Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2011Der lange Weg durch die Mitte
Wolfgang Büscher wandert durch Amerika und traut sich nicht über den Weg
Eine verkehrte Art des Reiseberichts, die dem Leser das Land rätselhaft macht, statt ihn mit Tipps zu behelligen
Je weiter man Wolfgang Büscher auf seinen Märschen folgt, desto mehr Fragen stellen sich. Dies ist nun schon die dritte Reise zu Fuß, die er in einem Buch beschreibt, und wer die beiden vorigen gelesen hat, müsste langsam wissen, um was es auf diesen Reisen geht oder zumindest wer da geht, aber das Gegenteil ist der Fall.
Im Fall dieser Reise durch Amerika kommt hinzu, dass der allein und zu Fuß gehende Mann mittleren Alters dort eine suspekte Erscheinung ist, zumal, wenn er früh im Jahr und durch die Mitte läuft. Ohne Auto, ohne Arbeitsmittel, ohne Familie, ja nicht mal mit Hund - solche Gestalten kennt dort nur der Horrorfilm, im Rucksack kann man Machete und Schrumpfkopf vermuten. Das weiß und spürt der Wanderer, der sich bald selbst suspekt ist. Schon bei der Einreise, die eine fiese und demütigende Verhörprozedur vorsieht, neigt der Reisende dazu, sich in vorauseilender Hermeneutik immer auch mit dem Blick der Grenzbeamten zu sehen und auf die Frage, wohin und was er eigentlich wolle, keine rechte Antwort zu wissen. Auf seiner Route steht ja keine Sehenswürdigkeit, er verfolgt keine Mission, nicht mal Termine mit aussagefähigen Personen wurden vereinbart. Er geht, als habe er die Landkarte nicht ausfalten können, stracks von oben nach unten, einmal durch die Mitte und kreuzt die Wege der alten Entdecker, öfter aber noch die Pfade der Indianer, mit denen ihn eine alte Liebe verbindet. Sie wird aber nur mäßig erwidert.
Die entscheidenden Abzweigungen führen den Wanderer in die ferne Vergangenheit, entlang der Geschichten von Black Elk oder dem deutschen Forscher Maximilian zu Wied, der 1833 an der Mündung des Heart Rivers an Land ging. In dieser für die neue Welt langen historischen Perspektive ist die Besiedlung des Westens eine Verlustgeschichte. Die Reflexion darüber, die Trauer auch, durchzieht das Buch.
Wie in all seinen Büchern schafft Büscher eine ganz eigene Erzählzeit und durchquert Länder, die in den uns vertrauten Gebieten bislang unentdeckt waren. Man kann gar nicht sagen, in welchem Jahr die Reise stattfand oder wie lange sie nun gedauert hat. Diesen Effekt erzielt er durch die gründlich durchdachte, altmeisterliche Sprache, deren Sound so unverwechselbar ist und der man so leicht verfällt: "Nichts gleicht dem Frieden, den fallender Schnee über das Gemüt des Wanderers wirft."
Es ist eine verkehrte Art des Reiseberichts, die dem Leser das Land fremd und rätselhaft macht, statt ihn etwa mit Tipps und Touren zu behelligen. Eine dieser amerikanischen Fragen ist, wohin der Buchstabe E verschwunden ist, der aus dem Heartland, dem Herzland, ein Hartland macht. Dass solche Fragen lebensentscheidend sein können, wissen Amerikafreunde seit jener öffentlichen Schulstunde, in welcher der damalige Vizepräsident Dan Quayle einem Schüler aus dem Plural von potato das E strich - und damit den Fehler beging, der seine Karriere ruinierte und ihm den Ruf einbrachte, ein Idiot zu sein. Mit dem E verschwinden die guten Geister.
Das harte Land liegt vor dem Fenster eines Hauses, in dem ein krebskranker Greis mit Gewehr sitzt und eine Website pflegt, die an seine große Zeit als Jäger und Soldat erinnert. Herzlich ist hier nichts mehr, die Leere der Mitte Amerikas ist eine einzige existentialistische Herausforderung. Die passende Antwort darauf ist, so erfährt es der Reisende immer wieder, das Spiel. Ob im Casino, am Automaten, beim Rodeo oder in der Politik - mit jeder neuen Partie geht das große Abwägen der Schicksalsmächte von Neuem los, und was könnte spannender sein in dieser von Weite und Langeweile geplagten Gegend.
Leider verrät uns das Buch kaum etwas von den praktischen Fragen, die auf so einer Tour zu lösen sind, außer wenn es wirklich eng wird. Einmal macht er in einem Eichenwald Rast, legt sein Gepäck am Fuße eines Baums ab und erkundet die Umgebung. Dann findet er den Baum nicht mehr, oder der Rucksack wurde geklaut. Immerhin beschert uns die Episode einen der seltenen relativ heiteren Sätze des Buches, als er sich nämlich vergeblich an Merkmale oder Zeichen des Baumstamms zu erinnern versucht, daran aber angesichts der Fülle der Bäume verzweifelt: "So viele Eichen, so viele Zeichen." Er erfährt dann, mitten in Texas, eine spontane Hilfsbereitschaft von zufällig vorbeikommenden, einfachen Leuten - das ist wirklich der schönste und anmutigste Charakterzug dort. Viele Amerikareisende haben Ähnliches erlebt.
Die beklemmendste Episode des Buches ist eine, die gar nicht stattgefunden hat. Eines Abends, es war in Fremont, nicht weit von Omaha, findet er kein anderes Quartier als ein freundliches Obdachlosenasyl. Es geht alles gut, aber eine Art innerer Stimme überwältigt den deutschen Alleinreisenden: "Du bist hier, weil du hierher gehörst (. . .) Du zögertest vorhin, die Klingel zu drücken, nun füge dich, nun drückst du sie jeden Tag." Es ist eine Zwangsvorstellung. Abermals übernimmt er den Blick der besorgten Fürsorger und wird darin vom Alleinreisenden zum Penner, und er entkommt ihr nur, indem er seinen Rucksack nimmt und sich beweist, dass er frei ist, hinauszulaufen und einen Bus zu nehmen. Die Erleichterung darüber empfindet auch der Leser: "Plötzlich erschien mir die öde Landschaft aus Motels, Imbissen und Tankstellen als das Reich der Freiheit und die gen Himmel ragenden Werbemasten wie versteinerte urweltliche Baumriesen."
Kurz vor Mexiko entdeckt er noch eine Art Abbild des Paradieses, jenseits der Grenze aber eine menschliche Hölle, so viel wird dort geschossen und gestorben. Es gibt aber einen Priester dort, der ihn gleich abschleppen will, und als der Reisende fragt, wohin, antwortet der: "Beichten. Sie sehen aus, als könnten Sie's brauchen."
Da denkt der Leser an all das zurück, was im Buch keine Erwähnung findet, an die Schnitte, Abblenden und Schwarzbilder und fragt sich erst recht, mit wem er da eigentlich gereist ist.
NILS MINKMAR
Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin 2011, 302 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Büscher wandert durch Amerika und traut sich nicht über den Weg
Eine verkehrte Art des Reiseberichts, die dem Leser das Land rätselhaft macht, statt ihn mit Tipps zu behelligen
Je weiter man Wolfgang Büscher auf seinen Märschen folgt, desto mehr Fragen stellen sich. Dies ist nun schon die dritte Reise zu Fuß, die er in einem Buch beschreibt, und wer die beiden vorigen gelesen hat, müsste langsam wissen, um was es auf diesen Reisen geht oder zumindest wer da geht, aber das Gegenteil ist der Fall.
Im Fall dieser Reise durch Amerika kommt hinzu, dass der allein und zu Fuß gehende Mann mittleren Alters dort eine suspekte Erscheinung ist, zumal, wenn er früh im Jahr und durch die Mitte läuft. Ohne Auto, ohne Arbeitsmittel, ohne Familie, ja nicht mal mit Hund - solche Gestalten kennt dort nur der Horrorfilm, im Rucksack kann man Machete und Schrumpfkopf vermuten. Das weiß und spürt der Wanderer, der sich bald selbst suspekt ist. Schon bei der Einreise, die eine fiese und demütigende Verhörprozedur vorsieht, neigt der Reisende dazu, sich in vorauseilender Hermeneutik immer auch mit dem Blick der Grenzbeamten zu sehen und auf die Frage, wohin und was er eigentlich wolle, keine rechte Antwort zu wissen. Auf seiner Route steht ja keine Sehenswürdigkeit, er verfolgt keine Mission, nicht mal Termine mit aussagefähigen Personen wurden vereinbart. Er geht, als habe er die Landkarte nicht ausfalten können, stracks von oben nach unten, einmal durch die Mitte und kreuzt die Wege der alten Entdecker, öfter aber noch die Pfade der Indianer, mit denen ihn eine alte Liebe verbindet. Sie wird aber nur mäßig erwidert.
Die entscheidenden Abzweigungen führen den Wanderer in die ferne Vergangenheit, entlang der Geschichten von Black Elk oder dem deutschen Forscher Maximilian zu Wied, der 1833 an der Mündung des Heart Rivers an Land ging. In dieser für die neue Welt langen historischen Perspektive ist die Besiedlung des Westens eine Verlustgeschichte. Die Reflexion darüber, die Trauer auch, durchzieht das Buch.
Wie in all seinen Büchern schafft Büscher eine ganz eigene Erzählzeit und durchquert Länder, die in den uns vertrauten Gebieten bislang unentdeckt waren. Man kann gar nicht sagen, in welchem Jahr die Reise stattfand oder wie lange sie nun gedauert hat. Diesen Effekt erzielt er durch die gründlich durchdachte, altmeisterliche Sprache, deren Sound so unverwechselbar ist und der man so leicht verfällt: "Nichts gleicht dem Frieden, den fallender Schnee über das Gemüt des Wanderers wirft."
Es ist eine verkehrte Art des Reiseberichts, die dem Leser das Land fremd und rätselhaft macht, statt ihn etwa mit Tipps und Touren zu behelligen. Eine dieser amerikanischen Fragen ist, wohin der Buchstabe E verschwunden ist, der aus dem Heartland, dem Herzland, ein Hartland macht. Dass solche Fragen lebensentscheidend sein können, wissen Amerikafreunde seit jener öffentlichen Schulstunde, in welcher der damalige Vizepräsident Dan Quayle einem Schüler aus dem Plural von potato das E strich - und damit den Fehler beging, der seine Karriere ruinierte und ihm den Ruf einbrachte, ein Idiot zu sein. Mit dem E verschwinden die guten Geister.
Das harte Land liegt vor dem Fenster eines Hauses, in dem ein krebskranker Greis mit Gewehr sitzt und eine Website pflegt, die an seine große Zeit als Jäger und Soldat erinnert. Herzlich ist hier nichts mehr, die Leere der Mitte Amerikas ist eine einzige existentialistische Herausforderung. Die passende Antwort darauf ist, so erfährt es der Reisende immer wieder, das Spiel. Ob im Casino, am Automaten, beim Rodeo oder in der Politik - mit jeder neuen Partie geht das große Abwägen der Schicksalsmächte von Neuem los, und was könnte spannender sein in dieser von Weite und Langeweile geplagten Gegend.
Leider verrät uns das Buch kaum etwas von den praktischen Fragen, die auf so einer Tour zu lösen sind, außer wenn es wirklich eng wird. Einmal macht er in einem Eichenwald Rast, legt sein Gepäck am Fuße eines Baums ab und erkundet die Umgebung. Dann findet er den Baum nicht mehr, oder der Rucksack wurde geklaut. Immerhin beschert uns die Episode einen der seltenen relativ heiteren Sätze des Buches, als er sich nämlich vergeblich an Merkmale oder Zeichen des Baumstamms zu erinnern versucht, daran aber angesichts der Fülle der Bäume verzweifelt: "So viele Eichen, so viele Zeichen." Er erfährt dann, mitten in Texas, eine spontane Hilfsbereitschaft von zufällig vorbeikommenden, einfachen Leuten - das ist wirklich der schönste und anmutigste Charakterzug dort. Viele Amerikareisende haben Ähnliches erlebt.
Die beklemmendste Episode des Buches ist eine, die gar nicht stattgefunden hat. Eines Abends, es war in Fremont, nicht weit von Omaha, findet er kein anderes Quartier als ein freundliches Obdachlosenasyl. Es geht alles gut, aber eine Art innerer Stimme überwältigt den deutschen Alleinreisenden: "Du bist hier, weil du hierher gehörst (. . .) Du zögertest vorhin, die Klingel zu drücken, nun füge dich, nun drückst du sie jeden Tag." Es ist eine Zwangsvorstellung. Abermals übernimmt er den Blick der besorgten Fürsorger und wird darin vom Alleinreisenden zum Penner, und er entkommt ihr nur, indem er seinen Rucksack nimmt und sich beweist, dass er frei ist, hinauszulaufen und einen Bus zu nehmen. Die Erleichterung darüber empfindet auch der Leser: "Plötzlich erschien mir die öde Landschaft aus Motels, Imbissen und Tankstellen als das Reich der Freiheit und die gen Himmel ragenden Werbemasten wie versteinerte urweltliche Baumriesen."
Kurz vor Mexiko entdeckt er noch eine Art Abbild des Paradieses, jenseits der Grenze aber eine menschliche Hölle, so viel wird dort geschossen und gestorben. Es gibt aber einen Priester dort, der ihn gleich abschleppen will, und als der Reisende fragt, wohin, antwortet der: "Beichten. Sie sehen aus, als könnten Sie's brauchen."
Da denkt der Leser an all das zurück, was im Buch keine Erwähnung findet, an die Schnitte, Abblenden und Schwarzbilder und fragt sich erst recht, mit wem er da eigentlich gereist ist.
NILS MINKMAR
Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin 2011, 302 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2011Das Maß des weiten Raumes
Wolfgang Büscher reist zu Fuß – diesmal durch die USA, und wenn irgendwo der Fußgänger eine bizarre Figur ist, dann in diesem Land
Friedrich Nietzsche unterschied zwischen den ersessenen Wahrheiten, die sich am Schreibtisch einstellen, und den ergangenen – seinen –, die nur dem zufallen, der zu Fuß unterwegs ist. Auf dieser Spur wandelt Wolfgang Büscher. Nicht hinter dem Steuer des Autos oder vom Sessel der Bahn aus erschließt er sich die Länder, die er bereist; er schnürt seinen Rucksack und geht. Auf diese Weise hat Büscher bereits die Strecke Berlin-Moskau zurückgelegt und Deutschland entlang seiner Grenzen umrundet. Nun hat er sich seinen bisher längsten Weg ausgewählt: Er durchmisst die Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar nicht auf der üblichen Ost-West-Achse, sondern von Norden nach Süden, von North Portal an der kanadischen Grenze bis Matamoros in Mexiko, quer durch jenes Areal also, das die Snobs in New York und San Francisco gern Fly-over-Country nennen, seine Bewohner aber Middle America oder, noch lieber, Heartland.
Diesen Eigennamen hat auch Büscher zum Titel genommen, aber mit signifikanter Veränderung eines einzelnen Buchstaben: „Hartland“ nennt er sein Buch und deutet damit an, dass es ihm hier saurer als anderswo geworden ist, sein Vorhaben auszuführen. Hartland, so heißt einer jener zahlreichen Geisterorte, die in der Prärie zurückgeblieben sind, als die Leute abzogen, heute nur noch ein halbes Dutzend verfallener Bretterbuden – aber gut genug für ein Nachtquartier, wenn sich in diesem bestürzend leeren Land sonst absolut nichts finden lässt, eiskalt, aber wenigstens schneefrei.
Denn Büscher startet, was wohl wenige sonst riskiert hätten, mitten im kontinentalen Winter. Es ist nicht die einzige Härte, auf die er trifft; die erste und schlimmste erwartet ihn gleich an der Grenze. Wenn es stimmt, dass man über ein Land nirgends so viel erfährt wie an seiner Grenze, dann steht es nicht gut um die USA. Ein einzelner Wanderer, der Einreise begehrt, das bedeutet etwas Unvorstellbares; Büscher wird stundenlang festgehalten und von einem Offiziellen ohne Uniform, den er zunächst für eine Art Gärtner gehalten hatte, auf demütigende Weise verhört.
Insbesondere sein Pass mit den vielen Visa erregt Argwohn. Was er denn in China gewollt habe? Die Kommies dort, das seien wohl seine Kumpel? Jordanien! Ein arabisches, folglich terroristisches Land. Verächtlich und zugleich furchtsam betrachtet sein Gegenüber die Kringel einer Schrift, die er nicht versteht. Eindringlich schildert Büscher, wie sich die Grenzbaracke in ein kleines Guantanamo verwandelt, eine überschnappende Wut, die in Angst wurzelt. Erst als der Verhörer sich brüllend darauf versteift, der Papst sei nicht Deutscher, sondern Österreicher (offenbar hat hier eine Verwechslung mit Hitler stattgefunden) und er seinen Irrtum einsehen muss, erhält Büscher den ersehnten Stempel.
Ein Reisender zu Fuß ist aber auch eine zu bizarre Erscheinung. Sie ruft immer Erstaunen hervor, zuweilen Feindseligkeit, meist aber Mitleid. In einem Vorort faucht ihn ein Autofahrer aus dem heruntergekurbelten Wagenfenster an: „Get yourself a goddam car!“ Zweimal wird er von einem lokalen Sheriff aufgegriffen und mit gespreizten Armen und Beinen an dessen Dienstfahrzeug gelehnt, wie man es aus Film und Fernsehen kennt, auf Waffen durchsucht; aber nach dieser Routine erbarmt sich der Arm des Gesetzes und nimmt ihn mit in den nächsten Ort, denn man kann selbst einen solchen Kauz ja unmöglich einfach in der Landschaft stehen lassen. Und immer wieder bekommt der Wanderer vom Steuer eines verdreckten Pick-up-Trucks zu hören: „Need a ride?“
Büscher schlägt es selten aus; denn nicht nur erweisen sich die Wege dann doch als zu lang und ungangbar, sondern es ist auch die beste Methode, die Leute kennenzulernen. Die Gastlichkeit, für die Amerika immer berühmt war, ist nicht tot; aber sie hat sich in einer Zeit des offiziellen Verfolgungswahns ins Private zusammengezogen. Ein Cowboy indianischer Herkunft lässt ihn in seinem völlig versifften Trailer Home schlafen, einfach so; ein Krankenpfleger auf der Suche nach einem Job als Trucker schenkt ihm einen selbstgebastelten Rosenkranz aus Glasperlen, den er an seinem Rückspiegel hängen hat. „Für dich. Take care!“
Dem Wanderer fallen feine Unterschiede auf. Die erste Frage, die man an ihn richtet, lautet nicht, wie es in Europa selbstverständlich wäre und bei diesem merkwürdigen Vogel auf der Hand läge: Woher? Sondern: Wohin? So erlebt er Amerika, auch in seiner gegenwärtigen inneren wie äußeren Krise, dennoch vor allem als ein Land der Zukunft. Auf dem Weg vom Norden nach Süden löst allmählich der Cowboyhut die mit dem Logo einer Firma oder eines Sportclubs geschmückte Baseballkappe ab; alle tragen sie in North Dakota, in Texas niemand mehr. Gleichzeitig wechselt die Anrede, vom schlichten „you“, das Wolfgang Büscher als ein Du erlebt, zum südlichen „Sir“.
In Iowa (dem Staat, den man am ehesten vergisst, wenn man alle fünfzig aufzählen soll) beginnt sich nicht nur das meteorologische, sondern auch das soziale Klima zu ändern. „Hier war Grüßland. Man grüßte einander, ganz und gar Fremde eingeschlossen. Wer auf dem Weg vom Kiosk zum Auto meine Bank passierte, nickte, tippte sich an den Hut, rief mir ein Grußwort zu. Gestern noch ein Hobo im Gegenverkehr, war ich über Nacht zu einer grüßenswerten Person geworden, die man nahm wie einen alten Bekannten, sogar auf der Landstraße wurde ich gegrüßt, aus jedem schnell fahrenden Auto heraus. Dass diese Liebenswürdigkeit in kleiner Münze gespendet wird, setzt sie nicht herab, zieht vielmehr den Fremden in den vertrauten Kreis, dem eine so lakonische Geste genügt.“
Den lakonischen Stil pflegt, mit klugem Urteil, auch Wolfgang Büscher. Er weiß, wie schwer es fällt, Neues von einem Land zu sagen, das wie kein anderes in den Köpfen durch seine Bilder präsent ist. Es bedeutet eine Herausforderung an den Schriftsteller; und Büscher erweist sich ihr, abgerechnet die wenigen Stellen, wo der poetische Gaul mit ihm durchgeht, als gewachsen. Das offenkundig untaugliche Mittel des Fußmarschs gibt dem Land sein wahres Maß, das in der Monotonie des Roadmovies nicht zu seinem Recht kommt. Man nimmt es Büscher ab, wenn er schreibt, nichts habe ihn trotz allen visuellen und sonstigen Vorwissens auf die Realität dieses Raums vorbereitet, in dessen unendlicher Weite einzelne Gegenstände eine Bedeutung gewinnen, wie es im überfüllten Europa nie geschehen könnte, und erst recht die Menschen. Der Zufall führt sie ihm entgegen.
Doch aus der Vereinzelung solcher Begegnungen erwächst eine Qualität des Unzufälligen, die das jeweilige Gegenüber zur Gestalt erwachsen lässt – etwas, das Büscher in deutschen Fußgängerzonen nicht so recht hatte gelingen wollen. In Deutschland, dem Land der Wandervögel und kurzen Distanzen, war er nicht jener wunderliche bedürftige Fremdling gewesen, der zur Reaktion nötigt, und darum hatte seinen Erlebnissen das Kontingente angehaftet. Leicht, fühlt man bei der Lektüre, hätte ihm auch anderes passieren können als gerade dies oder jenes, das die Seiten füllt; darunter litt die exemplarische Kraft seines Deutschland-Wanderbuchs. Das ist bei seinem USA-Buch nicht so. Hier hat die gefährliche Mühsal, die er auf sich nahm, ihm das Geschenk des Charakteristischen und der Figur beschert.
BURKHARD MÜLLER
WOLFGANG BÜSCHER: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 301 Seiten, 19,95 Euro.
„Hier war Grüßland.
Man grüßte einander, ganz und
gar Fremde eingeschlossen“
„Need a ride?“ bekommt der Wanderer immer wieder vom Steuer eines verdreckten Pick-up-Trucks zu hören. Foto: TerraVista / LOOK-foto
Der 1951 geborene Journalist und Autor Wolfgang Büscher ist bereits von Berlin nach Moskau gewandert und hat Deutschland entlang seiner Grenzen umrundet. Nun durchmisst er die Vereinigten Staaten von Norden nach Süden.
Foto: Bernd Jonkmanns/laif
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wolfgang Büscher reist zu Fuß – diesmal durch die USA, und wenn irgendwo der Fußgänger eine bizarre Figur ist, dann in diesem Land
Friedrich Nietzsche unterschied zwischen den ersessenen Wahrheiten, die sich am Schreibtisch einstellen, und den ergangenen – seinen –, die nur dem zufallen, der zu Fuß unterwegs ist. Auf dieser Spur wandelt Wolfgang Büscher. Nicht hinter dem Steuer des Autos oder vom Sessel der Bahn aus erschließt er sich die Länder, die er bereist; er schnürt seinen Rucksack und geht. Auf diese Weise hat Büscher bereits die Strecke Berlin-Moskau zurückgelegt und Deutschland entlang seiner Grenzen umrundet. Nun hat er sich seinen bisher längsten Weg ausgewählt: Er durchmisst die Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar nicht auf der üblichen Ost-West-Achse, sondern von Norden nach Süden, von North Portal an der kanadischen Grenze bis Matamoros in Mexiko, quer durch jenes Areal also, das die Snobs in New York und San Francisco gern Fly-over-Country nennen, seine Bewohner aber Middle America oder, noch lieber, Heartland.
Diesen Eigennamen hat auch Büscher zum Titel genommen, aber mit signifikanter Veränderung eines einzelnen Buchstaben: „Hartland“ nennt er sein Buch und deutet damit an, dass es ihm hier saurer als anderswo geworden ist, sein Vorhaben auszuführen. Hartland, so heißt einer jener zahlreichen Geisterorte, die in der Prärie zurückgeblieben sind, als die Leute abzogen, heute nur noch ein halbes Dutzend verfallener Bretterbuden – aber gut genug für ein Nachtquartier, wenn sich in diesem bestürzend leeren Land sonst absolut nichts finden lässt, eiskalt, aber wenigstens schneefrei.
Denn Büscher startet, was wohl wenige sonst riskiert hätten, mitten im kontinentalen Winter. Es ist nicht die einzige Härte, auf die er trifft; die erste und schlimmste erwartet ihn gleich an der Grenze. Wenn es stimmt, dass man über ein Land nirgends so viel erfährt wie an seiner Grenze, dann steht es nicht gut um die USA. Ein einzelner Wanderer, der Einreise begehrt, das bedeutet etwas Unvorstellbares; Büscher wird stundenlang festgehalten und von einem Offiziellen ohne Uniform, den er zunächst für eine Art Gärtner gehalten hatte, auf demütigende Weise verhört.
Insbesondere sein Pass mit den vielen Visa erregt Argwohn. Was er denn in China gewollt habe? Die Kommies dort, das seien wohl seine Kumpel? Jordanien! Ein arabisches, folglich terroristisches Land. Verächtlich und zugleich furchtsam betrachtet sein Gegenüber die Kringel einer Schrift, die er nicht versteht. Eindringlich schildert Büscher, wie sich die Grenzbaracke in ein kleines Guantanamo verwandelt, eine überschnappende Wut, die in Angst wurzelt. Erst als der Verhörer sich brüllend darauf versteift, der Papst sei nicht Deutscher, sondern Österreicher (offenbar hat hier eine Verwechslung mit Hitler stattgefunden) und er seinen Irrtum einsehen muss, erhält Büscher den ersehnten Stempel.
Ein Reisender zu Fuß ist aber auch eine zu bizarre Erscheinung. Sie ruft immer Erstaunen hervor, zuweilen Feindseligkeit, meist aber Mitleid. In einem Vorort faucht ihn ein Autofahrer aus dem heruntergekurbelten Wagenfenster an: „Get yourself a goddam car!“ Zweimal wird er von einem lokalen Sheriff aufgegriffen und mit gespreizten Armen und Beinen an dessen Dienstfahrzeug gelehnt, wie man es aus Film und Fernsehen kennt, auf Waffen durchsucht; aber nach dieser Routine erbarmt sich der Arm des Gesetzes und nimmt ihn mit in den nächsten Ort, denn man kann selbst einen solchen Kauz ja unmöglich einfach in der Landschaft stehen lassen. Und immer wieder bekommt der Wanderer vom Steuer eines verdreckten Pick-up-Trucks zu hören: „Need a ride?“
Büscher schlägt es selten aus; denn nicht nur erweisen sich die Wege dann doch als zu lang und ungangbar, sondern es ist auch die beste Methode, die Leute kennenzulernen. Die Gastlichkeit, für die Amerika immer berühmt war, ist nicht tot; aber sie hat sich in einer Zeit des offiziellen Verfolgungswahns ins Private zusammengezogen. Ein Cowboy indianischer Herkunft lässt ihn in seinem völlig versifften Trailer Home schlafen, einfach so; ein Krankenpfleger auf der Suche nach einem Job als Trucker schenkt ihm einen selbstgebastelten Rosenkranz aus Glasperlen, den er an seinem Rückspiegel hängen hat. „Für dich. Take care!“
Dem Wanderer fallen feine Unterschiede auf. Die erste Frage, die man an ihn richtet, lautet nicht, wie es in Europa selbstverständlich wäre und bei diesem merkwürdigen Vogel auf der Hand läge: Woher? Sondern: Wohin? So erlebt er Amerika, auch in seiner gegenwärtigen inneren wie äußeren Krise, dennoch vor allem als ein Land der Zukunft. Auf dem Weg vom Norden nach Süden löst allmählich der Cowboyhut die mit dem Logo einer Firma oder eines Sportclubs geschmückte Baseballkappe ab; alle tragen sie in North Dakota, in Texas niemand mehr. Gleichzeitig wechselt die Anrede, vom schlichten „you“, das Wolfgang Büscher als ein Du erlebt, zum südlichen „Sir“.
In Iowa (dem Staat, den man am ehesten vergisst, wenn man alle fünfzig aufzählen soll) beginnt sich nicht nur das meteorologische, sondern auch das soziale Klima zu ändern. „Hier war Grüßland. Man grüßte einander, ganz und gar Fremde eingeschlossen. Wer auf dem Weg vom Kiosk zum Auto meine Bank passierte, nickte, tippte sich an den Hut, rief mir ein Grußwort zu. Gestern noch ein Hobo im Gegenverkehr, war ich über Nacht zu einer grüßenswerten Person geworden, die man nahm wie einen alten Bekannten, sogar auf der Landstraße wurde ich gegrüßt, aus jedem schnell fahrenden Auto heraus. Dass diese Liebenswürdigkeit in kleiner Münze gespendet wird, setzt sie nicht herab, zieht vielmehr den Fremden in den vertrauten Kreis, dem eine so lakonische Geste genügt.“
Den lakonischen Stil pflegt, mit klugem Urteil, auch Wolfgang Büscher. Er weiß, wie schwer es fällt, Neues von einem Land zu sagen, das wie kein anderes in den Köpfen durch seine Bilder präsent ist. Es bedeutet eine Herausforderung an den Schriftsteller; und Büscher erweist sich ihr, abgerechnet die wenigen Stellen, wo der poetische Gaul mit ihm durchgeht, als gewachsen. Das offenkundig untaugliche Mittel des Fußmarschs gibt dem Land sein wahres Maß, das in der Monotonie des Roadmovies nicht zu seinem Recht kommt. Man nimmt es Büscher ab, wenn er schreibt, nichts habe ihn trotz allen visuellen und sonstigen Vorwissens auf die Realität dieses Raums vorbereitet, in dessen unendlicher Weite einzelne Gegenstände eine Bedeutung gewinnen, wie es im überfüllten Europa nie geschehen könnte, und erst recht die Menschen. Der Zufall führt sie ihm entgegen.
Doch aus der Vereinzelung solcher Begegnungen erwächst eine Qualität des Unzufälligen, die das jeweilige Gegenüber zur Gestalt erwachsen lässt – etwas, das Büscher in deutschen Fußgängerzonen nicht so recht hatte gelingen wollen. In Deutschland, dem Land der Wandervögel und kurzen Distanzen, war er nicht jener wunderliche bedürftige Fremdling gewesen, der zur Reaktion nötigt, und darum hatte seinen Erlebnissen das Kontingente angehaftet. Leicht, fühlt man bei der Lektüre, hätte ihm auch anderes passieren können als gerade dies oder jenes, das die Seiten füllt; darunter litt die exemplarische Kraft seines Deutschland-Wanderbuchs. Das ist bei seinem USA-Buch nicht so. Hier hat die gefährliche Mühsal, die er auf sich nahm, ihm das Geschenk des Charakteristischen und der Figur beschert.
BURKHARD MÜLLER
WOLFGANG BÜSCHER: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 301 Seiten, 19,95 Euro.
„Hier war Grüßland.
Man grüßte einander, ganz und
gar Fremde eingeschlossen“
„Need a ride?“ bekommt der Wanderer immer wieder vom Steuer eines verdreckten Pick-up-Trucks zu hören. Foto: TerraVista / LOOK-foto
Der 1951 geborene Journalist und Autor Wolfgang Büscher ist bereits von Berlin nach Moskau gewandert und hat Deutschland entlang seiner Grenzen umrundet. Nun durchmisst er die Vereinigten Staaten von Norden nach Süden.
Foto: Bernd Jonkmanns/laif
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Er hat es wieder getan: Wolfgang Büscher, der schon von Berlin nach Moskau zu Fuß unterwegs war, hat nun auf Schusters Rappen die Vereinigten Staaten durchquert. Aber nicht frontiermäßig von Osten nach Westen, sondern von Norden nach Süden. Sehr beeindruckend findet der Rezensent Klaus Birnstiel das Ergebnis. Gegen Grenzposten, den Wind und anderes Wetter hat Büscher zu kämpfen, als größten Erfolg sieht es Birnstiel allerdings, dass er den Kampf gegen die üblichen Amerika-Klischees souverän besteht. Was daran liege, dass Büscher sich einlässt und dass er, dies wohl sogar zuerst, eine Sprache besitzt, die sowohl das Reiseführerdeutsch als auch "die erdenschwere Tiefsinnigkeit reisender Studiosi" weit neben und hinter sich lässt. Er hält die Augen offen, beschreibt Menschen, Landschaft und historische Hinterlassenschaften ganz genau. Heraus kommt erneut, so der Rezensent, ein Reisebericht von ganz eigener und meisterhafter Art.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Büschers Bücher gehören zum Besten, was in den letzten Jahren in deutscher Sprache erschienen ist. Der Spiegel