WER HAT DIE MACHT ZU HASSEN? – Erkundung eines politischen Gefühls
Der Hass, dieses knirschende, zersetzende Gefühl, ist allgegenwärtig. Er brüllt von den Straßen oder flüstert in gutbürgerlicher Feindseligkeit. Er wächst in Parlamentsreden, Querköpfen und Kinderzimmern, und ganz bestimmt nicht im Verborgenen, auch wenn viele ihn gerne dorthin verdammen würden.
Şeyda Kurt holt den Hass raus aus der Verbannung und begibt sich auf die Spuren seines widerständigen Potentials. Dabei interessieren sie vor allem die Menschen als die Subjekte von Hass in einer kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Welt. Wer sind sie, diese Hassenden, und aus welchen Machtverhältnissen kommen sie? Wer darf überhaupt hassen und wer nicht? Welche Gefühle lähmen, welche Gefühle helfen, nicht zu erstarren, und sich immer und immer weiter zu bewegen auf dem Weg in eine gerechtere und zärtliche Gesellschaft?
Schonungslos, launig und jenseits selbstgerechter Entrüstung erkundet Şeyda Kurt den Hass von seiner schöpferischen Seite: als Kategorie der Ermächtigung, der Menschen in ihrem innersten Unbehagen abholen und mobilisieren kann, als widerständiges Handwerk – und nicht zuletzt als dienliches Gefühl, das uns hilft, uns in einem Ozean aus möglichen Reaktionen auf die Welt zurechtzufinden.
Der Hass, dieses knirschende, zersetzende Gefühl, ist allgegenwärtig. Er brüllt von den Straßen oder flüstert in gutbürgerlicher Feindseligkeit. Er wächst in Parlamentsreden, Querköpfen und Kinderzimmern, und ganz bestimmt nicht im Verborgenen, auch wenn viele ihn gerne dorthin verdammen würden.
Şeyda Kurt holt den Hass raus aus der Verbannung und begibt sich auf die Spuren seines widerständigen Potentials. Dabei interessieren sie vor allem die Menschen als die Subjekte von Hass in einer kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Welt. Wer sind sie, diese Hassenden, und aus welchen Machtverhältnissen kommen sie? Wer darf überhaupt hassen und wer nicht? Welche Gefühle lähmen, welche Gefühle helfen, nicht zu erstarren, und sich immer und immer weiter zu bewegen auf dem Weg in eine gerechtere und zärtliche Gesellschaft?
Schonungslos, launig und jenseits selbstgerechter Entrüstung erkundet Şeyda Kurt den Hass von seiner schöpferischen Seite: als Kategorie der Ermächtigung, der Menschen in ihrem innersten Unbehagen abholen und mobilisieren kann, als widerständiges Handwerk – und nicht zuletzt als dienliches Gefühl, das uns hilft, uns in einem Ozean aus möglichen Reaktionen auf die Welt zurechtzufinden.
»Es macht einfach richtig Bock, das zu lesen.« Zeynep Bozbay Das Wetter 20230403
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Helena Schäfer kann Seyda Kurts Abhandlung über den Hass nicht ernstnehmen. Wenn die Autorin mit ihrem Versuch, Hass als produktive Kraft zu beschreiben, an ihr Buch über die Zärtlichkeit anschließt, ahnt Schäfer, dass hier eine gesellschaftliche Utopie entworfen werden soll, die ohne den westlichen Rechtsstaat auskommt. Und das soll ein Sachbuch sein? fragt die Rezensentin skeptisch. Als Ideengeschichte über den Hass taugt ihr der Band daher nur ansatzweise. Auch Kurts Idee, Hass als eine freie Entscheidung zu betrachten, sieht Schäfer kritisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2023Ein riskanter Affekt
Seyda Kurt über gute Seiten des Hasses
Vor zwei Jahren schrieb Seyda Kurt in ihrem Buch "Radikale Zärtlichkeit", die Liebe sei politisch. Ihre Gedanken über ein intimes Miteinander jenseits monogamer Paarbeziehungen stießen gerade bei jüngeren Lesern, die anfingen, Zitate auf Instagram herumzureichen, auf großes Interesse. Anschließend befürchtete Kurt, als "Herzchenhippie" in Erinnerung zu bleiben. Unter dem Titel "Hass - Von der Macht eines widerständigen Gefühls" will sie jetzt richtigstellen: Radikale Zärtlichkeit ist "keine Aufforderung, lieb zu Nazis zu sein". Manchmal sei Hass ein gutes Recht, vielleicht sogar eine politische Pflicht.
Obwohl sie einräumt, ein Unbehagen angesichts eines vermeintlichen Schubladendenkens in der westlichen Philosophie zu verspüren, zeichnet Kurt die westliche Ideengeschichte des Hasses nach: Seit der griechischen Antike sei der Hass als ein Verlangen nach Schaden verstanden worden, als gefährlicher Affekt. Die christliche Tradition habe ihr Übriges getan und den Hass zum abtrünnigen Element des Widerstands gegen die göttliche und irdische Ordnung erklärt. Anderen negativen Emotionen könne die westliche Tradition durchaus noch etwas abgewinnen. Die Empörung etwa sei regelrecht "nobel angesichts der Ungerechtigkeiten der Welt", und die Wut werde akzeptiert, solange sie "augenzwinkernd, lifestylefeministisch und bloß nicht zu aggressiv daherkommt".
Sich hiervon abgrenzend, will Kurt dem Hass etwas Produktives abgewinnen. Sie setzt der These, dass Hass, egal, von wem er ausgeht, moralisch verwerflich sei, Gegenbeispiele entgegen. Im Unterschied zu Carolin Emcke, die 2016 gegen den Hass der Rechten anschrieb, richtet Kurt den Fokus auf den Hass jener, die von Rechten gehasst wurden und werden: kolonisierte, schwarze oder jüdische Menschen, Frauen und queere Personen. Sie schreibt über den bewaffneten Widerstand der Juden im Warschauer Ghetto, über die kurdische Revolutionärin Sakine Cansiz und über Luisa Toledo Sepúlveda, die drei Kinder an die faschistische Militärdiktatur in Chile verloren hat. Sie erzählt von Ilja Jakowlewitsch Lunew aus Maxim Gorkis Roman "Drei Menschen" und von ihrem persönlichen Hass auf Faschisten, deren Aufmärsche sie in ihrer Jugend blockierte.
Anhand dieser Geschichten, gespickt mit Zitaten von Frantz Fanon oder Achille Mbembe, präsentiert Kurt den Hass als widerständige Handlungsform, die politische Veränderung antreiben kann. Diese Ausprägung des Hasses als Instrument der Selbstverteidigung nennt sie "strategischen Hass". Es soll eine Art von Hass sein, die Menschen nicht zustößt, sondern von den Unterdrückten gewählt wird, um sich zu verteidigen oder um Rache zu üben.
Es drängt sich die Frage auf: Geht das überhaupt, den Hass wählen? Kann man sich zu einem Gefühl entscheiden? Oder, wenn der strategische Hass kein Gefühl ist, ist er dann überhaupt noch Hass? Diese analytische Unschärfe wie auch andere Schwachstellen nimmt Kurt selbst vorweg, wenn sie schon im Prolog schreibt, dass sie sich widersprechen wird. Eine solche um sich selbst kreisende Reflexion wirkt durchaus wie ein allzu einfacher Ausweg.
Seyda Kurt weiß, dass der Hass schon dem Klang nach eine Anmaßung ist - er pfeife "ungelenk und feindselig, wie ein kalter, unbändiger Durchzug". Sie hat sich bewusst für den Hass entschieden, um die "Friede-Freude-Eierkuchen"-Mentalität derer zu entlarven, die glauben, man könne Unrecht mit Herzen auf Pappschildern oder Regenbogenbinden aus der Welt schaffen.
Obwohl der Titel ein Gegenstück zu ihrem Bestseller über die Zärtlichkeit vermuten lässt, stellt sich "Hass" als andere Seite derselben Medaille heraus. Die richtigen Menschen zu hassen ist nicht das Gegenteil von radikaler Zärtlichkeit, sondern gehört ebenso zu Kurts Vorstellung einer herrschaftsfreien Welt. Sie will fast alle politischen Strukturen des westlichen Rechtsstaats aushebeln. Ziel ist es, eine politisierte, moralische Gesellschaft auszubilden, in der Gerichte und Gefängnisse überflüssig werden und alle kolonialen und patriarchalen Muster überwunden sind. Abgesehen davon, dass diese Ideen nicht umzusetzen sind, fragt sich, wie ernst man ein Sachbuch nehmen kann, das eine solche Utopie propagiert. HELENA SCHÄFER
Seyda Kurt: "Hass". Von der Macht eines widerständigen Gefühls.
HarperCollins Verlag, Hamburg 2023. 208 S., Abb., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seyda Kurt über gute Seiten des Hasses
Vor zwei Jahren schrieb Seyda Kurt in ihrem Buch "Radikale Zärtlichkeit", die Liebe sei politisch. Ihre Gedanken über ein intimes Miteinander jenseits monogamer Paarbeziehungen stießen gerade bei jüngeren Lesern, die anfingen, Zitate auf Instagram herumzureichen, auf großes Interesse. Anschließend befürchtete Kurt, als "Herzchenhippie" in Erinnerung zu bleiben. Unter dem Titel "Hass - Von der Macht eines widerständigen Gefühls" will sie jetzt richtigstellen: Radikale Zärtlichkeit ist "keine Aufforderung, lieb zu Nazis zu sein". Manchmal sei Hass ein gutes Recht, vielleicht sogar eine politische Pflicht.
Obwohl sie einräumt, ein Unbehagen angesichts eines vermeintlichen Schubladendenkens in der westlichen Philosophie zu verspüren, zeichnet Kurt die westliche Ideengeschichte des Hasses nach: Seit der griechischen Antike sei der Hass als ein Verlangen nach Schaden verstanden worden, als gefährlicher Affekt. Die christliche Tradition habe ihr Übriges getan und den Hass zum abtrünnigen Element des Widerstands gegen die göttliche und irdische Ordnung erklärt. Anderen negativen Emotionen könne die westliche Tradition durchaus noch etwas abgewinnen. Die Empörung etwa sei regelrecht "nobel angesichts der Ungerechtigkeiten der Welt", und die Wut werde akzeptiert, solange sie "augenzwinkernd, lifestylefeministisch und bloß nicht zu aggressiv daherkommt".
Sich hiervon abgrenzend, will Kurt dem Hass etwas Produktives abgewinnen. Sie setzt der These, dass Hass, egal, von wem er ausgeht, moralisch verwerflich sei, Gegenbeispiele entgegen. Im Unterschied zu Carolin Emcke, die 2016 gegen den Hass der Rechten anschrieb, richtet Kurt den Fokus auf den Hass jener, die von Rechten gehasst wurden und werden: kolonisierte, schwarze oder jüdische Menschen, Frauen und queere Personen. Sie schreibt über den bewaffneten Widerstand der Juden im Warschauer Ghetto, über die kurdische Revolutionärin Sakine Cansiz und über Luisa Toledo Sepúlveda, die drei Kinder an die faschistische Militärdiktatur in Chile verloren hat. Sie erzählt von Ilja Jakowlewitsch Lunew aus Maxim Gorkis Roman "Drei Menschen" und von ihrem persönlichen Hass auf Faschisten, deren Aufmärsche sie in ihrer Jugend blockierte.
Anhand dieser Geschichten, gespickt mit Zitaten von Frantz Fanon oder Achille Mbembe, präsentiert Kurt den Hass als widerständige Handlungsform, die politische Veränderung antreiben kann. Diese Ausprägung des Hasses als Instrument der Selbstverteidigung nennt sie "strategischen Hass". Es soll eine Art von Hass sein, die Menschen nicht zustößt, sondern von den Unterdrückten gewählt wird, um sich zu verteidigen oder um Rache zu üben.
Es drängt sich die Frage auf: Geht das überhaupt, den Hass wählen? Kann man sich zu einem Gefühl entscheiden? Oder, wenn der strategische Hass kein Gefühl ist, ist er dann überhaupt noch Hass? Diese analytische Unschärfe wie auch andere Schwachstellen nimmt Kurt selbst vorweg, wenn sie schon im Prolog schreibt, dass sie sich widersprechen wird. Eine solche um sich selbst kreisende Reflexion wirkt durchaus wie ein allzu einfacher Ausweg.
Seyda Kurt weiß, dass der Hass schon dem Klang nach eine Anmaßung ist - er pfeife "ungelenk und feindselig, wie ein kalter, unbändiger Durchzug". Sie hat sich bewusst für den Hass entschieden, um die "Friede-Freude-Eierkuchen"-Mentalität derer zu entlarven, die glauben, man könne Unrecht mit Herzen auf Pappschildern oder Regenbogenbinden aus der Welt schaffen.
Obwohl der Titel ein Gegenstück zu ihrem Bestseller über die Zärtlichkeit vermuten lässt, stellt sich "Hass" als andere Seite derselben Medaille heraus. Die richtigen Menschen zu hassen ist nicht das Gegenteil von radikaler Zärtlichkeit, sondern gehört ebenso zu Kurts Vorstellung einer herrschaftsfreien Welt. Sie will fast alle politischen Strukturen des westlichen Rechtsstaats aushebeln. Ziel ist es, eine politisierte, moralische Gesellschaft auszubilden, in der Gerichte und Gefängnisse überflüssig werden und alle kolonialen und patriarchalen Muster überwunden sind. Abgesehen davon, dass diese Ideen nicht umzusetzen sind, fragt sich, wie ernst man ein Sachbuch nehmen kann, das eine solche Utopie propagiert. HELENA SCHÄFER
Seyda Kurt: "Hass". Von der Macht eines widerständigen Gefühls.
HarperCollins Verlag, Hamburg 2023. 208 S., Abb., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.04.2023Nah am
Anderen
Die Autorin Şeyda Kurt inspiziert
in ihrem neuen Buch
das progressive Potenzial des Hasses
Sonnenblumen im Kinderzimmer und dieses unbändige Gefühl: Hass. „Mit meinen 155 Zentimetern baue ich mich vor dem Spiegel auf, der in der Mitte des Kleiderschranks fixiert ist, ein Dreitürer aus hellem Holzimitat, Poco-Klassiker, die Griffe klobig wie kleine, runde Kartoffeln.“ Im Alter von 12 Jahren sammelt dieses Ich in Şeyda Kurts „Hass“ künstliche Sonnenblumen, Sonnenblumenkerzen, Sonnenblumengemälde, „weil ein Mensch, der erwachsen werden will, keinen Diddl-Plüsch mehr sammeln kann“. Mit dem Fuß tritt sie, „Protagonist*in ihrer eigenen türkischen Soap-Opera“, gegen die Tür des Kinderzimmers, „in die Welt da draußen, die mir meine Eltern verschließen“.
Der Hass gegen die eigenen Eltern, das mag eine Urerfahrung des Gefühls sein. Dafür spricht, dass man bei den Eltern doch lieben lernt. Wo, wenn nicht bei ihnen, also auch den Hass, der ähnlich obsessiv sein kann, und ähnlich Nähe braucht und herstellt wie die Liebe. Mehr Mut erfordert es, sich den Hass einzugestehen. „Wer hasst, hat noch nicht aufgegeben,“ schreibt Kurt.
Der Hass passt von daher beinahe zwingend ins Werk der 1992 geborenen Autorin, die sich in ihrem 2021 erschienenen Buch „Radikale Zärtlichkeit“ zuletzt mit der Liebe beschäftigte. Beide Gefühle betrachtet Kurt explizit politisch, in ihrem Potenzial für Gesellschaften. Im Rückblick auf dieses erste Buch äußert Kurt nun in „Hass“ die Sorge, sie „befürchte, als Herzchenhippie in Erinnerung zu bleiben“. Da kann man entwarnen. Kurt dürfte nach ihrem zweiten Buch vielmehr als eine der interessantesten jungen Autorinnen in diesem Land in Erinnerung bleiben.
Zum Hass also, dem sich Kurt in Fragmenten nähert. Das Persönliche, die Sonnenblumen, die Mutter („ein nachtragender, sehr schöner Mensch“), die prägenden türkischen Filme und Soaps, das blitzt immer wieder hervor, mehr nicht. Dazwischen beschäftigt sich Kurt auf den großen gesellschaftlichen Bahnen mit dem Hass und dem Hassen. Es geht ihr wenig um Rechtsextreme, was wohltuend ist, weil die das Hassen im politischen Gespräch der vergangenen Jahre tatsächlich ein wenig okkupiert hatten. Es sind eher diejenigen, die zu Zielscheiben rechten Hasses werden, für die sich Kurt interessiert, auch als Hassende. Der Hass Unterdrückter „muss nicht immer berechtigt oder gut sein. Aber es gibt ihn“.
Was ist also mit dem Hass von Juden, von Schwarzen, von Armen, von Queeren, von Frauen? Er hat widerständige Kraft, wenn er sich gegen die Unterdrückung richtet. Gleichzeitig zeigt Kurt, wie diskriminierte Menschen in einen „Modus des Nicht-hassen-Dürfens“ geraten, weil ihnen zugeschrieben wird, „von Natur aus hassend und somit bösartig und unmenschlich zu sein“. Zum Widerstand, auch zur legitimen Gewalt Unterdrückter bezieht sich Kurt auf die französische Philosophin Elsa Dorlin. Über allem steht die eben transformative Macht des Hasses, die Kurt inspiziert, „der Hass kann verändern“.
Die Sprache, die Kurt in den programmatischeren Teilen des Buchs nutzt, ist dann die linker Weltentwürfe – sie schreibt von der „kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Welt“, von „rassifizierten Körpern“, „Freund*innenschaft“ und „Nachbar*innenschaft“, streut als ungetüme Stichworte Spätkapitalismus und Neoliberalsimus ein. Sie springt von getöteten Revolutionären in Chile zur türkischen Militäroffensive in der westkurdischen Region Rojava. Das ist nicht immer unmittelbar zugänglich, aber in seinem fragmentalen Aufbau dann eben doch.
Im Ganzen entwickelt „Hass“ eine eigene Poesie, bedient sich auch literarischer Erzählformen. In Einschüben wendet sich Kurt etwa an die Romanfigur Ilja, den Protagonisten aus Maxim Gorkis „Drei Menschen“, der darin über Hunderte Seiten hasst. Wie zum Refrain ihres Buchs wird der wiederholte Einschub „(ich versuche mir eine welt ohne bestrafung vorzustellen, ich weiß nicht, ob das geht, ich weiß nur, dass wenn ich hasse, dieser polizist in meinem kopf bellt, bestrafung, bestrafung, bestrafung).
Als vielleicht radikalste Spielform des Hasses macht Şeyda Kurt die Rache aus, „das ultimativ Verpönte, Niederträchtige. Das Unrechtmäßige“. Die Rache rüttle am Selbstverständnis moderner Gesellschaften, „dass es nur den Fortschritt geben darf, keinen Rückschritt, kein Verweilen, Verkleben, Verleimen in der Vergangenheit“. Sie zitiert Hannah Arendts Kritik am Verzeihen: „Verzicht, sich zu rächen, schweigen und vorübergehen“, das ist nach Arendt „der grundsätzliche Abschied – während Rache immer nah am Anderen bleibt und die Beziehung gerade nicht abreißt.“
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Für Hannah Arendt bedeutete
Verzeihen Abschied, die Rache
jedoch hält den Kontakt
Nach ihrem ersten Buch „Radikale Zärtlichkeit“ fürchtete sie als „Herzchenhippie“ in Erinnerung zu bleiben: die Autorin Şeyda Kurt.
Foto: IMAGO/Panama Pictures
Şeyda Kurt: Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls.
HarperCollins, München 2023. 208 Seiten,
18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Anderen
Die Autorin Şeyda Kurt inspiziert
in ihrem neuen Buch
das progressive Potenzial des Hasses
Sonnenblumen im Kinderzimmer und dieses unbändige Gefühl: Hass. „Mit meinen 155 Zentimetern baue ich mich vor dem Spiegel auf, der in der Mitte des Kleiderschranks fixiert ist, ein Dreitürer aus hellem Holzimitat, Poco-Klassiker, die Griffe klobig wie kleine, runde Kartoffeln.“ Im Alter von 12 Jahren sammelt dieses Ich in Şeyda Kurts „Hass“ künstliche Sonnenblumen, Sonnenblumenkerzen, Sonnenblumengemälde, „weil ein Mensch, der erwachsen werden will, keinen Diddl-Plüsch mehr sammeln kann“. Mit dem Fuß tritt sie, „Protagonist*in ihrer eigenen türkischen Soap-Opera“, gegen die Tür des Kinderzimmers, „in die Welt da draußen, die mir meine Eltern verschließen“.
Der Hass gegen die eigenen Eltern, das mag eine Urerfahrung des Gefühls sein. Dafür spricht, dass man bei den Eltern doch lieben lernt. Wo, wenn nicht bei ihnen, also auch den Hass, der ähnlich obsessiv sein kann, und ähnlich Nähe braucht und herstellt wie die Liebe. Mehr Mut erfordert es, sich den Hass einzugestehen. „Wer hasst, hat noch nicht aufgegeben,“ schreibt Kurt.
Der Hass passt von daher beinahe zwingend ins Werk der 1992 geborenen Autorin, die sich in ihrem 2021 erschienenen Buch „Radikale Zärtlichkeit“ zuletzt mit der Liebe beschäftigte. Beide Gefühle betrachtet Kurt explizit politisch, in ihrem Potenzial für Gesellschaften. Im Rückblick auf dieses erste Buch äußert Kurt nun in „Hass“ die Sorge, sie „befürchte, als Herzchenhippie in Erinnerung zu bleiben“. Da kann man entwarnen. Kurt dürfte nach ihrem zweiten Buch vielmehr als eine der interessantesten jungen Autorinnen in diesem Land in Erinnerung bleiben.
Zum Hass also, dem sich Kurt in Fragmenten nähert. Das Persönliche, die Sonnenblumen, die Mutter („ein nachtragender, sehr schöner Mensch“), die prägenden türkischen Filme und Soaps, das blitzt immer wieder hervor, mehr nicht. Dazwischen beschäftigt sich Kurt auf den großen gesellschaftlichen Bahnen mit dem Hass und dem Hassen. Es geht ihr wenig um Rechtsextreme, was wohltuend ist, weil die das Hassen im politischen Gespräch der vergangenen Jahre tatsächlich ein wenig okkupiert hatten. Es sind eher diejenigen, die zu Zielscheiben rechten Hasses werden, für die sich Kurt interessiert, auch als Hassende. Der Hass Unterdrückter „muss nicht immer berechtigt oder gut sein. Aber es gibt ihn“.
Was ist also mit dem Hass von Juden, von Schwarzen, von Armen, von Queeren, von Frauen? Er hat widerständige Kraft, wenn er sich gegen die Unterdrückung richtet. Gleichzeitig zeigt Kurt, wie diskriminierte Menschen in einen „Modus des Nicht-hassen-Dürfens“ geraten, weil ihnen zugeschrieben wird, „von Natur aus hassend und somit bösartig und unmenschlich zu sein“. Zum Widerstand, auch zur legitimen Gewalt Unterdrückter bezieht sich Kurt auf die französische Philosophin Elsa Dorlin. Über allem steht die eben transformative Macht des Hasses, die Kurt inspiziert, „der Hass kann verändern“.
Die Sprache, die Kurt in den programmatischeren Teilen des Buchs nutzt, ist dann die linker Weltentwürfe – sie schreibt von der „kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Welt“, von „rassifizierten Körpern“, „Freund*innenschaft“ und „Nachbar*innenschaft“, streut als ungetüme Stichworte Spätkapitalismus und Neoliberalsimus ein. Sie springt von getöteten Revolutionären in Chile zur türkischen Militäroffensive in der westkurdischen Region Rojava. Das ist nicht immer unmittelbar zugänglich, aber in seinem fragmentalen Aufbau dann eben doch.
Im Ganzen entwickelt „Hass“ eine eigene Poesie, bedient sich auch literarischer Erzählformen. In Einschüben wendet sich Kurt etwa an die Romanfigur Ilja, den Protagonisten aus Maxim Gorkis „Drei Menschen“, der darin über Hunderte Seiten hasst. Wie zum Refrain ihres Buchs wird der wiederholte Einschub „(ich versuche mir eine welt ohne bestrafung vorzustellen, ich weiß nicht, ob das geht, ich weiß nur, dass wenn ich hasse, dieser polizist in meinem kopf bellt, bestrafung, bestrafung, bestrafung).
Als vielleicht radikalste Spielform des Hasses macht Şeyda Kurt die Rache aus, „das ultimativ Verpönte, Niederträchtige. Das Unrechtmäßige“. Die Rache rüttle am Selbstverständnis moderner Gesellschaften, „dass es nur den Fortschritt geben darf, keinen Rückschritt, kein Verweilen, Verkleben, Verleimen in der Vergangenheit“. Sie zitiert Hannah Arendts Kritik am Verzeihen: „Verzicht, sich zu rächen, schweigen und vorübergehen“, das ist nach Arendt „der grundsätzliche Abschied – während Rache immer nah am Anderen bleibt und die Beziehung gerade nicht abreißt.“
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Für Hannah Arendt bedeutete
Verzeihen Abschied, die Rache
jedoch hält den Kontakt
Nach ihrem ersten Buch „Radikale Zärtlichkeit“ fürchtete sie als „Herzchenhippie“ in Erinnerung zu bleiben: die Autorin Şeyda Kurt.
Foto: IMAGO/Panama Pictures
Şeyda Kurt: Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls.
HarperCollins, München 2023. 208 Seiten,
18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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