Sehr guter Start, spannendes Mittel, enttäuschendes Ende
Ein eigenartiges, faszinierendes Buch, das auf langsame Erkenntnis setzt – man muss es achtsam genießen - wie einen guten Whisky, bei dem es sträflich wäre, ihn einfach hinunterzukippen. Die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschmelzen
in dem Buch, das Reisende von Peking nach Moskau begleitet – auf einer sehr, sehr langen Fahrt mit…mehrSehr guter Start, spannendes Mittel, enttäuschendes Ende
Ein eigenartiges, faszinierendes Buch, das auf langsame Erkenntnis setzt – man muss es achtsam genießen - wie einen guten Whisky, bei dem es sträflich wäre, ihn einfach hinunterzukippen. Die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschmelzen in dem Buch, das Reisende von Peking nach Moskau begleitet – auf einer sehr, sehr langen Fahrt mit der Transsib. Zwischen den beiden Metropolen liegt das Ödland, eine gefährliche einsame Gegend, vor der sich alle fürchten – nicht nur die Reisenden, sondern auch das Personal im Zug. Hier verbergen sich dunkle Geheimnisse, die Stewards, Ingenieure und Heizer genauso zum Zittern bringen, wie die Reisenden, die ein Dreivierteljahr darauf gewartet haben, dass der Zug, der – zumindest in der 1. Klasse – alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten bietet – endlich wieder fährt. Etwas ist damals geschehen. Doch was genau, das weiß niemand. Niemand erinnert sich, weder die Reisenden noch das Personal. Die Scheiben sind geborsten, aber was geschah danach? Anna, die Tochter des Glasmachers, will es genau wissen. Unter falscher Identität steigt sie in den Zug, um die Ehre ihres Vaters, der an der Schmach zerbrach, wiederherzustellen.
Der Roman spielt am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert. Die Autorin taucht tief in den Zeitgeist ein, an der Schwelle der Moderne, an der Aberglaube und Wissenschaft aufeinanderprallen. Ich habe vor langer Zeit mal einen Roman gelesen, der zur Zeit der Aufklärung spielt, es geht um Kant, die Selbstverständlichkeit des eigenen Willens, was mit einer schrecklichen Krankheit gleichgesetzt wird, die sich wie eine Seuche ausbreitet. Das war sehr faszinierend - dieses Buch erinnert mich daran. Allerdings bietet Sarah Brooks anders als Wolfram Fleischhauer in seinem Roman „Das Buch, in dem die Welt verschwand“, keine logische Erklärung, sondern gleitet immer mehr in die Welt der Fantasie ab, eine Vorgehensweise, die der Handlung meiner Meinung nach nicht gutgetan hat. Ich habe das Buch über weite Strecken sehr gern gelesen, es hat etwas Entschleunigendes und gibt einen guten Einblick in die Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das letzte Viertel allerdings enttäuschte mich schwer. Die Grundidee hatte so viel Potenzial, so viele Wendungen wären möglich gewesen - und auch ein anderes, glaubhafteres, weniger schwülstiges Ende.