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Überraschend ist der Befund von Gerhard A. Ritter nicht: Genscher und seine Diplomaten wirkten am schwierigen Prozess der Wiedervereinigung entscheidend mit, wenn auch im Schatten des Kanzlers.
Von Hanns Jürgen Küsters
Wenn der Altmeister der deutschen Historiker-Zunft aus "erst jetzt" zugänglichen Quellen zur Feder greift, um die Geschichte der außenpolitischen Wiedervereinigung zu schreiben, darf der Leser gespannt sein. Vorweg gesagt: Allzu hohe Erwartungen werden enttäuscht. Wer die verfügbaren Dokumente kennt und mit der Forschungsliteratur vertraut ist, findet kaum neue Einsichten oder Argumente.
Gerhard A. Ritter erhebt den Anspruch, aufgrund jüngster Publikationen aus russischen Archiven, vor einigen Jahren veröffentlichter Editionen des britischen Staatsarchivs und von französischer Seite sowie nun zugänglicher Akten des Auswärtigen Amts und des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten der DDR die Entstehung des Zwei-plus-vier-Vertrages darzulegen. Eigentlich geht es ihm nur darum, die Rolle Hans-Dietrich Genschers und des Auswärtigen Amts in den Fokus zu rücken. Beide kommen ihm gegenüber Helmut Kohls Anteil und dem Einfluss des Bundeskanzleramtes zu kurz. Ritters These, Genscher und das Auswärtige Amt hätten entscheidend an der Wiedervereinigung mitgewirkt, ist weder neu noch originell. Folglich war es nicht der Kanzler der Einheit, sondern der Bundesaußenminister, der die wirtschaftliche und innenpolitische Schwäche der Sowjetunion mitsamt Gorbatschows eingeschränktem Handlungsspielraum erkannte und ihn sowie Außenminister Eduard Schewardnadse bewegte, ihre Vorbehalte gegen die deutsche Einheit aufzugeben.
Wer Unbekanntes über interne Einschätzungen der Bonner Diplomaten in den Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung erwartet, wird bitter enttäuscht. Kein Hinweis darauf, wie die Direktorenrunde im Auswärtigen Amt die jeweilige Lage einschätzte, welche Überlegungen und Erwartungshaltungen in der Umbruchsphase herrschten, welche Denkansätze zur Lösung der deutschen Frage diskutiert wurden oder wo es Meinungsunterscheide gab. Dafür zeichnet Ritter über weite Strecken das nach, was seit Jahren jeder nachlesen kann: dass Genscher - zweifellos sein Verdienst - Kohl drängte, Gorbatschows Politik der Perestrojka ernst zu nehmen, dass Kohl alle bei der Verkündung des Zehn-Punkte-Plans überrollte und dass Genscher ihn dennoch in Moskau gegenüber Gorbatschows Vorwürfe, der Kanzler presche zu schnell vor, verteidigte.
Bekannt sind auch missglückte Vorstöße des Außenministers, Kohl im Sinne der Forderung Polens zur vorzeitigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu drängen. Oder der Vorschlag, aus Angst, Gorbatschow zu überfordern, lieber einen zweigeteilten Sicherheitsstatus für die alte Bundesrepublik und das Gebiet der alten DDR zu akzeptieren als das gesamte Deutschland unter den Schutz von Artikel 5 und 6 Nato-Vertrag zu stellen. Genschers Plädoyer für eine neue blockübergreifende Sicherheitsarchitektur in Europa im Rahmen der KSZE stellte zeitweilig den Warschauer Pakt und die Nato zur Disposition und provozierte bei Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg Widerstand.
Was Ritter über die Zwei-plus-vier-Verhandlungen schreibt, kennt man hinlänglich. Er rückt die Diplomatenrunden in den Mittelpunkt und stellt so die Bedeutung der bilateralen Gespräche von Genscher und Schewardnadse heraus. Dadurch weist er Genscher beim Zustandekommen des sowjetischen Ja zur Wiedervereinigung und zur Nato-Mitgliedschaft Deutschlands die zentrale Rolle zu. Nicht Bush und Gorbatschow hätten auf ihrem Gipfel Ende Mai/Anfang Juni 1990 in Washington den Durchbruch erzielt. Nein, Genscher habe Schewardnadse in den anschließenden Treffen die Zustimmung abgerungen, bevor Kohl Mitte Juli 1990 nach Moskau und in den Kaukasus reiste, um die Ergebnisse zu besiegeln.
In Wirklichkeit kam der Zwei-plus-vier-Vertrag erst voran, nachdem in bilateralen Gesprächen Kohl, Bush, Gorbatschow, Mitterrand und Thatcher Einvernehmen über Grundsatzfragen wie die Erlangung der Souveränität, den ABC-Waffenverzicht und die Regelung der Oder-Neiße-Grenze hergestellt hatten. Dazu gehörten ebenso der Umbau der Nato und der parallele Beginn der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einschließlich der von Kohl schon vorher beabsichtigten Aufgabe der D-Mark zugunsten einer europäischen Währung.
Bemerkenswert sind Ritters Hinweise auf die Beratertätigkeit von Egon Bahr im Umfeld des DDR-Außenministers Markus Meckel. Anscheinend hat Bahr im Hintergrund versucht, über Meckel eine europäische Friedensordnung herbeizuführen, in denen die Bündnisse aufgelöst werden und getrennte deutsche Armeen fortbestehen sollten. In der West-SPD wollten einige das DDR-Außenministerium mit der Forderung nach Denuklearisierung der Bundesrepublik und den Aufbau einer regionalen Sicherheitszone zwischen den beiden Paktsystemen in eine Blockadeposition hineinmanövrieren, um damit die Profilierungschancen für die SPD im Einigungsprozess zu erhöhen. Tatsächlich geriet Meckel international noch mehr in die Bredouille. Auch weil SED-Seilschaften im DDR-Außenministerium teils dilettantische und idealistische Vorstellungen hegten, die Einigung in Absprache mit orthodoxen Kräften in Moskau konterkarieren zu können.
Leider vermeidet Ritter klare Aussagen, ob es zwischen Gorbatschow und Schewardnadse ernsthafte Auffassungsunterschiede gab und ob beide mit verteilten Rollen versuchten, von Bonn maximale Geldleistungen herauszuholen. Die Gründe für deren Einwilligung zur Nato-Mitgliedschaft Deutschlands waren, wie Ritter zu Recht herausarbeitet, vielfältig. Nach dem Mauerfall besaßen die Sowjets kein wirksames Instrument, die wirtschaftlich kollabierende DDR aus eigenen Mitteln zu stabilisieren und die Wiedervereinigung zu verhindern. Einzige Option wäre eine militärische Intervention gewesen. Sie hätte aber Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestrojka unglaubwürdig gemacht.
Die sich abzeichnende Auflösung des Warschauer Pakts zwang die Kremlherren, die Sicherheitskontrolle über Deutschland allein der Nato zu überlassen, auch weil sie selbst nicht die Kosten für die weitere Truppenstationierung aufbringen wollten. Moskau fürchtete zudem eine internationale Isolierung, denn die Führung hatte es versäumt, ein Sicherheitskonzept für die Stellung Deutschlands im zusammenbrechenden Osteuropa zu definieren. Angesichts eigener Finanz- und Wirtschaftsprobleme waren die Sowjets am Ende froh, Zahlungen von Deutschland als Gegenleistung für ihren Truppenrückzug zu bekommen.
Ritters Fazit lautet: Das Bild Kohls und seines Beraters Horst Teltschik als maßgebliche Entscheidungsträger der außenpolitischen Wiedervereinigung müsse durch die Rolle Genschers und der Mitarbeiter des Auswärtigen Amts ergänzt werden. Bisher hervorgehobene Differenzen zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt seien nicht so groß gewesen. Vielmehr hätte über weite Strecken der Verhandlungen eine Arbeitsteilung bestanden. Dabei habe Genscher mit seiner flexiblen, nach Kompromissen suchenden Politik die Wiedervereinigung befördert. Hat dieser seinen Anteil nicht schon oft genug medial betont? Manchmal muss alles zweimal gesagt werden und bekommt erst Gewicht, wenn es auch der Geschichtsdoyen von sich gegeben hat.
Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung.
C. H. Beck Verlag, München 2013. 264 S., 26,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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