Das Werk Hans Blumenbergs steht wie ein Monolith in der philosophischen Landschaft. Während er immer mehr als einer der wichtigsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts entdeckt wird, erscheinen seine Bücher als ungemein faszinierend und schwer zu lesen, äußerst anregendund zumeist umständlich sowie überaus stilbewusst und oftmals sehr um fangreich. Jürgen Goldstein, der selbst bei Blumenberg studierte, zeichnet ein philosophisches Portrait dieses Autors, indem er dessen geistige Physiognomie hervortreten lässt: Meisterhaft und anschaulich folgt er als ausgewiesener Kenner den Gedankenlinien des reichhaltigen Werkes, von den frühesten akademischen Schriften über die klassischen Bücher bis zu den essayistischen Miniaturen der späten Jahre und den bereits aus dem Nachlass gehobenen Schriften. Dabei wird nicht nur beleuchtet, was Blumenberg dachte, sondern auch, wie er es tat. So eröffnet seine Denkbiografie nicht nur Eingeweihten des Werks neue Perspektiven, sondern dient auch als Handreichung für jene, die bei einem seiner Bücher ins Stocken geraten sind. Auf diese Weise wird dem Gelehrten, der zeit seines Lebens den Zugriff auf seine Person scheute, Genüge getan: denn Blumenberg wollte nicht durchschaut, er wollte gelesen werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In einer Sammelrezension bespricht Lothar Müller mehrere Beiträge zum "Blumenbergjahr". Zwei posthum herausgebrachte Schriften von Blumenberg selbst ("Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie" und "Realität und Realismus", beide Suhrkamp) zieht er nur jeweils kurz zur Klärung der biografischen Lektüre heran. In geradezu blumenberg'scher Manier stellt der Kritiker die Anekdote von Galilei und dem Teleskop (die Betrachter glaubten nicht, was sie sahen bzw. "sahen" es nicht) an den Anfang. Sie war in einem 2017 erschienenen Blumenberg-Buch von Kurt Flasch erwähnt worden, so lesen wir, und auch Blumenberg hat über dieses historische Moment der Schwäche reiner Evidenz geschrieben. Dem Kritiker gefällt, wie Goldstein in seinem "überaus klaren und unangestrengten Stil" Leben und Denken des Philosophen darstellt - und dabei seine Liebe zur Bildhaftigkeit als wichtigen Teil des Denkens vor dem Vorwurf rettet, sich der Anstrengung des Begriffs entziehen zu wollen. Goldsteins Ausführungen, die sich vor allem der Lektüre Blumenberg'scher Bücher verdanken, wie der Kritiker betont - wenn sie auch "diskret" sein Leben einbeziehen - seien zudem gut geeignet, parallel gelesen zu werden zu den Aufsätzen Blumenbergs in "Realität und Realismus". Eine sehr deutliche Leseempfehlung - für Blumenberg und Goldstein!
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2020Der Polarforscher des Geistes
Wie der Philosoph Hans Blumenberg es verstand, sich der Welt zu entziehen, davon erzählen zum hundertsten Geburtstag zwei neue Biographien
Bei der Bombardierung Lübecks am 28. März 1942 durch britische Bomber wurde auch die Bibliothek eines 21-jährigen jungen Mannes zerstört, aus dem ein bedeutender Philosoph werden sollte. Er hieß Hans Blumenberg. Er war katholisch erzogen worden und in der Schule, wo er Latein und Griechisch gelernt hatte, der Klassenbeste gewesen. Der Vater war ein erfolgreicher Kunsthändler.
Zu seinem hundertsten Geburtstag am 13. Juli 2020 sind zwei großartige Biographien erschienen. Der erste Teil von Rüdiger Zills deutungsreich konzipiertem Buch beschäftigt sich mit Blumenbergs Leben, der zweite mit seiner Selbsterschaffung als Autor und der dritte mit seiner Vorstellung davon, was Philosophieren ist. Einen anderen Zugang, für alle, die sich ganz auf das Massiv Blumenberg konzentrieren möchten, bietet das deutungsfest strukturierte Buch von Jürgen Goldstein, das chronologisch den Gedanken folgt, die für den Helden eine radikale Form der Selbstbehauptung und Selbstbegründung waren. Das Porträt sprengt den Rahmen der Theorie nicht, so wie auf klassischen Bildnissen von klassischen Köpfen der Hintergrund ohne Privatsphäre auskommt.
Die Möglichkeit einer geistigen Welt muss den jungen Blumenberg, der Bücher verschlang, benotete und in Leselisten verzeichnete, früh beeindruckt und, wie eine Art inneres Exil, als einen Ort der Existenz überzeugt haben, wo er sich vor der Realität zurückziehen konnte, um sich von dort aus ein besseres Bild von ihr zu machen. Sein 1979 erschienenes Buch "Arbeit am Mythos" wird davon handeln, wie sich die Menschen des Absolutismus der Wirklichkeit durch Mythen zu erwehren versuchen. Erzählungen, Begriffe und Metaphern waren für ihn Mittel, Distanz zu schaffen, ohne die kein Mensch überleben könnte.
Beide Biographen weisen darauf hin, dass Hans Carossa, neben Ernst Jünger, Thomas Mann und Dostojewski, zu seinen frühen Lieblingsautoren gehörte. Bei Zill erfährt der Leser, dass Hitler den Dichter, der im Ersten Weltkrieg als Arzt in Rumänien und an der Westfront diente, in die Gottbegnadetenliste der sechs wichtigsten deutschen Schriftsteller hatte aufnehmen lassen. Noch in der Bundesrepublik wurden seine Bücher viel gelesen. Über ihn verfasste der Lübecker Schüler eine bewundernde Jahresarbeit. Carossas Welt war ein Resultat rhetorischer Selbstbehauptung durch die Kraft dichterischer Schau, wie sie nur auf dem Boden bürgerlicher Bildung erwachsen konnte. Die Abiturrede Blumenbergs handelte von Hitler und dem Humanismus.
Tauglich für den Dienst an der Waffe erklärt, durfte er dennoch nicht in den Krieg ziehen, weil seine Mutter Jüdin war. Mehrmals, schreibt Zill, beantragte er vergeblich die Aufnahme in die Wehrmacht. Im Jahr 1939 begann er mit einem Studium der Theologie, 1940 musste er die Universität verlassen, ebenfalls wegen seiner jüdischen Abkunft. Darauf arbeitete er notgedrungen in einem Unternehmen. 1945 wurde er für zwei Monate in ein Arbeitslager deportiert. Von Anfang April bis zum Kriegsende versteckte er sich vor dem nationalsozialistischen Staat und dessen treuen Bürgern. Es habe, sagte er später, gute Nazis gegeben. Seine Haltung zur deutschen Vergangenheit teilte er mit der Mehrheit der Bevölkerung. Der Philosoph Hermann Lübbe nannte dieses Verhalten kommunikatives Beschweigen. Vor dem Philosophen Erich Rothacker und dessen Nazi-Vergangenheit hat er sich nicht wie ein Weltgericht aufspielen wollen.
Rothacker gehörte zu den prominenten philosophischen Anthropologen der deutschen Nachkriegszeit, so wie Helmut Plessner und Arnold Gehlen, dessen Buch "Der Mensch" Blumenberg 1949 las. Die Anthropologie sollte in seiner Philosophie eine entscheidende Rolle spielen. Es ging ihm nicht um eine biologische Festschreibung der conditio humana, sondern um eine historische Beschreibung von menschlichen Ursprungssituationen. Als er sich in den siebziger Jahren offensiv anthropologischen Fragen zuwandte, mochten die Studenten, die mit der Kritik des Kapitalismus, der Abschaffung der Ordinarien-Universität und mit der braunen Vergangenheit ihrer Eltern beschäftigt waren, diese Wende nicht mitmachen.
Die Gründe für die Genesis der anthropologischen Welt Blumenbergs haben sie nicht verstehen wollen. Goldstein berichtet in den wenigen erzählerischen Passagen seines Buches, dass der Philosoph sich nicht dazu bereitfand, in Vorlesungen Fragen seiner Zuhörer zu beantworten, und mit einem so rasanten geistigen Tempo vortrug, dass er alle Anwesenden weit abgeschlagen hinter sich ließ.
Im Wintersemester 1945 begann Blumenberg mit dem Studium der Philosophie. Er hatte das Gefühl sich beeilen, die verlorene Zeit einholen zu müssen. Er wollte Professor werden. Das hat er mit Frau und drei Kindern auch geschafft. Die Stationen waren Kiel, Hamburg, Gießen, Bochum und schließlich Münster. Zill bleibt ihm hier, wie andernorts, auf den Fersen, mit einer Geduld, die auch Goldstein bei seinen Werkauslegungen auszeichnet. Diese ausgeprägte Eigenschaft mag eine Folge der anstrengenden Lektüre eines sehr umfangreichen Werkes sein. Der Nachlass des Philosophen, aus dem regelmäßig Bücher ans Tageslicht gehoben werden, liegt in Marbach.
Blumenberg war sehr selbstbewusst, wortgewaltig, unerbittlich scharfsinnig und gewandt. Seine Interessen und Vorlieben setzte er durch mit einer an mittelalterliche kirchliche Potentaten gemahnenden Souveränität in der Auslegung von Schriftsätzen und Tatbeständen. Seine Briefe sind gestochen und feinsinnig klassisch formuliert wie seine epochalen Werke. Nie wich er einen Zoll aus Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit oder Schwäche vor Problemen zurück. Diesen Eindruck gewinnt unweigerlich jeder Leser von Zills Biographie, die mit Zitaten nicht geizt. Blumenberg ist eine Art Säulenheiliger der deutschen Philosophie nach 1945 geworden. Sein Kollege Odo Marquard, der Pointen-König der deutschen Philosophie nach 1945, hat die berühmten Bücher seines berühmten Kollegen als Problemkrimis bezeichnet. Bei Goldstein werden alle komplizierten Fälle rekapitulierend aufgeklärt, bei Zill gewinnt der verdeckt ermittelnde Kommissar Blumenberg eigensinnige Züge.
Philosophie, sagte er in frühen Jahren, sei werdendes Bewusstsein des Menschen von sich selbst. Der Mensch hieß Hans Blumenberg. Seine zentrale Einsicht nach 1945 war nicht, dass er eine Geschichte hatte, in die er sich gestellt sah wie ein Wanderer in eine Landschaft, zu der er sich mit einem Schritt nach links und einem Schritt nach rechts verhalten konnte. Entscheidend war für ihn die Geschichtlichkeit des Menschen als solche, die verhinderte, dass er seiner Zeit entkommen konnte. Beide Biographen erwähnen, dass bei der philosophischen Erkenntnis der Unmöglichkeit von Fluchtversuchen Heideggers "Sein und Zeit" anfangs eine Rolle spielte. Finden ließen sich in dieser historischen Zwangslage, die zum Philosophieren genug Anlass bot, letztlich nur Spielräume des Geistes, das heißt Affinitäten, die Wirkungen und Ausstrahlungen von Ideen bestimmten.
Was für die eigene Lebenszeit zu beweisen schwierig war, ließ sich in der fernen Vergangenheit umso besser zeigen. Blumenbergs geistesgeschichtliche Methode, eine Art ideenhistorische Tiefenhermeneutik, konzentrierte sich darauf, herauszufinden, wie intellektuelle Konstellationen entstanden sein mochten, die bestimmte geistige Entwicklungen im strikten Wortsinne denkbar hatten werden lassen.
Exemplarisch gelang ihm dies 1975 mit dem Buch "Die Genesis der kopernikanischen Welt", in dem er die Geschichte der Technik und der Wissenschaften verband. Die Biographen Goldstein und Zill stehen Blumenberg in tiefer Bewunderung viel zu nahe, um Engführungen von monumentalen Werken in einem Halbsatz nicht unter allen Umständen zu meiden. Blumenberg selbst hat eingeräumt, dass akribische Deutungen, wie er sie in seinem Buch vorlegte, mit dem 19. Jahrhundert und den rasanten technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen, die ein Laie wie er nicht mehr überblicken konnte, ihr Ende gefunden hatten.
Philosophie taugte für den jungen Philosophen, der viele Texte für Zeitungen und Zeitschriften schrieb und Vorträge über das richtige Denken und Graham Greene vor Beamten und Ingenieuren hielt, nicht mehr dazu, Weltbilder zu formulieren, die einen höheren Sinn versprachen, wie die marxistischen Weltanschauungen im Osten. Wer autonom sein wollte, der musste sich mit Weltmodellen begnügen, die bei den Naturwissenschaften zu finden waren. Die Aufgabe von Geisteswissenschaftlern bestand darin, die alten Weltbilder zu rekonstruieren.
Lange Jahre schrieb Blumenberg nur bedeutende wissenschaftliche Aufsätze und ließ seine Kollegen auf ein erstes großes Buch warten. Dann aber, im Jahr 1966, erschien "Die Legitimität der Neuzeit", auf die prominente Kritiker wie der Philosoph Karl Löwith und der Jurist und Rechtsphilosoph Carl Schmitt reagierten. Ausführliche Erläuterungen zum Streit um die Säkularisierung theologischer Begriffe finden sich bei Goldstein.
Die Geschichte handelte von der Selbstbehauptung des Menschen vor Gott, mit der die Neuzeit sich vom Mittelalter als eine selbständige Epoche absetzte. Der Mensch bemächtigte sich zu seinem Heil der Vernunft und drängte auf diese Weise die Unheimlichkeit der Welt zurück, über der Gott, der nicht für das Böse verantwortlich gemacht werden konnte, wie ein Zuschauer thronte. Dem Existentialismus und Sartre hatte Blumenberg schon früh vorgeworfen, in seinem atheistischen Freiheitsdrang den Gedanken an Dank und Gnade vergessen zu haben.
Die Ideengeschichte Blumenbergs war, auch darin sind sich beide Biographen einig, lebendiges Philosophieren, und sie war, nicht zuletzt in ihrer opulenten Gelehrsamkeit, die viele Leser zu Bettelmönchen machte, konservativ. Der Eindruck drängt sich auf, dass er selbst die Macht der Metapher, die dem Menschen half, mit der Welt zurechtzukommen, durch seine Werke bewiesen hat, in denen die Metaphern Welt, Wirklichkeit, Leben und Mensch die Fundamente der Gebäude bildeten. Seine Geschichten spielten nie in China, Indonesien oder am Amazonas. Die seit den fünfziger Jahren publizierten Bücher von Claude Lévi-Strauss wiesen der Beschreibung von Menschen ganz andere Wege.
Von Kindheit an hegte Blumenberg eine große Bewunderung für den Polarforscher Fridtjof Nansen, der durch das All des Eises gezogen war. Er selbst war kein Ethnologe, kein Feldforscher, der eine fremde Kultur vor Ort studierte. Den Roman "Joseph und seine Brüder" von Thomas Mann hat er gelesen, als er sich, diese Anekdote lässt sich Zill nicht entgehen, mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar in der Mitte der fünfziger Jahre mit Auto und Schiff zu einer Reise nach Ägypten aufmachte. Zu einem weiteren Abenteuer in die Ferne ist es nicht gekommen. Er blieb zu Hause und schrieb, in einer seiner vielen Zeitungsglossen, über den modernen Touristen und seine Urlaubsfotos. Goethe, den er sehr schätzte, was Goldstein zu erklären weiß, hatte sich daheim in Weimar auf vorbildhafte Weise einen eigenen Kosmos erschaffen und verließ das Haus nicht mehr.
Nach seiner Emeritierung 1985, nach beharrlich, auch hochfahrend geführten Kämpfen mit der Uneinsichtigkeit von Menschen, die sich nicht in allen Belangen auf seine Seite stellen wollten, konnte er sich ganz seinem Werk widmen. In der Öffentlichkeit ließ er sich nicht mehr blicken. Er telefonierte mit Ausgewählten spät nachts. Der geheimnisumwitterte Unsichtbare schickte Bücher und kleinere Texte fürs Feuilleton aus dem Untertagebau. Er starb 1996.
Sein wissenschaftliches Interesse war nicht nur durch Fragen des Fachs geweckt worden, wie das bei Platon-Auslegern oder Kant-Forschern der Fall ist. Hinter seiner Neugierde steckte mehr als der Drang, ein theoretisches Problem zu lösen. In dem in den siebziger Jahren erschienenen Aufsatz "Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik", den Zill zitiert, hatte er das Reden als ein wichtiges Mittel des Überlebens definiert, die Redekunst gegen die rohe Gewalt gesetzt. Die Frage drängt sich auf: War nicht schon das Lesen, dem er von früh an verfallen war und dessen Früchte er auf Zigtausenden von Karteikarten festhielt, eine Form des stillen Redens gewesen? Die beiden Biographien, mit kunstvollem Gespür die eine, mit umfassender Geste die andere, beeindrucken als diskrete und souveräne Deutungen einer solitären intellektuellen Anstrengung in Deutschland nach 1945, die sich einer eigenen traditionsreichen Herkunft und der Legitimität einer modernen geistigen Existenz zu vergewissern versuchte, und dies mit einer Flut von Ideen, die seltsam schön und alt waren.
EBERHARD RATHGEB.
Jürgen Goldstein: "Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait." Matthes & Seitz, 624 Seiten, 34 Euro.
Rüdiger Zill: "Der absolute Leser - Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie." Suhrkamp, 816 Seiten, 38 Euro.
Siehe auch Wissenschaft, Seiten 54/55.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie der Philosoph Hans Blumenberg es verstand, sich der Welt zu entziehen, davon erzählen zum hundertsten Geburtstag zwei neue Biographien
Bei der Bombardierung Lübecks am 28. März 1942 durch britische Bomber wurde auch die Bibliothek eines 21-jährigen jungen Mannes zerstört, aus dem ein bedeutender Philosoph werden sollte. Er hieß Hans Blumenberg. Er war katholisch erzogen worden und in der Schule, wo er Latein und Griechisch gelernt hatte, der Klassenbeste gewesen. Der Vater war ein erfolgreicher Kunsthändler.
Zu seinem hundertsten Geburtstag am 13. Juli 2020 sind zwei großartige Biographien erschienen. Der erste Teil von Rüdiger Zills deutungsreich konzipiertem Buch beschäftigt sich mit Blumenbergs Leben, der zweite mit seiner Selbsterschaffung als Autor und der dritte mit seiner Vorstellung davon, was Philosophieren ist. Einen anderen Zugang, für alle, die sich ganz auf das Massiv Blumenberg konzentrieren möchten, bietet das deutungsfest strukturierte Buch von Jürgen Goldstein, das chronologisch den Gedanken folgt, die für den Helden eine radikale Form der Selbstbehauptung und Selbstbegründung waren. Das Porträt sprengt den Rahmen der Theorie nicht, so wie auf klassischen Bildnissen von klassischen Köpfen der Hintergrund ohne Privatsphäre auskommt.
Die Möglichkeit einer geistigen Welt muss den jungen Blumenberg, der Bücher verschlang, benotete und in Leselisten verzeichnete, früh beeindruckt und, wie eine Art inneres Exil, als einen Ort der Existenz überzeugt haben, wo er sich vor der Realität zurückziehen konnte, um sich von dort aus ein besseres Bild von ihr zu machen. Sein 1979 erschienenes Buch "Arbeit am Mythos" wird davon handeln, wie sich die Menschen des Absolutismus der Wirklichkeit durch Mythen zu erwehren versuchen. Erzählungen, Begriffe und Metaphern waren für ihn Mittel, Distanz zu schaffen, ohne die kein Mensch überleben könnte.
Beide Biographen weisen darauf hin, dass Hans Carossa, neben Ernst Jünger, Thomas Mann und Dostojewski, zu seinen frühen Lieblingsautoren gehörte. Bei Zill erfährt der Leser, dass Hitler den Dichter, der im Ersten Weltkrieg als Arzt in Rumänien und an der Westfront diente, in die Gottbegnadetenliste der sechs wichtigsten deutschen Schriftsteller hatte aufnehmen lassen. Noch in der Bundesrepublik wurden seine Bücher viel gelesen. Über ihn verfasste der Lübecker Schüler eine bewundernde Jahresarbeit. Carossas Welt war ein Resultat rhetorischer Selbstbehauptung durch die Kraft dichterischer Schau, wie sie nur auf dem Boden bürgerlicher Bildung erwachsen konnte. Die Abiturrede Blumenbergs handelte von Hitler und dem Humanismus.
Tauglich für den Dienst an der Waffe erklärt, durfte er dennoch nicht in den Krieg ziehen, weil seine Mutter Jüdin war. Mehrmals, schreibt Zill, beantragte er vergeblich die Aufnahme in die Wehrmacht. Im Jahr 1939 begann er mit einem Studium der Theologie, 1940 musste er die Universität verlassen, ebenfalls wegen seiner jüdischen Abkunft. Darauf arbeitete er notgedrungen in einem Unternehmen. 1945 wurde er für zwei Monate in ein Arbeitslager deportiert. Von Anfang April bis zum Kriegsende versteckte er sich vor dem nationalsozialistischen Staat und dessen treuen Bürgern. Es habe, sagte er später, gute Nazis gegeben. Seine Haltung zur deutschen Vergangenheit teilte er mit der Mehrheit der Bevölkerung. Der Philosoph Hermann Lübbe nannte dieses Verhalten kommunikatives Beschweigen. Vor dem Philosophen Erich Rothacker und dessen Nazi-Vergangenheit hat er sich nicht wie ein Weltgericht aufspielen wollen.
Rothacker gehörte zu den prominenten philosophischen Anthropologen der deutschen Nachkriegszeit, so wie Helmut Plessner und Arnold Gehlen, dessen Buch "Der Mensch" Blumenberg 1949 las. Die Anthropologie sollte in seiner Philosophie eine entscheidende Rolle spielen. Es ging ihm nicht um eine biologische Festschreibung der conditio humana, sondern um eine historische Beschreibung von menschlichen Ursprungssituationen. Als er sich in den siebziger Jahren offensiv anthropologischen Fragen zuwandte, mochten die Studenten, die mit der Kritik des Kapitalismus, der Abschaffung der Ordinarien-Universität und mit der braunen Vergangenheit ihrer Eltern beschäftigt waren, diese Wende nicht mitmachen.
Die Gründe für die Genesis der anthropologischen Welt Blumenbergs haben sie nicht verstehen wollen. Goldstein berichtet in den wenigen erzählerischen Passagen seines Buches, dass der Philosoph sich nicht dazu bereitfand, in Vorlesungen Fragen seiner Zuhörer zu beantworten, und mit einem so rasanten geistigen Tempo vortrug, dass er alle Anwesenden weit abgeschlagen hinter sich ließ.
Im Wintersemester 1945 begann Blumenberg mit dem Studium der Philosophie. Er hatte das Gefühl sich beeilen, die verlorene Zeit einholen zu müssen. Er wollte Professor werden. Das hat er mit Frau und drei Kindern auch geschafft. Die Stationen waren Kiel, Hamburg, Gießen, Bochum und schließlich Münster. Zill bleibt ihm hier, wie andernorts, auf den Fersen, mit einer Geduld, die auch Goldstein bei seinen Werkauslegungen auszeichnet. Diese ausgeprägte Eigenschaft mag eine Folge der anstrengenden Lektüre eines sehr umfangreichen Werkes sein. Der Nachlass des Philosophen, aus dem regelmäßig Bücher ans Tageslicht gehoben werden, liegt in Marbach.
Blumenberg war sehr selbstbewusst, wortgewaltig, unerbittlich scharfsinnig und gewandt. Seine Interessen und Vorlieben setzte er durch mit einer an mittelalterliche kirchliche Potentaten gemahnenden Souveränität in der Auslegung von Schriftsätzen und Tatbeständen. Seine Briefe sind gestochen und feinsinnig klassisch formuliert wie seine epochalen Werke. Nie wich er einen Zoll aus Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit oder Schwäche vor Problemen zurück. Diesen Eindruck gewinnt unweigerlich jeder Leser von Zills Biographie, die mit Zitaten nicht geizt. Blumenberg ist eine Art Säulenheiliger der deutschen Philosophie nach 1945 geworden. Sein Kollege Odo Marquard, der Pointen-König der deutschen Philosophie nach 1945, hat die berühmten Bücher seines berühmten Kollegen als Problemkrimis bezeichnet. Bei Goldstein werden alle komplizierten Fälle rekapitulierend aufgeklärt, bei Zill gewinnt der verdeckt ermittelnde Kommissar Blumenberg eigensinnige Züge.
Philosophie, sagte er in frühen Jahren, sei werdendes Bewusstsein des Menschen von sich selbst. Der Mensch hieß Hans Blumenberg. Seine zentrale Einsicht nach 1945 war nicht, dass er eine Geschichte hatte, in die er sich gestellt sah wie ein Wanderer in eine Landschaft, zu der er sich mit einem Schritt nach links und einem Schritt nach rechts verhalten konnte. Entscheidend war für ihn die Geschichtlichkeit des Menschen als solche, die verhinderte, dass er seiner Zeit entkommen konnte. Beide Biographen erwähnen, dass bei der philosophischen Erkenntnis der Unmöglichkeit von Fluchtversuchen Heideggers "Sein und Zeit" anfangs eine Rolle spielte. Finden ließen sich in dieser historischen Zwangslage, die zum Philosophieren genug Anlass bot, letztlich nur Spielräume des Geistes, das heißt Affinitäten, die Wirkungen und Ausstrahlungen von Ideen bestimmten.
Was für die eigene Lebenszeit zu beweisen schwierig war, ließ sich in der fernen Vergangenheit umso besser zeigen. Blumenbergs geistesgeschichtliche Methode, eine Art ideenhistorische Tiefenhermeneutik, konzentrierte sich darauf, herauszufinden, wie intellektuelle Konstellationen entstanden sein mochten, die bestimmte geistige Entwicklungen im strikten Wortsinne denkbar hatten werden lassen.
Exemplarisch gelang ihm dies 1975 mit dem Buch "Die Genesis der kopernikanischen Welt", in dem er die Geschichte der Technik und der Wissenschaften verband. Die Biographen Goldstein und Zill stehen Blumenberg in tiefer Bewunderung viel zu nahe, um Engführungen von monumentalen Werken in einem Halbsatz nicht unter allen Umständen zu meiden. Blumenberg selbst hat eingeräumt, dass akribische Deutungen, wie er sie in seinem Buch vorlegte, mit dem 19. Jahrhundert und den rasanten technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen, die ein Laie wie er nicht mehr überblicken konnte, ihr Ende gefunden hatten.
Philosophie taugte für den jungen Philosophen, der viele Texte für Zeitungen und Zeitschriften schrieb und Vorträge über das richtige Denken und Graham Greene vor Beamten und Ingenieuren hielt, nicht mehr dazu, Weltbilder zu formulieren, die einen höheren Sinn versprachen, wie die marxistischen Weltanschauungen im Osten. Wer autonom sein wollte, der musste sich mit Weltmodellen begnügen, die bei den Naturwissenschaften zu finden waren. Die Aufgabe von Geisteswissenschaftlern bestand darin, die alten Weltbilder zu rekonstruieren.
Lange Jahre schrieb Blumenberg nur bedeutende wissenschaftliche Aufsätze und ließ seine Kollegen auf ein erstes großes Buch warten. Dann aber, im Jahr 1966, erschien "Die Legitimität der Neuzeit", auf die prominente Kritiker wie der Philosoph Karl Löwith und der Jurist und Rechtsphilosoph Carl Schmitt reagierten. Ausführliche Erläuterungen zum Streit um die Säkularisierung theologischer Begriffe finden sich bei Goldstein.
Die Geschichte handelte von der Selbstbehauptung des Menschen vor Gott, mit der die Neuzeit sich vom Mittelalter als eine selbständige Epoche absetzte. Der Mensch bemächtigte sich zu seinem Heil der Vernunft und drängte auf diese Weise die Unheimlichkeit der Welt zurück, über der Gott, der nicht für das Böse verantwortlich gemacht werden konnte, wie ein Zuschauer thronte. Dem Existentialismus und Sartre hatte Blumenberg schon früh vorgeworfen, in seinem atheistischen Freiheitsdrang den Gedanken an Dank und Gnade vergessen zu haben.
Die Ideengeschichte Blumenbergs war, auch darin sind sich beide Biographen einig, lebendiges Philosophieren, und sie war, nicht zuletzt in ihrer opulenten Gelehrsamkeit, die viele Leser zu Bettelmönchen machte, konservativ. Der Eindruck drängt sich auf, dass er selbst die Macht der Metapher, die dem Menschen half, mit der Welt zurechtzukommen, durch seine Werke bewiesen hat, in denen die Metaphern Welt, Wirklichkeit, Leben und Mensch die Fundamente der Gebäude bildeten. Seine Geschichten spielten nie in China, Indonesien oder am Amazonas. Die seit den fünfziger Jahren publizierten Bücher von Claude Lévi-Strauss wiesen der Beschreibung von Menschen ganz andere Wege.
Von Kindheit an hegte Blumenberg eine große Bewunderung für den Polarforscher Fridtjof Nansen, der durch das All des Eises gezogen war. Er selbst war kein Ethnologe, kein Feldforscher, der eine fremde Kultur vor Ort studierte. Den Roman "Joseph und seine Brüder" von Thomas Mann hat er gelesen, als er sich, diese Anekdote lässt sich Zill nicht entgehen, mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar in der Mitte der fünfziger Jahre mit Auto und Schiff zu einer Reise nach Ägypten aufmachte. Zu einem weiteren Abenteuer in die Ferne ist es nicht gekommen. Er blieb zu Hause und schrieb, in einer seiner vielen Zeitungsglossen, über den modernen Touristen und seine Urlaubsfotos. Goethe, den er sehr schätzte, was Goldstein zu erklären weiß, hatte sich daheim in Weimar auf vorbildhafte Weise einen eigenen Kosmos erschaffen und verließ das Haus nicht mehr.
Nach seiner Emeritierung 1985, nach beharrlich, auch hochfahrend geführten Kämpfen mit der Uneinsichtigkeit von Menschen, die sich nicht in allen Belangen auf seine Seite stellen wollten, konnte er sich ganz seinem Werk widmen. In der Öffentlichkeit ließ er sich nicht mehr blicken. Er telefonierte mit Ausgewählten spät nachts. Der geheimnisumwitterte Unsichtbare schickte Bücher und kleinere Texte fürs Feuilleton aus dem Untertagebau. Er starb 1996.
Sein wissenschaftliches Interesse war nicht nur durch Fragen des Fachs geweckt worden, wie das bei Platon-Auslegern oder Kant-Forschern der Fall ist. Hinter seiner Neugierde steckte mehr als der Drang, ein theoretisches Problem zu lösen. In dem in den siebziger Jahren erschienenen Aufsatz "Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik", den Zill zitiert, hatte er das Reden als ein wichtiges Mittel des Überlebens definiert, die Redekunst gegen die rohe Gewalt gesetzt. Die Frage drängt sich auf: War nicht schon das Lesen, dem er von früh an verfallen war und dessen Früchte er auf Zigtausenden von Karteikarten festhielt, eine Form des stillen Redens gewesen? Die beiden Biographien, mit kunstvollem Gespür die eine, mit umfassender Geste die andere, beeindrucken als diskrete und souveräne Deutungen einer solitären intellektuellen Anstrengung in Deutschland nach 1945, die sich einer eigenen traditionsreichen Herkunft und der Legitimität einer modernen geistigen Existenz zu vergewissern versuchte, und dies mit einer Flut von Ideen, die seltsam schön und alt waren.
EBERHARD RATHGEB.
Jürgen Goldstein: "Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait." Matthes & Seitz, 624 Seiten, 34 Euro.
Rüdiger Zill: "Der absolute Leser - Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie." Suhrkamp, 816 Seiten, 38 Euro.
Siehe auch Wissenschaft, Seiten 54/55.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2020Bewusstsein für die verlorene Zeit
Technikaffin, brillant und ein unwiderstehlicher Monologisierer:
Zum 100. Geburtstag von Hans Blumenberg untersuchen zwei Biografien das Leben des Philosophen
VON LOTHAR MÜLLER
Mehrfach taucht in den Schriften Hans Blumenbergs das Teleskop auf. Es holt das bis dahin Unsichtbare in die Sichtbarkeit hinein, beflügelt die Entgrenzung der Neugier und trägt zu dem Epochenbruch bei, als den Blumenberg „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (1975) schildert. Galileo Galilei, der insgeheim seit längerem dem kopernikanischen Weltsystem anhängt, sieht 1609 in Venedig im Fernrohr die Chance, die sinnliche Anschauung gegen jene Buchgelehrten in Stellung zu bringen, die das Weltbild des Aristoteles durch Zitate glauben verteidigen zu können, und richtet es gegen den Sternenhimmel.
Blumenbergs großer Essay „Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit“, der 1965 als Einleitung zu Galileis „Sidereus Nuncius“ (1610) und Auftaktband der „sammlung insel“ erschien, erzählt nicht die Geschichte eines Triumphs der Evidenz. Der Blick durchs Fernrohr in den Himmel wird verweigert, was Galilei sieht, wird bestritten, es braucht Zeit, Abstraktion und Mathematik, bis Keil zwischen Sichtbarkeit und Wirklichkeit getrieben, ein neues Wirklichkeitsbewusstsein erschlossen ist. Erst im Zusammenspiel mit der theoretischen Anstrengung zeigt das technische Instrument, was in ihm steckt, wird die Erde Stern unter Sternen und tritt den leuchtenden Himmelkörpern an die Seite.
Seinem jüngeren Kollegen Kurt Flasch hat Hans Blumenberg um 1974 erzählt, wie früh sein Interesse an Teleskopen ausgeprägt war. Er war Jahrgang 1920, hatte 1939 in seiner Geburtsstadt Lübeck Abitur gemacht. Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen als „Halbjude“ eingestuft, da seine Mutter jüdischer Herkunft war, war er „wehrunwürdig“ und musste 1940 sein Studium an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt abbrechen, ab 1942 Arbeitsdienste leisten. So kam er, auf Vermittlung des Vaters, in die Draegerwerk AG. Dort habe er, so Blumenberg, Bücher über die Optik und ihre Geschichte gelesen, denn die Firma habe Teleskope für U-Boote produziert. Kurt Flasch hat diese Selbstauskunft an den Beginn seines großen Buches „Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland. Die Jahre 1945 bis 1966“ (2017) gestellt.
Einer der Schlüsselbegriffe Blumenbergs ist „Geschichtlichkeit“. Er dient dazu, in scheinbaren Kontinuitäten Brüche und Widersprüche aufzuspüren, zu markieren, was überhaupt in einer Epoche denkbar ist. Der Begriff führt dazu, dass die „Legitimität der Neuzeit“ (1966) als Selbstbehauptung aus eigenem Recht erscheinen kann, dass der Absolutismus der einen, festgefügten Wirklichkeit dem Plural der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ (1981) weicht. Nun, zum hundertsten Geburtstag, ist die erste umfassende Biografie des Philosophen erschienen. Rüdiger Zill, wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, hat ihr den Titel „Der absolute Leser“ gegeben. Das akzentuiert die Gelehrsamkeit des Philosophen, der nie den Eindruck erweckt, an einer tabula rasa zu sitzen und nur aus dem Eignen zu denken, der seine Zitate nicht nur den Werken der Philosophen entnimmt, sondern ebenso häufig Romanen und Memoiren, Tagebüchern und Fabeln, Briefen und Broschüren. Der Untertitel – „Eine intellektuelle Biographie“ – klingt nach Vorrang der Gedanken und theoretischen Entwürfe und nach Nebenrolle der Soziologie des Lebenslaufs. Aber was dann folgt, ist sehr viel mehr und schließt eine sehr genaue Erkundung der Lebensumstände und der Karriere eines erfolgreichen Universitätsprofessors und einflussreichen Akademikers ein.
Die nun erschienene, bisher unveröffentlichte, 1947 in Kiel vorgelegte Dissertation „Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie“ und die zwei Jahre später entstandene Habilitationsschrift „Die ontologische Distanz“ liest Zill nicht nur als Einsatzpunkte der Auseinandersetzung mit den Schriften Martin Heideggers und Edmund Husserls, sondern zugleich als Laufbahnschriften, die von Briefen an die akademischen Lehrer und Auseinandersetzungen mit den Gutachtern verbunden sind.
Der perspektivische Fixpunkt in Zills Darstellung des jungen Blumenberg ist die Deportation in das bei Dessau gelegene Arbeitslager Zerbst der Organisation Todt im Februar 1945. Als er nach zwei Monaten von dort entkam und sich nach Lübeck durchschlug, fand er dort Unterschlupf in einer Dachkammer der Schuhmacherfamilie Heinck, deren Tochter wenig später seine Frau wurde.
Die Abiturrede, die der junge Blumenberg, obwohl Jahrgangsbester, 1939 nicht halten durfte, der nationalsozialistische Direktor, der ihm sogar den Handschlag verweigerte, die Behinderung seines Studiums gehören zur Vorgeschichte der Lagererfahrung. Minutiös präpariert Zill heraus, wie das Bewusstsein der „verlorenen Zeit“, die es aufzuholen, in die Eile eingeht, mit der Blumenberg seine Laufbahnschriften so rasch wie möglich unter Dach und Fach bringen will. Die Biografie beginnt mit dem Verlust der gesamten bis dahin aufgebauten Bibliothek bei der Bombardierung Lübecks Ende März 1942. En passant korrigiert Zill ein Detail der von Flasch berichteten Teleskop-Anekdote Blumenbergs. Die Draegerwerke produzierten nicht Fernrohre, sondern Belüftungsanlagen für U-Boote.
Von den Ruinenstädten Kiel und Hamburg führt die akademische Karriere Blumenbergs in die Gelehrtenwelt der alten Bundesrepublik, von Gießen über die Neugründung Bochum bis nach Münster, das 1970 seine letzte Station wird. Ein Strang dieser Geschichte der Geisteswissenschaften in Deutschland handelt vom Umgang des als „Halbjude“ verfolgten Blumenberg mit denjenigen Kollegen, die vor 1945 sporadisch oder dauerhaft den Verfolgen nahegestanden hatten.
Wie die Infrastrukturen und Netzwerke, die Konkurrenzen und Rivalitäten des akademischen Lebens treten in Zilles Biografie die inneren Schichtungen und kommunizierenden Röhren der Autorschaft dieses Philosophen hervor, auch seine Verlagsbeziehungen, nicht zuletzt seine Konflikte mit Siegfried Unseld. Lange war Blumenberg ein Mann der Aufsätze, ehe er voluminöse Bücher veröffentlichte, schon als junger Mann publizierte er Feuilletons unter dem Pseudonym „Axel Colly“.
Es gibt im Prozess der theoretischen Neugier des Philosophen Hans Blumenberg ein Instrument, das für ihn so wichtig ist wie für Galilei das Fernrohr: den Zettelkasten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass er nicht nur in Zills Biografie eine prominente Rolle spielt, sondern auch in ihrem Gegenüber, Jürgen Goldsteins nicht minder umfangreichem Buch „Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait“. Es verhält sich zum Leben des Porträtierten sehr diskret, ohne es auszublenden, und ist ein luzider, in einem überaus klaren und unangestrengten Stil geschriebener fortlaufender Kommentar zum Gesamtwerk in allen seinen Facetten, von den Bemerkungen zu Kafka und den „Nihilismus“, das Modethema der Nachkriegszeit bis zur lebenslangen Faszination durch Goethe wie durch die Technik. Beide, Zill wie Goldstein, porträtieren den Hochschullehrer Blumenberg, der seit dem Sommersemester 1978 keine Seminare und Kolloquien mehr, sondern nur noch Vorlesungen anbot, als so unwiderstehlichen wie gegenüber dem Publikum rücksichtslosen Monologisierer. Als junger Student hat Goldstein Blumenberg noch erlebt.
Zill erläutert den Zettelkasten Blumenbergs im Rückblick auf Schreibprozesse, in denen kurz vor ihrer Abdankung die Techniken analoger Gelehrsamkeit noch einmal kräftig aufblühen. Ein Bravourstück ist sein „close reading“ der Lektürespuren, mit denen Blumenberg den kurz zuvor erschienenen Aufsatz Niklas Luhmanns über dessen Zettelkasten versehen hat. Zills Focus ist nicht nur hier das Archiv samt der penibel geführten Lektüreliste, die produktive Zone, in welcher der „absolute Leser“ seine Autorschaft vorantreibt.
Blumenberg ist am 28. März 1996 gestorben, aber er führt seitdem als Autor ein überaus reiches Nachleben. Jürgen Goldstein kennt die Archivexistenz Blumenbergs, aber sein Focus ist die Bibliothek, aus der die Lektüren kommen und in die sie eingehen. Zu recht mag er ihn auf eine Formel nicht festlegen, etwa die von Odo Marquard in seinem Nachruf ins Spiel gebrachte, sein Zentralmotiv sei die „Entlastung vom Absoluten“ gewesen: der mythischen Gewalt, des christlichen Willkürgottes, der Übermacht des Politischen.
Und er nimmt Blumenbergs Hang zur Anekdote gegen das Misstrauen in Schutz, hier suche einer Erholung von den Anstrengungen des Begriffs im Spiel mit den Formen der Literatur. Das Misstrauen traf einen gewissen Hang zum Virtuosentum, aber nicht den Kern von Blumenbergs Interesse an Metaphern und an einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“. Es zielte nicht auf Ermäßigung begrifflicher Anstrengung oder Flucht in die Anschaulichkeit, sondern auf die Vervollständigung und Selbstaufklärung der Begriffsgeschichte durch eine Überprüfung der Metaphern, die unvermeidlich und notwendig zur Geschichte des Denkens gehören. Für die Lektüre von Blumenbergs nun aus dem Nachlass herausgegebenes Buch „Realität und Realismus“ ist Goldstein der ideale Begleiter. Nicht nur, weil er Blumenbergs Deutungen der Wirklichkeitsauffassungen in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne so gut kennt, sondern vor allem, weil er die „Geschichtlichkeit“ in Blumenbergs Denken und Werk mit der konkreten Zeitgeschichte verknüpft. Durch die Bücher von Zill und Goldstein tritt die Geschichte als Schreibhintergrund hervor, vom Nationalsozialismus über die Atomdebatten bis zur Mondlandung. Man lese in „Realität und Realismus“ die Passage, in der Blumenberg die Lebenserinnerungen des Anklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, Robert M.W. Kempner, kommentiert.
Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten, 28 Euro.
Hans Blumenberg: Realität und Realismus. Herausgegeben von Nicola Zambon. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 230 Seiten, 30 Euro.
Jürgen Goldstein: Hans Blumenberg. Ein philosophisches Porträt. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 624 Seiten, 34 Euro.
Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie. 816 Seiten, 38 Euro.
Weil seine Mutter Jüdin war,
stuften ihn die Nationalsozialisten
als „wehrunwürdig“ ein
Der Zettelkasten war für ihn
so wichtig wie
für Galilei das Fernrohr
Sein Hang zum Virtuosentum,
zum intellektuellen Hochseilakt,
erregte auch Misstrauen
Hans Blumenberg im Mercedes des befreundeten Ehepaars Schorr, circa 1958.
Foto: Archiv Bettina Blumenberg
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Technikaffin, brillant und ein unwiderstehlicher Monologisierer:
Zum 100. Geburtstag von Hans Blumenberg untersuchen zwei Biografien das Leben des Philosophen
VON LOTHAR MÜLLER
Mehrfach taucht in den Schriften Hans Blumenbergs das Teleskop auf. Es holt das bis dahin Unsichtbare in die Sichtbarkeit hinein, beflügelt die Entgrenzung der Neugier und trägt zu dem Epochenbruch bei, als den Blumenberg „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (1975) schildert. Galileo Galilei, der insgeheim seit längerem dem kopernikanischen Weltsystem anhängt, sieht 1609 in Venedig im Fernrohr die Chance, die sinnliche Anschauung gegen jene Buchgelehrten in Stellung zu bringen, die das Weltbild des Aristoteles durch Zitate glauben verteidigen zu können, und richtet es gegen den Sternenhimmel.
Blumenbergs großer Essay „Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit“, der 1965 als Einleitung zu Galileis „Sidereus Nuncius“ (1610) und Auftaktband der „sammlung insel“ erschien, erzählt nicht die Geschichte eines Triumphs der Evidenz. Der Blick durchs Fernrohr in den Himmel wird verweigert, was Galilei sieht, wird bestritten, es braucht Zeit, Abstraktion und Mathematik, bis Keil zwischen Sichtbarkeit und Wirklichkeit getrieben, ein neues Wirklichkeitsbewusstsein erschlossen ist. Erst im Zusammenspiel mit der theoretischen Anstrengung zeigt das technische Instrument, was in ihm steckt, wird die Erde Stern unter Sternen und tritt den leuchtenden Himmelkörpern an die Seite.
Seinem jüngeren Kollegen Kurt Flasch hat Hans Blumenberg um 1974 erzählt, wie früh sein Interesse an Teleskopen ausgeprägt war. Er war Jahrgang 1920, hatte 1939 in seiner Geburtsstadt Lübeck Abitur gemacht. Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen als „Halbjude“ eingestuft, da seine Mutter jüdischer Herkunft war, war er „wehrunwürdig“ und musste 1940 sein Studium an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt abbrechen, ab 1942 Arbeitsdienste leisten. So kam er, auf Vermittlung des Vaters, in die Draegerwerk AG. Dort habe er, so Blumenberg, Bücher über die Optik und ihre Geschichte gelesen, denn die Firma habe Teleskope für U-Boote produziert. Kurt Flasch hat diese Selbstauskunft an den Beginn seines großen Buches „Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland. Die Jahre 1945 bis 1966“ (2017) gestellt.
Einer der Schlüsselbegriffe Blumenbergs ist „Geschichtlichkeit“. Er dient dazu, in scheinbaren Kontinuitäten Brüche und Widersprüche aufzuspüren, zu markieren, was überhaupt in einer Epoche denkbar ist. Der Begriff führt dazu, dass die „Legitimität der Neuzeit“ (1966) als Selbstbehauptung aus eigenem Recht erscheinen kann, dass der Absolutismus der einen, festgefügten Wirklichkeit dem Plural der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ (1981) weicht. Nun, zum hundertsten Geburtstag, ist die erste umfassende Biografie des Philosophen erschienen. Rüdiger Zill, wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, hat ihr den Titel „Der absolute Leser“ gegeben. Das akzentuiert die Gelehrsamkeit des Philosophen, der nie den Eindruck erweckt, an einer tabula rasa zu sitzen und nur aus dem Eignen zu denken, der seine Zitate nicht nur den Werken der Philosophen entnimmt, sondern ebenso häufig Romanen und Memoiren, Tagebüchern und Fabeln, Briefen und Broschüren. Der Untertitel – „Eine intellektuelle Biographie“ – klingt nach Vorrang der Gedanken und theoretischen Entwürfe und nach Nebenrolle der Soziologie des Lebenslaufs. Aber was dann folgt, ist sehr viel mehr und schließt eine sehr genaue Erkundung der Lebensumstände und der Karriere eines erfolgreichen Universitätsprofessors und einflussreichen Akademikers ein.
Die nun erschienene, bisher unveröffentlichte, 1947 in Kiel vorgelegte Dissertation „Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie“ und die zwei Jahre später entstandene Habilitationsschrift „Die ontologische Distanz“ liest Zill nicht nur als Einsatzpunkte der Auseinandersetzung mit den Schriften Martin Heideggers und Edmund Husserls, sondern zugleich als Laufbahnschriften, die von Briefen an die akademischen Lehrer und Auseinandersetzungen mit den Gutachtern verbunden sind.
Der perspektivische Fixpunkt in Zills Darstellung des jungen Blumenberg ist die Deportation in das bei Dessau gelegene Arbeitslager Zerbst der Organisation Todt im Februar 1945. Als er nach zwei Monaten von dort entkam und sich nach Lübeck durchschlug, fand er dort Unterschlupf in einer Dachkammer der Schuhmacherfamilie Heinck, deren Tochter wenig später seine Frau wurde.
Die Abiturrede, die der junge Blumenberg, obwohl Jahrgangsbester, 1939 nicht halten durfte, der nationalsozialistische Direktor, der ihm sogar den Handschlag verweigerte, die Behinderung seines Studiums gehören zur Vorgeschichte der Lagererfahrung. Minutiös präpariert Zill heraus, wie das Bewusstsein der „verlorenen Zeit“, die es aufzuholen, in die Eile eingeht, mit der Blumenberg seine Laufbahnschriften so rasch wie möglich unter Dach und Fach bringen will. Die Biografie beginnt mit dem Verlust der gesamten bis dahin aufgebauten Bibliothek bei der Bombardierung Lübecks Ende März 1942. En passant korrigiert Zill ein Detail der von Flasch berichteten Teleskop-Anekdote Blumenbergs. Die Draegerwerke produzierten nicht Fernrohre, sondern Belüftungsanlagen für U-Boote.
Von den Ruinenstädten Kiel und Hamburg führt die akademische Karriere Blumenbergs in die Gelehrtenwelt der alten Bundesrepublik, von Gießen über die Neugründung Bochum bis nach Münster, das 1970 seine letzte Station wird. Ein Strang dieser Geschichte der Geisteswissenschaften in Deutschland handelt vom Umgang des als „Halbjude“ verfolgten Blumenberg mit denjenigen Kollegen, die vor 1945 sporadisch oder dauerhaft den Verfolgen nahegestanden hatten.
Wie die Infrastrukturen und Netzwerke, die Konkurrenzen und Rivalitäten des akademischen Lebens treten in Zilles Biografie die inneren Schichtungen und kommunizierenden Röhren der Autorschaft dieses Philosophen hervor, auch seine Verlagsbeziehungen, nicht zuletzt seine Konflikte mit Siegfried Unseld. Lange war Blumenberg ein Mann der Aufsätze, ehe er voluminöse Bücher veröffentlichte, schon als junger Mann publizierte er Feuilletons unter dem Pseudonym „Axel Colly“.
Es gibt im Prozess der theoretischen Neugier des Philosophen Hans Blumenberg ein Instrument, das für ihn so wichtig ist wie für Galilei das Fernrohr: den Zettelkasten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass er nicht nur in Zills Biografie eine prominente Rolle spielt, sondern auch in ihrem Gegenüber, Jürgen Goldsteins nicht minder umfangreichem Buch „Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait“. Es verhält sich zum Leben des Porträtierten sehr diskret, ohne es auszublenden, und ist ein luzider, in einem überaus klaren und unangestrengten Stil geschriebener fortlaufender Kommentar zum Gesamtwerk in allen seinen Facetten, von den Bemerkungen zu Kafka und den „Nihilismus“, das Modethema der Nachkriegszeit bis zur lebenslangen Faszination durch Goethe wie durch die Technik. Beide, Zill wie Goldstein, porträtieren den Hochschullehrer Blumenberg, der seit dem Sommersemester 1978 keine Seminare und Kolloquien mehr, sondern nur noch Vorlesungen anbot, als so unwiderstehlichen wie gegenüber dem Publikum rücksichtslosen Monologisierer. Als junger Student hat Goldstein Blumenberg noch erlebt.
Zill erläutert den Zettelkasten Blumenbergs im Rückblick auf Schreibprozesse, in denen kurz vor ihrer Abdankung die Techniken analoger Gelehrsamkeit noch einmal kräftig aufblühen. Ein Bravourstück ist sein „close reading“ der Lektürespuren, mit denen Blumenberg den kurz zuvor erschienenen Aufsatz Niklas Luhmanns über dessen Zettelkasten versehen hat. Zills Focus ist nicht nur hier das Archiv samt der penibel geführten Lektüreliste, die produktive Zone, in welcher der „absolute Leser“ seine Autorschaft vorantreibt.
Blumenberg ist am 28. März 1996 gestorben, aber er führt seitdem als Autor ein überaus reiches Nachleben. Jürgen Goldstein kennt die Archivexistenz Blumenbergs, aber sein Focus ist die Bibliothek, aus der die Lektüren kommen und in die sie eingehen. Zu recht mag er ihn auf eine Formel nicht festlegen, etwa die von Odo Marquard in seinem Nachruf ins Spiel gebrachte, sein Zentralmotiv sei die „Entlastung vom Absoluten“ gewesen: der mythischen Gewalt, des christlichen Willkürgottes, der Übermacht des Politischen.
Und er nimmt Blumenbergs Hang zur Anekdote gegen das Misstrauen in Schutz, hier suche einer Erholung von den Anstrengungen des Begriffs im Spiel mit den Formen der Literatur. Das Misstrauen traf einen gewissen Hang zum Virtuosentum, aber nicht den Kern von Blumenbergs Interesse an Metaphern und an einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“. Es zielte nicht auf Ermäßigung begrifflicher Anstrengung oder Flucht in die Anschaulichkeit, sondern auf die Vervollständigung und Selbstaufklärung der Begriffsgeschichte durch eine Überprüfung der Metaphern, die unvermeidlich und notwendig zur Geschichte des Denkens gehören. Für die Lektüre von Blumenbergs nun aus dem Nachlass herausgegebenes Buch „Realität und Realismus“ ist Goldstein der ideale Begleiter. Nicht nur, weil er Blumenbergs Deutungen der Wirklichkeitsauffassungen in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne so gut kennt, sondern vor allem, weil er die „Geschichtlichkeit“ in Blumenbergs Denken und Werk mit der konkreten Zeitgeschichte verknüpft. Durch die Bücher von Zill und Goldstein tritt die Geschichte als Schreibhintergrund hervor, vom Nationalsozialismus über die Atomdebatten bis zur Mondlandung. Man lese in „Realität und Realismus“ die Passage, in der Blumenberg die Lebenserinnerungen des Anklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, Robert M.W. Kempner, kommentiert.
Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten, 28 Euro.
Hans Blumenberg: Realität und Realismus. Herausgegeben von Nicola Zambon. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 230 Seiten, 30 Euro.
Jürgen Goldstein: Hans Blumenberg. Ein philosophisches Porträt. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 624 Seiten, 34 Euro.
Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie. 816 Seiten, 38 Euro.
Weil seine Mutter Jüdin war,
stuften ihn die Nationalsozialisten
als „wehrunwürdig“ ein
Der Zettelkasten war für ihn
so wichtig wie
für Galilei das Fernrohr
Sein Hang zum Virtuosentum,
zum intellektuellen Hochseilakt,
erregte auch Misstrauen
Hans Blumenberg im Mercedes des befreundeten Ehepaars Schorr, circa 1958.
Foto: Archiv Bettina Blumenberg
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