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Die große neue Biografie »Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach - denken.« Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustinus bis hin zum unvollendeten Opus magnum »Vom Leben des Geistes« nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die die Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und…mehr

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Produktbeschreibung
Die große neue Biografie »Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach - denken.« Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustinus bis hin zum unvollendeten Opus magnum »Vom Leben des Geistes« nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die die Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen »Arendt« verständlicher.

Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.

Autorenporträt
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er gibt im Piper Verlag die Schriften Hannah Arendts in einer Studienausgabe heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Für Heidegger hatte sie halbherzige Entschuldigungen zur Hand

Ein Standardwerk sieht anders aus: Thomas Meyer legt eine Biographie Hannah Arendts vor, die zwar

einiges Neues bietet, aber im Ganzen nicht überzeugen kann.

Von Wolfgang Matz

Von Wolfgang Matz

Eine neue Biographie über Hannah Arendt ist ein Ereignis, liegt doch das Standardwerk von Elisabeth Young-Bruehl bereits vier Jahrzehnte zurück. Die "Arendt-Renaissance" wurde in der Zwischenzeit zur regelrechten Mode, und die Forschung hat viel ans Licht gebracht, wozu die neue Darstellung durch Thomas Meyer noch Weiteres beiträgt. Der Rezensent muss allerdings anfügen, dass er bei fortschreitender Lektüre einiges Missbehagen zu überwinden hatte, das zu überwinden ihm nicht leichtfiel. Das beginnt mit dem großspurigen Alleinvertretungsanspruch "Die Biografie" und endet nicht bei der ebenfalls reichlich besitzergreifenden Erklärung, dass die ebenfalls von Meyer herausgegebenen Studienausgaben von Arendts eigenen Büchern mit der nun vorliegenden Biographie "eine Einheit" bildeten.

Der umfassende Gestus widerspricht auch merkwürdig dem erklärten Programm, denn die Biographie "konzentriert sich auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerks 'Origins of Totalitarianism'". Für diese Schwerpunkte gibt es gute Gründe, davon später; zunächst aber führt die Entscheidung zu Lückenhaftigkeit, auch zu einer sprunghaften, manchmal wirren Chronologie, in der die Orientierung schwerfällt.

Was die Lektüre mühsam macht, das ist vor allem die Sprachgestalt mit einem Spektrum von reiner Schlamperei ("Gadamer, der 1922 von Natorp promoviert worden war, Leo Strauss, der dies nahezu zeitgleich bei Ernst Cassirer in Hamburg getan hatte") über grammatische Barbarismen ("daher wählte Heidegger ein ganzes Ensemble an Wörtern, deren Schwerblütigkeit er sich zunutze machte und damit dem Zeitgeist ein gefundenes Fressen lieferte") bis hin zu zahllosen Passagen, in denen sprachliche Unzulänglichkeit zu gedanklicher wird. "Die Klugheit, die sich nicht beweisen muss, denn im Gespräch, im Austausch, die reine Mündlichkeit auszuhalten, wo doch sie immer die gemachten Erfahrungen reflektiert, konnotiert, dem 'Verstehenmüssen' nachzugehen versucht, gerade dort, wo es sie und andere schmerzt, ist eine der Leistungen Arendts, weil die Zusammenfügung von Privatem und Öffentlichem keinen Mehrwert für den ergibt, der draußen agiert." Wer soll, wer kann das verstehen?

Oder das Resümee von Arendts Camus-Lektüre: "Er weiß, dass die Opfer und die Überlebenden so nicht sprechen konnten und so nicht sprechen würden. Die Einsicht war denen aufgezwungen, die so taten, als hätte es den 'Lauf der Geschichte' gegeben, und das wollte Camus nicht akzeptieren." Auch der Kontext erhellt nirgendwo, von wem oder was da die Rede sein soll. Dabei handelt es sich hier und an allzu vielen anderen Stellen keineswegs um eine notwendig komplexe Fachterminologie, sondern ganz einfach um die Beherrschung der deutschen Sprache. Man staunt, dass kein Vorableser inner- und außerhalb des Verlags hier nicht irgendwann die Reißleine gezogen hat.

All das ist umso bedauerlicher, als es immer wieder den Blick auf das verstellt, was diese neue Biographie an Gewinn mit sich bringen soll. Denn tatsächlich gibt es gute Gründe für die thematische Konzentration, die Meyer wählt. Das gilt für die ausführliche Nachzeichnung von Herkunft und Familie, von Geschäften und Berufen, von religiöser Bindung und Distanz, denn die historische Situation des Königsberger Judentums und darin die familiäre Vorgeschichte ist in diesem Detailreichtum höchst aufschlussreich zum Verständnis von Hannah Arendts späterer, sehr persönlicher Position im Verhältnis von Deutsch- und Judentum, eine Position zwischen den Stühlen, die ihr manchen Konflikt einbrachte.

Und das gilt auch ganz besonders für die genannten Pariser Jahre der Emigration. Hannah Arendts Bedeutung liegt in der Wissenschaft, und deshalb waren bisherige Gesamtdarstellungen vorrangig auf ihre wissenschaftliche Biographie gerichtet. Fast die gesamte Zeit zwischen dem Verlassen Deutschlands und der Übersiedlung in die USA verbrachte Arendt, wie viele andere Emigranten, im krisengeschüttelten Paris der neuen Vorkriegszeit, allerdings gerade nicht mit wissenschaftlicher Arbeit, sondern mit engagiertem Einsatz in der Flüchtlingshilfe. Ihre Tätigkeit im Rahmen der sogenannten Kinder- und Jugend-Alijah, also der organisierten Migration aus der jüdischen Diaspora nach Palästina, ist, folgt man Meyers Recherchen, sehr viel umfangreicher und lebensgeschichtlich bedeutsamer als bisher bekannt. Ein großer Gewinn - doch auch hier: Was soll man dazu sagen, wenn in einer Darstellung, die ausdrücklich ein Hauptgewicht auf diese politisch so heiklen Pariser Jahre legt, eine entscheidende Figur so vorgestellt wird: "General Philippe Pétain, der später an der Spitze der sogenannten Vichy-Regierung im von Deutschland besetzten Teil Frankreichs stehen würde." Vertrauenerweckend ist das nicht.

Die Beziehungen zu den nahen Zeitgenossen, freundschaftlich oder im Konflikt, sind sehr unterschiedlich gewichtet. Über Walter Benjamin, immerhin eine Art Nachbar im Pariser Exil, findet man in diesem Zusammenhang wenig; Adorno taucht irgendwann als "Feind" auf, ohne weitere Erklärung; Gershom Scholem, jahrelang ein prägender Gesprächspartner und Freund, wird gerade im Zusammenhang mit "Eichmann in Jerusalem" nur noch am Rande erwähnt, obwohl gerade er doch nicht nur privat, sondern auch öffentlich einer der schärfsten Kritiker war - was zum Ende der Freundschaft führte.

Gegenbeispiel ist Martin Heidegger. Man mag nicht jeder Schlussfolgerung Meyers folgen, aber hier ist seine Darstellung dem Gegenstand angemessen und gründlich. Heidegger ist die zentrale Figur in Arendts Leben, von den Studienjahren in Marburg und Freiburg, der kurzen Liebesgeschichte über die problematischen Kriegsjahre, das gegenseitige Schweigen bis hin zur späten Wiederannäherung: eine Lebensbeziehung, in der sich persönliche, intime und sachliche Faktoren zuweilen unauflöslich verhedderten; seltsam, dass Elfride Heidegger, die sowohl für diese Beziehung als auch für den Konflikt um Heideggers Nationalsozialismus eine erhebliche Rolle spielte, in der Biographie nicht erwähnt wird.

Die späte Hannah Arendt schwankte zwischen dem öffentlichen Lob Heideggers und privater Kritik: "Er zitiert sich selbst und interpretiert sich, als ob es ein Text aus der Bibel sei. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen." Gerade der biographische Zugang kann deutlich machen, dass auch eine Hannah Arendt dem allzumenschlichen Impuls unterlag und, höchst begreiflich, aus ihrer eigenen privaten Perspektive nicht zu der Distanz fand, die ein wirklich klares Bild von Heidegger möglich gemacht hätte. Heideggers Einsatz für den NS-Staat hatte sie zutiefst verstört, doch waren es letztlich wohl die Jugend- und Lebenserinnerungen, die sie sogar dazu brachten, für das Unentschuldbare nicht nur nach Erklärungen zu suchen, sondern auch nach halbherzigen Entschuldigungen.

Das Fazit ist also sehr gemischt. "Die" Biographie ist Meyers Buch allein schon durch seine selektive Konzeption ganz sicher nicht geworden, und es bleibt fürs Erste bei Young-Bruehls Standardwerk. Auch die offenkundigen Mängel stehen dem Zugang stark im Wege, verdecken leider allzu sehr den Gewinn, der im Zugriff auf neue Dokumente und neue Forschungen liegt und ein Licht wirft auf bisher eher unbekannte Seiten von Hannah Arendts Leben und Werk.

Thomas Meyer: "Hannah Arendt". Die Biografie.

Piper Verlag, München 2023. 528 S., Abb., geb.,

28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eigentlich ist die Bezeichnung "Biografie" für Thomas Meyers Buch über Hannah-Arendt nicht so ganz korrekt, meint Rezensentin Eva von Redecker. Es handele sich vielmehr um eine "philosophische Geschichtsdeutung"; die Redecker gar an das "Passagenwerk" Walter Benjamins Denken lässt. So lässt Meyer ganz nach Benjaminscher Art, die Dokumente im Text selbst sprechen, meint die Kritikerin, verbindet sie zu einer Collage, in der "sensationelle" Quellenfunde Meyers nebeneinanderstehen. Am beeindruckendsten findet Redecker das Archivmaterial, das Arendts Engagement für die zionistische Jugend-Alijah detailliert nachvollziehbar macht und die Rettung hunderter jüdischer Kinder vor den Nationalsozialisten bezeugt. Auch der philosophische Ansatz des Autors, der Arendts Denken mit dem wiederum Benjaminschen Begriff der "Erfahrung" fassen will, findet Zustimmung bei Redecker. Für die Jahre kurz vor Arendts Exil nach Paris betreibt Meyer "Konstellationsforschung auf neuem Niveau", überhaupt ist Redecker beeindruckt vom Kenntnisreichtum und attestiert Meyer "detektivisches Genie" beim Aufzeigen überraschender Zusammenhänge.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Meyer ist eine völlig überraschende Biografie einer intellektuellen Ikone gelungen, der man im Ringen um das Leben anderer so schmerzlich nahekommt wie noch nie.« Zeit Literatur 20231012

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2024

Ein Leben
in Gedanken
Thomas Meyer erzählt nicht einfach die
Biografie Hannah Arendts, er macht sie zur
exemplarischen Philosophin des 20. Jahrhunderts.
VON EVA VON REDECKER
Die Art, wie es Elisabeth Young-Bruehl in ihrer 1982 veröffentlichten Hannah-Arendt-Biografie gelang, ein gelebtes Leben zu einer erzählten Geschichte zu machen, ist bis heute unerreicht. Thomas Meyer versucht in seiner Arendt-Bio klugerweise gar nicht erst, dasselbe Leben noch packender zu erzählen. Er erzählt es vollkommen anders. „Biografie“ ist deshalb genau genommen nicht die beste Bezeichnung für dieses bemerkenswerte Buch. Es ist eher eine philosophische Geschichtsdeutung, ein Passagenwerk. So betitelte Walter Benjamin seinerzeit sein unvollendetes, Paris gewidmetes Opus magnum. Benjamin betrachtete Paris als „die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Vielleicht ist Hannah Arendt so etwas wie die intellektuelle Hauptfigur des 20. Jahrhunderts – in jedem Fall hat sie mit Thomas Meyer jetzt ihren Benjamin’schen Geschichtsschreiber gefunden.
Meyer beginnt mit einer Schiffspassage, der rettenden Fahrt ins New Yorker Exil, die Arendt gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher 1941 von Lissabon aus antrat. Aber es sind nicht die cineastischen Panoramen, denen Meyers Aufmerksamkeit gilt. Stattdessen lernen wir, wer noch alles auf der Passagierliste stand und inwiefern Arendts Name abgewandelt wurde. Und dann hören wir sie selbst. Im Anschluss an die Erläuterung der Überfahrt ist ein zweiseitiger narrativer Lebenslauf abgedruckt, den Arendt aufsetzte, um sich in der Neuen Welt auf Arbeitssuche zu begeben.
Meyer nutzt dieses – dem Genre gemäß ausgesprochen nüchterne – Selbstzeugnis als Scharnierstelle. Es markiert fast auf den Tag genau die Lebensmitte Hannah Arendts. Von hier aus werden ihr Leben und Werk dann über fast 500 Seiten hinweg mit besonderem Schwerpunkt auf das jeweilige Jahrzehnt vor und nach Ankunft in New York rekonstruiert. Es ist nicht ganz leicht, dabei den Überblick zu behalten. Nach einem Vorwort, dem Schiffspassagen-Prolog und einer Einleitung ist das Buch in elf nicht nummerierte Kapitel gegliedert, die zwischen keinem und neun Unterkapitel aufweisen. Letztere variieren in der Länge zwischen anderthalb und 28 Seiten.
Die erste Hälfte der Darstellung verläuft chronologisch, angefangen mit einer besonders beeindruckenden und ausführlichen Aufarbeitung der Arendt‘schen Familiengeschichte in Königsberg. Aber man kommt nur gerade so in New York an, bevor die Darstellung zurück ins Königsberger „Haus der Bücher“ springt, die größte Sortimentsbuchhandlung Europas, die Arendt als Kind besucht haben dürfte. Auf das folgende Sonderkapitel zu Arendts Verhältnis zur Literatur folgen weitere zu öffentlichen Medien, zu Arendts entscheidenden Lehrern, zu einer Reihe ihrer weiteren Werke – und schließlich vor dem Schluss noch ein recht dünner Abschnitt zu „Frauenfragen“.
Die tendenziell formlose Form folgt jedoch einer gewissen methodologischen Stringenz. Denn wie es sich Walter Benjamin für sein Passagenwerk erträumte, bringt Meyer vorwiegend die Dokumente selbst zum Sprechen. Er kommentiert aus einer unendlich scheinenden Wissensfülle schöpfend, geht mit detektivischem Genie Querverbindungen nach, montiert. Die ungewöhnliche Entscheidung des Verlags, alle längeren Zitate entweder kursiv oder in einen Schreibmaschinen-Font zu setzen, verstärkt noch den Eindruck des Collagehaftens. Jede Spur ist von Belang, die Funde stehen neben-, nicht nacheinander.
Mit anderen Worten: Was Meyer an verloren Geglaubtem bergen konnte, ist absolut sensationell. Der bedeutendste Fund ist ein ganzes Konvolut von Quellen, die nun erstmalig Arendts Pariser Tätigkeit für die zionistische Jugend-Alijah näher vor Augen führen. Meyer kann nachweisen, dass Arendt ein eigenes Büro aufbaute, die Verantwortung für die Rettung von über hundert jungen Menschen trug, Berichte und Strategiepapiere schrieb sowie ständig im Austausch mit Behörden, Mitstreiterinnen und Geldgebern um Handlungsspielräume rang.
Konstellationsforschung auf neuem Niveau leistet Meyer auch für die Jahre direkt vor dem Pariser Exil. Die schlecht bewertete Dissertation über Augustinus, die Arendt in Heidegger‘schem Duktus bei Karl Jaspers schrieb, stellt sich plötzlich als eine viel beachtete und einschlägig besprochene Eintrittskarte in das deutsche Geistesleben heraus. Arendts Auseinandersetzung mit der Soziologie Karl Mannheims, die Stefania Maffeis bereits in ihrer Studie „Transnationale Wissenszirkulation“ erschloss, wird ebenfalls gewürdigt. Für die Anfangszeit des New Yorker Exils hebt Meyer besonders die Rolle des Publizisten und Politikwissenschaftlers Waldemar Gurian hervor, außerdem vollzieht er Arendts energisches Engagement in jüdischen Diskussionszusammenhängen nach, die eine föderative, binationale israelische Staatsgründung propagierten.
Nun ist eine Philosophin aber keine Stadt. Und deshalb gibt es in diesem Buch nicht nur die Kartierung von Kontakten, Reiserouten, Rezeptionslinien, sondern auch eine philosophische These darüber, wie sich Arendts Denken zu ihrer Zeit verhielt – oder ihre Zeit in ihr Denken einfloss. Meyers Grundbegriff lautet „Erfahrung“. Das ist abermals ein Benjamin’scher Schlüssel, der aber auch allgemeinsprachlich gut fasst, worum es geht: Dass einem etwas nicht nur zustößt wie einem Stein, sondern dass man es wahrnimmt, verarbeitet und bewahrt. Es gibt eine Sehnsucht nach Gleichzeitigkeit in der Erfahrung: dass es möglich sein soll, etwas mit Haut und Haar zu durchleben und sich zugleich ein stimmiges Bild davon zu machen. „Erfahrene Gegenwärtigkeit“ nennt Meyer Arendts Aufgabenstellung. Sie ist aber angesichts der Shoah, die in der Philosophie nicht vorgesehen war und in der Welt „nicht hätte geschehen dürfen“, eigentlich unmöglich.
„Der Rettung aus Lagern galt Arendts letzte Erinnerung an den Kontinent, aus dem sie soeben geflohen war“, schreibt Meyer. „Die ihr verbleibende Zeit bestand aus so sehr viel mehr und war doch in ihrem Denken und Schreiben mit nichts anderem ausgefüllt, als über das letzte Tau und Signum des 20. Jahrhunderts sich und allen anderen, Späteren Rechenschaft abzulegen.“ Arendt löst die unmögliche Aufgabe, indem sie sich der Erfahrung nicht passiv-kontemplativ stellt, sondern tätig, aus einer widerständigen Praxis heraus. Zuerst, als die Verfolgung schon eingesetzt hatte, aus derjenigen der zionistischen Jugendarbeit, später dann in der Inventarisierung von jüdischen Kulturgütern und endlich aus der intellektuellen Erschließung heraus. Auch die theoretische Arbeit weiß sich dem unweigerlich scheinenden Ablauf des Schreckens entgegenzusetzen. Arendts Darstellung, so hebt Meyer immer wieder hervor, musste „aus der Chronologie der Ereignisse heraustreten“, um ihnen gerecht zu werden. Das Ergebnis ist die große Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, laut Meyer Arendts „erstes und letztes Werk“ (281).
Das stimmt natürlich nicht ganz, zumal Arendt erst nach und nach die philosophischen Kategorien entfaltete, die ihr das Standhalten überhaupt ermöglichten – Young-Bruehl etwa machte die „Amor Mundi“, die Liebe zur Welt, zum Leitmotiv; Juliane Rebentisch nahm jüngst das „Staunen über Pluralität“ zum Ausgangspunkt ihrer Arendt-Neudeutung. Und doch ist Meyers Konzentration auf „das letzte Tau“ in der Mitte absolut stimmig. Genau an diesem Punkt erweist sich, dass Arendt eben wirklich die Philosophin des 20. Jahrhunderts ist.
Meyer bleibt dem Motiv der Passage auch treu, wenn er Arendts vergleichsweise frühen Tod „Das Ende aus der Mitte“ nennt. Das Buch schließt mit einem langen Bericht der New York Times über Arendts Trauerfeier. Darin wird ausführlich die Rede von Mary McCarthy zitiert. So endet übrigens auch Arendts Varnhagen-Biografie: dass die beste Freundin am Bett sitzt und das wahre Bild bezeugt. Im Falle von Arendt und McCarthy lautet es: „Hannah ist der einzige Mensch, den ich je habe denken sehen. (…) Ich werde Ihnen sagen, wie sie es getan hat (…). Sie lag, ohne sich zu bewegen, auf einem Sofa oder Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen, aber gelegentlich geöffnet, um nach oben zu blicken.“ (476)
In ihrem Spätwerk, das Meyer nur streift, beschreibt Arendt das geistige Leben als eine doppelte Vergegenwärtigung: Man sei sich selbst als Gesprächspartnerin präsent. Und man könne andere – auch Abwesende, gar Verstorbene – vergegenwärtigen, damit ihre Perspektive unser Urteil kläre. Auch das ist ein Anarbeiten gegen die Verluste, gegen den Zivilisationsbruch, gegen das Zurücklassen der Freunde, die nicht einschiffen konnten. Eine weit größere Leistung, als Arendt zu aktualisieren, ist wohl, an ihr aufzuzeigen, was es kostet, ganz gegenwärtig zu sein.
Was hier geborgen
werden konnte,
ist sensationell
Das geistige Leben
als eine doppelte
Vergegenwärtigung
„Hannah ist der einzige Mensch, den ich je habe denken sehen“: Hannah Arendt im Jahr 1963.
Foto: IMAGO / Bridgeman Images
Thomas Meyer:
Hannah Arendt.
Piper Verlag,
München 2023.
528 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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