentrale Identifikationsfigur bei Derrida. Sie steht dafür, dass wir nie ganz mit uns identisch, also nie ganz das sind, was Kultur, Geschichte und Gesellschaft aus uns gemacht haben.
Jurjew, als Jude in der Sowjetunion sozialisiert und seit 1991 als russisch schreibender Schriftsteller in Deutschland lebend, ist Experte, wenn es um komplizierte Fragen der Identität geht. Als Jude, als Dichter, als Intellektueller war er, wie er in der Dankesrede für den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil sagte, in seinem Herkunftsland gleich mehrfach in der Diaspora. Die sowjetische Realität habe er auch deshalb nur als trüben Film wahrgenommen, der das wirkliche Leben umhüllte.
Ähnlich ergeht es seinen beiden Helden, aus deren Erinnerungen und vom Fieber getrübten Eindrücken der Außenwelt zwei miteinander verflochtene Monologe entstehen. Im Packhaus leben die Judatas: Oma Raja und deren dreizehnjähriger Enkel, seine älteren Schwestern und der geistig behinderte Jascha. Sie führen ihren Stammbaum auf spanische Marranen zurück, Kryptojuden, die unter sagenumwobenen Umständen in den Norden Russlands gelangten und unter Nikolaus I. dem Druck zur Russifizierung nachgaben, sich insgeheim aber als Hüter jüdischer Riten und Gebote betrachteten. Die alte semitische Sprache haben sie längst verloren; was sich erhalten hat, ist krude mündlich überliefert oder einer entwendeten Bibel aus vorrevolutionären Zeiten entnommen.
Rajas Enkel muss fiebernd das Bett hüten, die Folgen seiner späten Beschneidung werden mit Mohnsalbe und Mohntrunk auskuriert. Der rasende Bewusstseinsstrom des Jungen, in dem er nicht nur über die Lebenswelt von Judatin, sondern auch über den Auszug der Juden aus Ägypten, das Pessachfest, den Propheten Elias und die Aufschüttung eines Berges Sinai auf Judatin phantasiert, verwebt sich in der nun von Jurjew neu komponierten Version seines Romans mit dem seines Doppelgängers Jasytschkin, der eine Etage tiefer mit einer Grippe flachliegt. Der ist ein waschechter Leningrader und säkularer Jude, ein "irrgläubiger Heide", wie sein Name im Russischen besagt, der nicht einmal weiß, was Hebräer sind, wenn ihn seine Klassenkameraden als solchen beschimpfen. Beide Knaben glauben, der jeweils andere sei der angeblich von Juden gekidnappte Junge, keiner weiß vom Jüdischsein des anderen.
Wer von den beiden Jungen ist nun Jude oder wer mehr und wer weniger? Der fiebernde Marrane, dessen Großmutter glaubt, sie seien die Letzten ihres Volkes, oder der Säkulare, der keine Ahnung über seine Herkunft hat, im sowjetischen Alltag aber stets dafür gehänselt wird? In der bigotten Welt der sowjetischen Mimikry tragen beide in sich das Geheimnis über ihre Identität, zu dem sie keinen Zugang mehr haben, obwohl es ihr Leben bestimmt "Judatin" hat im Deutschen einen recht harmlosen Klang, im Russischen steckt darin ein böses antisemitisches Schimpfwort. Elke Erb und Sergej Gladkich haben ihr Bestes gegeben, diesen von Wortkaskaden, zeitgeschichtlichen und biblischen Zitaten oder Persiflagen überquellenden Text in ein musikalisch vibrierendes Deutsch zu bringen, das dem sprachgewaltigen zweistimmigen Original gerecht wird. Manchmal hätte man sich ein Glossar gewünscht, doch Autor und Verlag haben sich offensichtlich für den mündigen Leser entschieden. Nobody is perfect.
SABINE BERKING.
Oleg Jurjew. "Halbinsel Judatin". Roman. Vom Autor neugeordnete Fassung.
Aus dem Russischen von Elke Erb, Mitarbeit Sergej Gladkich. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2014. 300 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprachgewaltig und spitzfindig: Oleg Jurjew komponiert seinen Roman "Halbinsel Judatin" neu
Dass man sein kann, wer und was man will, ist ein amerikanischer Traum, der vor dem Hintergrund der sowjetischen Realität zu westlichem Flitter zerfiel. In Billy Wilders Film "Manche mögen's heiß" gaukeln die Hauptakteure aus mehr oder weniger ehrbaren Gründen stets vor, jemand anderer zu sein, und werden am Ende doch für das geliebt, was sie sind. "Nobody is perfect", meinte der Millionär Osgood gelassen, als sich seine angebetete Lady als männlicher Jerry entpuppte, der Liebe tat's keinen Abbruch.
Der Film war wohl in der Sowjetunion der achtziger Jahre ein Renner. In Oleg Jurjews nach Überarbeitung durch den Autor neu aufgelegtem Roman "Halbinsel Judatin" durchkreuzen er und vor allem seine Hauptdarstellerin Marilyn Monroe die Tagträume zweier Dreizehnjähriger, die fieberkrank in einem alten Packhaus liegen. Das stammt noch aus den Zeiten Peters des Großen, als der von dieser fiktiven Insel Judatin aus Baumaterial für sein neues Rom an die Newa-Mündung transportieren ließ.
Es sind die Tage vor dem russischen Osterfest 1985. Im fernen Moskau stirbt der greise Parteichef Tschernenko; was von seinem Nachfolger zu halten ist, weiß man noch nicht. Dass mit diesem Gorbatschow das sowjetische Imperium schon bald seinem Untergang entgegenrasen sollte, ahnt im russisch-finnischen Grenzgebiet jedenfalls keiner. Im Sperrgebiet herrscht der allgemeine Schlendrian der späten Sowjet-Ära. Die Kinder tauschen bei durchreisenden finnischen Touristen Sowjetabzeichen gegen Kaugummis oder Bibeln ein. Die Zigeuner, die von den sowjetischen Behörden in einer Pelztierkolchose vergeblich sesshaft gemacht werden sollten, ziehen pünktlich im Frühjahr wieder ins Nomadendasein davon, kein Fünfjahresplan kann sie aufhalten. Die hehren Ziele des Sozialismus haben sich im Rausch aus billigem Fusel verflüchtigt. Selbst die Grenztruppen sind nicht mehr, was sie mal waren.
Hin und wieder verschwinden Inselbewohner, unlängst zwei Lehrerinnen. Dass es sich um eine Flucht in den Westen handeln könnte, wird tunlichst verschwiegen. Derzeit sucht man angeblich einen russischen Jungen, die Leute munkeln, Juden könnten ihn gekidnappt haben, als Opfergabe zum Pessachfest. Pogromstimmung liegt in der Luft.
Vielleicht hatte der 1959 im damaligen Leningrad geborene Oleg Jurjew die Sentenz französisch-jüdischen Philosophen Jacques Derrida, man sei umso mehr Jude, je weniger man einer sei, im Sinn, als er 1999 seinen Roman über zwei jüdische Daseinsweisen veröffentlichte - über einen Marranen und über einen säkularen, ungläubigen Juden. Der Marrane ist als unter dem Druck der Assimilierung im Spanien und Portugal der Reconquista zum Christentum übergetretener Israelit eine zentrale Identifikationsfigur bei Derrida. Sie steht dafür, dass wir nie ganz mit uns identisch, also nie ganz das sind, was Kultur, Geschichte und Gesellschaft aus uns gemacht haben.
Jurjew, als Jude in der Sowjetunion sozialisiert und seit 1991 als russisch schreibender Schriftsteller in Deutschland lebend, ist Experte, wenn es um komplizierte Fragen der Identität geht. Als Jude, als Dichter, als Intellektueller war er, wie er in der Dankesrede für den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil sagte, in seinem Herkunftsland gleich mehrfach in der Diaspora. Die sowjetische Realität habe er auch deshalb nur als trüben Film wahrgenommen, der das wirkliche Leben umhüllte.
Ähnlich ergeht es seinen beiden Helden, aus deren Erinnerungen und vom Fieber getrübten Eindrücken der Außenwelt zwei miteinander verflochtene Monologe entstehen. Im Packhaus leben die Judatas: Oma Raja und deren dreizehnjähriger Enkel, seine älteren Schwestern und der geistig behinderte Jascha. Sie führen ihren Stammbaum auf spanische Marranen zurück, Kryptojuden, die unter sagenumwobenen Umständen in den Norden Russlands gelangten und unter Nikolaus I. dem Druck zur Russifizierung nachgaben, sich insgeheim aber als Hüter jüdischer Riten und Gebote betrachteten. Die alte semitische Sprache haben sie längst verloren; was sich erhalten hat, ist krude mündlich überliefert oder einer entwendeten Bibel aus vorrevolutionären Zeiten entnommen.
Rajas Enkel muss fiebernd das Bett hüten, die Folgen seiner späten Beschneidung werden mit Mohnsalbe und Mohntrunk auskuriert. Der rasende Bewusstseinsstrom des Jungen, in dem er nicht nur über die Lebenswelt von Judatin, sondern auch über den Auszug der Juden aus Ägypten, das Pessachfest, den Propheten Elias und die Aufschüttung eines Berges Sinai auf Judatin phantasiert, verwebt sich in der nun von Jurjew neu komponierten Version seines Romans mit dem seines Doppelgängers Jasytschkin, der eine Etage tiefer mit einer Grippe flachliegt. Der ist ein waschechter Leningrader und säkularer Jude, ein "irrgläubiger Heide", wie sein Name im Russischen besagt, der nicht einmal weiß, was Hebräer sind, wenn ihn seine Klassenkameraden als solchen beschimpfen. Beide Knaben glauben, der jeweils andere sei der angeblich von Juden gekidnappte Junge, keiner weiß vom Jüdischsein des anderen.
Wer von den beiden Jungen ist nun Jude oder wer mehr und wer weniger? Der fiebernde Marrane, dessen Großmutter glaubt, sie seien die Letzten ihres Volkes, oder der Säkulare, der keine Ahnung über seine Herkunft hat, im sowjetischen Alltag aber stets dafür gehänselt wird? In der bigotten Welt der sowjetischen Mimikry tragen beide in sich das Geheimnis über ihre Identität, zu dem sie keinen Zugang mehr haben, obwohl es ihr Leben bestimmt "Judatin" hat im Deutschen einen recht harmlosen Klang, im Russischen steckt darin ein böses antisemitisches Schimpfwort. Elke Erb und Sergej Gladkich haben ihr Bestes gegeben, diesen von Wortkaskaden, zeitgeschichtlichen und biblischen Zitaten oder Persiflagen überquellenden Text in ein musikalisch vibrierendes Deutsch zu bringen, das dem sprachgewaltigen zweistimmigen Original gerecht wird. Manchmal hätte man sich ein Glossar gewünscht, doch Autor und Verlag haben sich offensichtlich für den mündigen Leser entschieden. Nobody is perfect.
SABINE BERKING.
Oleg Jurjew. "Halbinsel Judatin". Roman. Vom Autor neugeordnete Fassung.
Aus dem Russischen von Elke Erb, Mitarbeit Sergej Gladkich. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2014. 300 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mündig sollte der Leser schon sein, meint Sabine Berking angesichts der, wie sie findet, von Elke Erb und Sergej Gladkich bewundernswert ins Deutsche übertragenen Sprachgewalt dieses 1999 erschienenen, nun überarbeiteten Romans mit seinen Wortkaskaden, biblischen Zitaten und Persiflagen. Dem Geheimnis der Identität kommt Berking also auch ohne Glossar auf die vom Autor Oleg Jurjew auslegte Spur. Rasenden Bewusstseinsströmen zweier Dreizehnjähriger folgend, die während der späten Sowjet-Ära im russisch-finnischen Grenzgebiet stranden, lernt die Rezensentin, was es heißt in dieser Zeit und Gegend ein Kryptojude zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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