Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, schrieb der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte maßgeblich zwei für die Beschreibung des 20. Jahrhunderts zentrale Begriffe: Totalitarismus und Banalität des Bösen. Das liegt auch daran, dass Arendts Urteile selten unwidersprochen blieben. Der Band folgt ihrem Blick auf das Zeitalter totaler Herrschaft, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, die Erblasten der Nachkriegszeit, den Eichmann-Prozess, das politische System und die Rassentrennung in den USA, Zionismus, Feminismus und Studentenbewegung. Mit Beiträgen unter anderem von Micha Brumlik, Ursula Ludz, Jerome Kohn, Wolfram Eilenberger, Barbara Hahn, Thomas Meyer und Ingeborg Nordmann.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Zeitlos populär - und doch stets umstritten
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert - das Buch zur Ausstellung, das auch für Laien einen Zugang zu der berühmten Philosophin eröffnet.
Von Isabell Trommer
Wer Hannah Arendts 2007 publiziertes Adressbuch aufschlägt, bekommt schnell einen Eindruck von ihrer Welt. Arendt legte es 1951 an, in dem Jahr, in dem sie zur amerikanischen Staatsbürgerin wurde, achtzehn Jahre nachdem sie Deutschland hatte verlassen müssen. Sie war gesellig, pflegte vielfältige Kontakte, zum englisch-amerikanischen Schriftsteller W. H. Auden und zu Hertha Cohn-Bendit, die sie im Pariser Exil kennengelernt hatte, aber auch zu Theodor Heuss oder zur Übersetzerin Hélène Zylberberg. Arendt war also nicht nur in ihrer theoretischen Grundausrichtung Aristotelikerin, sondern entsprach wohl auch privat dem, was der antike Philosoph unter einem sozialen Wesen verstand. Nicht zuletzt die Editionen ihrer Briefwechsel mit Hermann Broch, Uwe Johnson, Gershom Scholem und vielen anderen geben darüber Aufschluss. Hinter den auf blauen und roten Linien notierten Adressen in diesem Buch stehen Freundschaften, berufliche Kontakte, zahllose Migrationsgeschichten und Lebensläufe, wie das 20. Jahrhundert sie hervorgebracht hat. Einige Adressen wurden mit der Zeit gestrichen, andere mit Haken versehen oder eingekringelt.
Hannah Arendts Leben ist nicht nur mit vielen Biographien verknüpft, sondern natürlich auch mit der allgemeinen Geschichte. Sie hat - dies kommt hinzu - neben ihren theoretischen Arbeiten Essays geschrieben, die ihre Gegenwart zum Gegenstand hatten. Und einige ihrer wichtigsten Bücher verweisen auf historische Wegmarken. Das gilt etwa für "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" aus den fünfziger Jahren, für ihr 1963 erschienenes Buch über den Eichmann-Prozess in Jerusalem oder für "Macht und Gewalt", ihre 1970 veröffentlichte Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung.
Der Zusammenhang zwischen Arendts Werk und ihrer Zeit ist das Thema des Bandes "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert". Ende März wird im Deutschen Historischen Museum in Berlin unter demselben Titel eine von den Herausgeberinnen und dem Herausgeber verantwortete Ausstellung eröffnet. Das Buch umfasst 24 Texte von Philosophinnen, Sozialwissenschaftlern, Historikerinnen und Germanisten, die meist lange über die politische Theoretikerin geforscht haben. Es ist in sieben Teile gegliedert: "Jüdisches Selbstverständnis", "Totale Herrschaft", "Die Nachkriegszeit", "Die Vereinigten Staaten", "Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit", "Protestbewegungen", "Politisches Denken". Dazwischen stehen Fotografien, die schönen Porträts von Fred Stein aus den vierziger und sechziger Jahren, oder Aufnahmen, die Arendt selbst von Freundinnen und Freunden wie Kurt Blumenfeld, Karl Jaspers, Mary McCarthy oder Anne Weil gemacht hat.
Die Aufsätze kommen dabei immer wieder auf Arendts historische und politische Urteile und deren Eigenheiten zurück. Einige sehr kurz gehaltene Einwürfe widmen sich ausschließlich diesem Schwerpunkt: der Urteilskraft. Susan Neiman etwa befasst sich mit der philosophischen Dimension des Begriffs, Antje Schrupp mit dem Urteil in politischen Debatten, und Susanne Baer blickt auf die juristischen Aspekte, die Unterscheidung von Recht und Unrecht. Wo der Begriff bei Immanuel Kant auf ästhetische Urteile zielt, bezeichnet er bei Arendt ein politisches Vermögen, die Fähigkeit, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Sie selbst kam nicht mehr dazu, die geplante Monographie über dieses Thema zu schreiben.
Einer der Vorzüge des Bandes besteht darin, dass er eher allgemeine Aufsätze mit solchen kombiniert, die spezielleren Aspekten gewidmet sind, so dass er sowohl für Fachleute als auch für Laien interessant ist. Es geht um Arendts Politikverständnis, um ihre Freundschaften, um die Kontroverse nach ihrer Berichterstattung über den Eichmann-Prozess und, altbewährt, um ihr Verhältnis zu Martin Heidegger (ein "Liebessog" und "Taumel", wie Wolfram Eilenberger schreibt). Daneben stehen Texte, die sich unkonventionelleren Themen widmen, etwa der Arendt-Kritik feministischer Theoretikerinnen, der Rezeption ihrer Arbeiten in Osteuropa oder den Einwänden gegen ihren Aufsatz über die Ereignisse in Little Rock. Als dort 1957 einer schwarzen Schülerin der Zugang zur High School verwehrt wurde, nahm Ahrendt das auch zum Anlass, die Gefahren von Forderungen nach sozialer Gleichheit zu erörtern und die gerichtlich angeordnete gemeinsame Beschulung zu kritisieren.
Besonders aufschlussreich sind die Beiträge über Arendts Verhältnis zur Bundesrepublik. 1948 schreibt sie dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, wie Marie Luise Knott zitiert, sie befürchte, bei einem Aufenthalt in Heidelberg Leuten zu begegnen, die "nur mit der Feuerzange anzufassen" seien. Als sie 1949 tatsächlich in die Bundesrepublik reist, entsteht mit "Besuch in Deutschland" anschließend einer ihrer eindrucksvollsten Essays. Sie erzählt die "trübsinnige Nachkriegsgeschichte" der Bundesrepublik, berichtet von einem Land, in dem so getan werde, "als ob seit 1932 gar nichts geschehen" sei, und in dem "Tatsachen in Meinungen" verwandelt würden. Norbert Frei charakterisiert in seinem Beitrag Arendts Umgang mit der Bundesrepublik als "scharf in der Beobachtung, hart in der Analyse, rigoros im Urteil".
Hannah Arendt ist beides: geradezu zeitlos populär wie seit je umstritten. Einerseits ist sie angeblich immer aktuell, fast jeder kann etwas mit ihr anfangen, zumindest ihre Kühnheit oder ihre Art, zu formulieren, bewundern; andererseits haben einige ihrer Arbeiten ungewöhnlich viel Kritik auf sich gezogen: das betrifft die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre sowie von Politik und Gesellschaft in ihren theoretischen Überlegungen, ihr Verständnis des Totalitarismus, ihre Charakterisierung Adolf Eichmanns und ihre Deutung des Verhaltens der Judenräte vor den Deportationen. Dem Buch gelingt es, beides abzubilden, das Einnehmende und das Strittige, die Urteile und die Fehlurteile.
Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert.
Piper Verlag, München 2020. 304 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert - das Buch zur Ausstellung, das auch für Laien einen Zugang zu der berühmten Philosophin eröffnet.
Von Isabell Trommer
Wer Hannah Arendts 2007 publiziertes Adressbuch aufschlägt, bekommt schnell einen Eindruck von ihrer Welt. Arendt legte es 1951 an, in dem Jahr, in dem sie zur amerikanischen Staatsbürgerin wurde, achtzehn Jahre nachdem sie Deutschland hatte verlassen müssen. Sie war gesellig, pflegte vielfältige Kontakte, zum englisch-amerikanischen Schriftsteller W. H. Auden und zu Hertha Cohn-Bendit, die sie im Pariser Exil kennengelernt hatte, aber auch zu Theodor Heuss oder zur Übersetzerin Hélène Zylberberg. Arendt war also nicht nur in ihrer theoretischen Grundausrichtung Aristotelikerin, sondern entsprach wohl auch privat dem, was der antike Philosoph unter einem sozialen Wesen verstand. Nicht zuletzt die Editionen ihrer Briefwechsel mit Hermann Broch, Uwe Johnson, Gershom Scholem und vielen anderen geben darüber Aufschluss. Hinter den auf blauen und roten Linien notierten Adressen in diesem Buch stehen Freundschaften, berufliche Kontakte, zahllose Migrationsgeschichten und Lebensläufe, wie das 20. Jahrhundert sie hervorgebracht hat. Einige Adressen wurden mit der Zeit gestrichen, andere mit Haken versehen oder eingekringelt.
Hannah Arendts Leben ist nicht nur mit vielen Biographien verknüpft, sondern natürlich auch mit der allgemeinen Geschichte. Sie hat - dies kommt hinzu - neben ihren theoretischen Arbeiten Essays geschrieben, die ihre Gegenwart zum Gegenstand hatten. Und einige ihrer wichtigsten Bücher verweisen auf historische Wegmarken. Das gilt etwa für "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" aus den fünfziger Jahren, für ihr 1963 erschienenes Buch über den Eichmann-Prozess in Jerusalem oder für "Macht und Gewalt", ihre 1970 veröffentlichte Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung.
Der Zusammenhang zwischen Arendts Werk und ihrer Zeit ist das Thema des Bandes "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert". Ende März wird im Deutschen Historischen Museum in Berlin unter demselben Titel eine von den Herausgeberinnen und dem Herausgeber verantwortete Ausstellung eröffnet. Das Buch umfasst 24 Texte von Philosophinnen, Sozialwissenschaftlern, Historikerinnen und Germanisten, die meist lange über die politische Theoretikerin geforscht haben. Es ist in sieben Teile gegliedert: "Jüdisches Selbstverständnis", "Totale Herrschaft", "Die Nachkriegszeit", "Die Vereinigten Staaten", "Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit", "Protestbewegungen", "Politisches Denken". Dazwischen stehen Fotografien, die schönen Porträts von Fred Stein aus den vierziger und sechziger Jahren, oder Aufnahmen, die Arendt selbst von Freundinnen und Freunden wie Kurt Blumenfeld, Karl Jaspers, Mary McCarthy oder Anne Weil gemacht hat.
Die Aufsätze kommen dabei immer wieder auf Arendts historische und politische Urteile und deren Eigenheiten zurück. Einige sehr kurz gehaltene Einwürfe widmen sich ausschließlich diesem Schwerpunkt: der Urteilskraft. Susan Neiman etwa befasst sich mit der philosophischen Dimension des Begriffs, Antje Schrupp mit dem Urteil in politischen Debatten, und Susanne Baer blickt auf die juristischen Aspekte, die Unterscheidung von Recht und Unrecht. Wo der Begriff bei Immanuel Kant auf ästhetische Urteile zielt, bezeichnet er bei Arendt ein politisches Vermögen, die Fähigkeit, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Sie selbst kam nicht mehr dazu, die geplante Monographie über dieses Thema zu schreiben.
Einer der Vorzüge des Bandes besteht darin, dass er eher allgemeine Aufsätze mit solchen kombiniert, die spezielleren Aspekten gewidmet sind, so dass er sowohl für Fachleute als auch für Laien interessant ist. Es geht um Arendts Politikverständnis, um ihre Freundschaften, um die Kontroverse nach ihrer Berichterstattung über den Eichmann-Prozess und, altbewährt, um ihr Verhältnis zu Martin Heidegger (ein "Liebessog" und "Taumel", wie Wolfram Eilenberger schreibt). Daneben stehen Texte, die sich unkonventionelleren Themen widmen, etwa der Arendt-Kritik feministischer Theoretikerinnen, der Rezeption ihrer Arbeiten in Osteuropa oder den Einwänden gegen ihren Aufsatz über die Ereignisse in Little Rock. Als dort 1957 einer schwarzen Schülerin der Zugang zur High School verwehrt wurde, nahm Ahrendt das auch zum Anlass, die Gefahren von Forderungen nach sozialer Gleichheit zu erörtern und die gerichtlich angeordnete gemeinsame Beschulung zu kritisieren.
Besonders aufschlussreich sind die Beiträge über Arendts Verhältnis zur Bundesrepublik. 1948 schreibt sie dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, wie Marie Luise Knott zitiert, sie befürchte, bei einem Aufenthalt in Heidelberg Leuten zu begegnen, die "nur mit der Feuerzange anzufassen" seien. Als sie 1949 tatsächlich in die Bundesrepublik reist, entsteht mit "Besuch in Deutschland" anschließend einer ihrer eindrucksvollsten Essays. Sie erzählt die "trübsinnige Nachkriegsgeschichte" der Bundesrepublik, berichtet von einem Land, in dem so getan werde, "als ob seit 1932 gar nichts geschehen" sei, und in dem "Tatsachen in Meinungen" verwandelt würden. Norbert Frei charakterisiert in seinem Beitrag Arendts Umgang mit der Bundesrepublik als "scharf in der Beobachtung, hart in der Analyse, rigoros im Urteil".
Hannah Arendt ist beides: geradezu zeitlos populär wie seit je umstritten. Einerseits ist sie angeblich immer aktuell, fast jeder kann etwas mit ihr anfangen, zumindest ihre Kühnheit oder ihre Art, zu formulieren, bewundern; andererseits haben einige ihrer Arbeiten ungewöhnlich viel Kritik auf sich gezogen: das betrifft die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre sowie von Politik und Gesellschaft in ihren theoretischen Überlegungen, ihr Verständnis des Totalitarismus, ihre Charakterisierung Adolf Eichmanns und ihre Deutung des Verhaltens der Judenräte vor den Deportationen. Dem Buch gelingt es, beides abzubilden, das Einnehmende und das Strittige, die Urteile und die Fehlurteile.
Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert.
Piper Verlag, München 2020. 304 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dass sich die Texte gelegentlich über schneiden in biografischen Momenten, dass sie sich oft ergänzen in der Beobachtung der Arendt-Gedanken, lässt den Band auch als Ganzes wunderbar funktionieren. Das wertvollste aber ist, dass an vielen Stellen offenbar wird, das die Aktualität Arendts womöglich nicht (nur) in bestimmten Sätzen und Beurteilung liegt, sondern dass es ihre Methodik ist, die im besten Sinne zeitlos bleibt - oder auch der Kompass ihres Denkens: Die Urteilskraft, die sie aus dem Ästhetischen bei Kant in das Politische übertrug. Das Urteilen ohne vorgefertigte Maßstäbe.« Die Welt 20200509