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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2007So starb Biafra
Jeder kennt "Biafra-Kinder": als den Inbegriff von Hunger und Elend. Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie erzählt vom Ende des Landes Biafra.
Ob eine halbe Sonne gerade unter- oder aufgeht, ist wohl keine Ansichtssache. Auch in revolutionären Zeiten bleibt der Lauf der Sternenwelt menschlichem Zugriff oder Urteil prinzipiell entzogen. In einer politischen Bilderwelt aber gelten andere Gewissheiten. Wenn daher eine junge Nation, die sich im revolutionären Aufbruch just formiert, die Hälfte der Sonne auf ihre neugeschaffene Staatsflagge setzt, ist die intendierte Botschaft klar und soll strahlende Zukunftsaussichten verheißen. Und falls die Wirklichkeit sich weigern sollte, dieser optimistischen Lesart zu folgen, findet sich gewiss ein junger Nationaldichter, der ein paar glühende Verse beisteuert, um alles klarzustellen: "Wenn die Sonne nicht aufgehen will, so werden wir sie dazu bringen." Was aber, wenn sie sich nicht bringen lässt? "Die Hälfte der Sonne", Chimamanda Ngozi Adichies neuer Roman, erkundet, was in diesem Fall geschieht. In einem episch breiten Historienpanorama zeigt er, wie Aufbruchshoffnungen in blutige Untergangsszenarien umschlagen.
Die halbe Sonne zierte einst die Flagge von Biafra, jener selbstbewussten jungen Nation im Südosten Nigerias, die sich 1967 vom Zentralstaat unabhängig erklärte und dafür in einem dreijährigen Krieg, geführt mit schweren Luftangriffen und äußerster Gewalt, in die Knie gezwungen wurde. Vorausgegangen waren Massaker in Nordnigeria und Säuberungsaktionen, mit denen nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit vom Kolonialismus die ethnischen wie religiösen Konflikte, deren Spannungen die Fremdherrschaft lange zu nutzen gewusst hatte, grausam eskalierten. Der Biafra-Krieg, der eine Million Menschenleben forderte und weitere drei Millionen Flüchtlinge, war einer der ersten und schwersten Konflikte im postkolonialen Afrika; das "Biafra-Kind" galt seinerzeit als Inbegriff von Hunger und Elend in der Dritten Welt.
Heute, vierzig Jahre und viele Kriege später, ist all das im zeitgeschichtlichen Bewusstsein kaum mehr präsent. Es ist daher verdienstvoll, dass sich jetzt ein historischer Roman mit Ernst und Fleiß des Themas annimmt. Die Autorin, Jahrgang 1977 und seit knapp zehn Jahren in den Vereinigten Staaten lebend, stammt selbst aus einer Igbo-Familie, die damals Angehörige im Krieg verloren hat. Aus Sicht der nachgeborenen Generation, auf der Basis gründlicher Recherchen und doch mit Mitteln der Fiktion unternimmt sie es nun, die unverwundene Vergangenheit ihres Landes aufs Neue zu vergegenwärtigen. Dazu erfindet sie eine Reihe von Figuren, an deren persönlichem Schicksal sich die Visionen wie die Debatten, die Hoffnungen wie die Konflikte jener Zeit auch für Leser, die von all dem nicht viel wissen, nacherleben lassen. Zugleich will sie jedoch die konkreten Situationen immer wieder ins Grundsätzliche ausweiten, um zu zeigen, dass solche Entwicklungen - Beziehungsprobleme wie politische Zerwürfnisse und Greuel - sich auch andernorts zutragen können.
Die Handlung setzt in den frühen sechziger Jahren ein, als die Euphorie der Unabhängigkeit das Land und insbesondere seine Intellektuellen wie in einen Taumel von Tatkraft und Zukunftsenergie versetzt. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, Zwillingsschwestern aus der besseren Gesellschaft von Lagos, die allerdings das bequeme Leben in der neuformierten Wohlstands-Elite, das ihnen die Eltern bieten, zugunsten eigener Ideale ablehnen. Dazu lassen sie sich jeweils mit sehr unterschiedlichen Männern ein: Olanna mit einem charismatischen Universitätsdozenten, Patrioten und leidenschaftlichen Debattierer, der seiner Leidenschaft auch sonst oft allzu freien Lauf lässt; Kainene mit einem englischen Schriftsteller und Ethnologen, eher schüchtern und gehemmt, dem seine Liebe zur Kultur der Igbos zu einer neuen Identität verhilft. Die erotischen wie sonstigen Verwicklungen, in die sie bald geraten, werden über weite Strecken aus der Sicht eines Hausboys erzählt, der als einfacher Dorfjunge all dem staunend und bewundernd folgt. Doch die eigentlichen Dramen beginnen mit dem Kriegsgeschehen, das ihre gesamte Welt mit Wucht erschüttert und die Grundfesten, auf der sie ihre Zukunft bauen wollten, wie über Nacht zum Einsturz bringt. In grausig detaillierten Szenen werden Massaker, Fronterlebnisse und Flüchtlingselend ausgebreitet. Doch erschütternder sind letztlich Szenen, in denen der Alltag im Schatten einer völlig unbegriffenen Gewalt geschildert wird. Wenn eine alte Frau sich weigert, ihr Haus zu verlassen, weil sie nur dort Geborgenheit erleben kann und doch dafür ihr Leben lässt, oder wenn der Hausboy aus den kärglichsten Einkäufen doch noch etwas Gutes kochen will, um wenigstens den Familienfrieden wiederherzustellen, begreifen wir den Kriegswahnsinn just durch seine Unbegreiflichkeit.
Trotz etlicher Momente dieser Art folgt man aber diesem langen Roman insgesamt mehr mit Respekt für sein ehrenwertes Anliegen als mit Spannung oder Überzeugung. Denn wie schon in ihrem Debüt "Blauer Hibiskus" (2005) zeigt die Autorin sich in den Mitteln des Erzählens, die sie einsetzt, sehr klar auf Erfolg zielend und doch eher begrenzt. Vielleicht ist das der Preis, den Leser für Produkte von "Creative Writing"-Programmen entrichten müssen. Doch der gefühlte Vorsatz, nur alles richtig zu machen und das große Thema bloß nicht zu verfehlen, wirkt etwas wie die Haltung einer Klassenbesten, die sich bewähren will. Dabei bewährt historische Fiktion sich einzig an der Dringlichkeit, mit der entlegene Figuren für uns plötzlich zu Zeitgenossen werden. Dafür bleibt ihre Charakterisierung hier aber zu schematisch, der historische Rahmen allzu pflichtgemäß präsent. Auch für international erfolgreiche Nachwuchstalente ist es offenbar nicht einfach, die Sonne vorsätzlich zum Aufgehen zu bringen.
TOBIAS DÖRING
Chimamanda Ngozi Adichie: "Die Hälfte der Sonne". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Judith Schwab. Luchterhand Verlag, München 2007. 638 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jeder kennt "Biafra-Kinder": als den Inbegriff von Hunger und Elend. Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie erzählt vom Ende des Landes Biafra.
Ob eine halbe Sonne gerade unter- oder aufgeht, ist wohl keine Ansichtssache. Auch in revolutionären Zeiten bleibt der Lauf der Sternenwelt menschlichem Zugriff oder Urteil prinzipiell entzogen. In einer politischen Bilderwelt aber gelten andere Gewissheiten. Wenn daher eine junge Nation, die sich im revolutionären Aufbruch just formiert, die Hälfte der Sonne auf ihre neugeschaffene Staatsflagge setzt, ist die intendierte Botschaft klar und soll strahlende Zukunftsaussichten verheißen. Und falls die Wirklichkeit sich weigern sollte, dieser optimistischen Lesart zu folgen, findet sich gewiss ein junger Nationaldichter, der ein paar glühende Verse beisteuert, um alles klarzustellen: "Wenn die Sonne nicht aufgehen will, so werden wir sie dazu bringen." Was aber, wenn sie sich nicht bringen lässt? "Die Hälfte der Sonne", Chimamanda Ngozi Adichies neuer Roman, erkundet, was in diesem Fall geschieht. In einem episch breiten Historienpanorama zeigt er, wie Aufbruchshoffnungen in blutige Untergangsszenarien umschlagen.
Die halbe Sonne zierte einst die Flagge von Biafra, jener selbstbewussten jungen Nation im Südosten Nigerias, die sich 1967 vom Zentralstaat unabhängig erklärte und dafür in einem dreijährigen Krieg, geführt mit schweren Luftangriffen und äußerster Gewalt, in die Knie gezwungen wurde. Vorausgegangen waren Massaker in Nordnigeria und Säuberungsaktionen, mit denen nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit vom Kolonialismus die ethnischen wie religiösen Konflikte, deren Spannungen die Fremdherrschaft lange zu nutzen gewusst hatte, grausam eskalierten. Der Biafra-Krieg, der eine Million Menschenleben forderte und weitere drei Millionen Flüchtlinge, war einer der ersten und schwersten Konflikte im postkolonialen Afrika; das "Biafra-Kind" galt seinerzeit als Inbegriff von Hunger und Elend in der Dritten Welt.
Heute, vierzig Jahre und viele Kriege später, ist all das im zeitgeschichtlichen Bewusstsein kaum mehr präsent. Es ist daher verdienstvoll, dass sich jetzt ein historischer Roman mit Ernst und Fleiß des Themas annimmt. Die Autorin, Jahrgang 1977 und seit knapp zehn Jahren in den Vereinigten Staaten lebend, stammt selbst aus einer Igbo-Familie, die damals Angehörige im Krieg verloren hat. Aus Sicht der nachgeborenen Generation, auf der Basis gründlicher Recherchen und doch mit Mitteln der Fiktion unternimmt sie es nun, die unverwundene Vergangenheit ihres Landes aufs Neue zu vergegenwärtigen. Dazu erfindet sie eine Reihe von Figuren, an deren persönlichem Schicksal sich die Visionen wie die Debatten, die Hoffnungen wie die Konflikte jener Zeit auch für Leser, die von all dem nicht viel wissen, nacherleben lassen. Zugleich will sie jedoch die konkreten Situationen immer wieder ins Grundsätzliche ausweiten, um zu zeigen, dass solche Entwicklungen - Beziehungsprobleme wie politische Zerwürfnisse und Greuel - sich auch andernorts zutragen können.
Die Handlung setzt in den frühen sechziger Jahren ein, als die Euphorie der Unabhängigkeit das Land und insbesondere seine Intellektuellen wie in einen Taumel von Tatkraft und Zukunftsenergie versetzt. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, Zwillingsschwestern aus der besseren Gesellschaft von Lagos, die allerdings das bequeme Leben in der neuformierten Wohlstands-Elite, das ihnen die Eltern bieten, zugunsten eigener Ideale ablehnen. Dazu lassen sie sich jeweils mit sehr unterschiedlichen Männern ein: Olanna mit einem charismatischen Universitätsdozenten, Patrioten und leidenschaftlichen Debattierer, der seiner Leidenschaft auch sonst oft allzu freien Lauf lässt; Kainene mit einem englischen Schriftsteller und Ethnologen, eher schüchtern und gehemmt, dem seine Liebe zur Kultur der Igbos zu einer neuen Identität verhilft. Die erotischen wie sonstigen Verwicklungen, in die sie bald geraten, werden über weite Strecken aus der Sicht eines Hausboys erzählt, der als einfacher Dorfjunge all dem staunend und bewundernd folgt. Doch die eigentlichen Dramen beginnen mit dem Kriegsgeschehen, das ihre gesamte Welt mit Wucht erschüttert und die Grundfesten, auf der sie ihre Zukunft bauen wollten, wie über Nacht zum Einsturz bringt. In grausig detaillierten Szenen werden Massaker, Fronterlebnisse und Flüchtlingselend ausgebreitet. Doch erschütternder sind letztlich Szenen, in denen der Alltag im Schatten einer völlig unbegriffenen Gewalt geschildert wird. Wenn eine alte Frau sich weigert, ihr Haus zu verlassen, weil sie nur dort Geborgenheit erleben kann und doch dafür ihr Leben lässt, oder wenn der Hausboy aus den kärglichsten Einkäufen doch noch etwas Gutes kochen will, um wenigstens den Familienfrieden wiederherzustellen, begreifen wir den Kriegswahnsinn just durch seine Unbegreiflichkeit.
Trotz etlicher Momente dieser Art folgt man aber diesem langen Roman insgesamt mehr mit Respekt für sein ehrenwertes Anliegen als mit Spannung oder Überzeugung. Denn wie schon in ihrem Debüt "Blauer Hibiskus" (2005) zeigt die Autorin sich in den Mitteln des Erzählens, die sie einsetzt, sehr klar auf Erfolg zielend und doch eher begrenzt. Vielleicht ist das der Preis, den Leser für Produkte von "Creative Writing"-Programmen entrichten müssen. Doch der gefühlte Vorsatz, nur alles richtig zu machen und das große Thema bloß nicht zu verfehlen, wirkt etwas wie die Haltung einer Klassenbesten, die sich bewähren will. Dabei bewährt historische Fiktion sich einzig an der Dringlichkeit, mit der entlegene Figuren für uns plötzlich zu Zeitgenossen werden. Dafür bleibt ihre Charakterisierung hier aber zu schematisch, der historische Rahmen allzu pflichtgemäß präsent. Auch für international erfolgreiche Nachwuchstalente ist es offenbar nicht einfach, die Sonne vorsätzlich zum Aufgehen zu bringen.
TOBIAS DÖRING
Chimamanda Ngozi Adichie: "Die Hälfte der Sonne". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Judith Schwab. Luchterhand Verlag, München 2007. 638 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Vividly written, thrumming with life...a remarkable novel. In its compassionate intelligence as in its capacity for intimate portraiture, this novel is a worthy successor to such twentieth-century classics as Chinua Achebe's "Things Fall Apart" and V. S. Naipaul's "A Bend in the River".' Joyce Carol Oates
'Here is a new writer endowed with the gift of ancient storytellers.' Chinua Achebe
'I look with awe and envy at this young woman from Africa who is recording the history of her country. She is fortunate - and we, her readers, are even luckier.' Edmund White
'Absolutely awesome. One of the best books I've ever read.' Judy Finnigan
'[Deserves] a place alongside such works as Pat Barker's "Regeneration" trilogy and Helen Dunmore's depiction of the Leningrad blockade, "The Siege".' Guardian
'Here is a new writer endowed with the gift of ancient storytellers.' Chinua Achebe
'I look with awe and envy at this young woman from Africa who is recording the history of her country. She is fortunate - and we, her readers, are even luckier.' Edmund White
'Absolutely awesome. One of the best books I've ever read.' Judy Finnigan
'[Deserves] a place alongside such works as Pat Barker's "Regeneration" trilogy and Helen Dunmore's depiction of the Leningrad blockade, "The Siege".' Guardian