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Gefährliches Gewässer: Marilynne Robinson erzählt in "Haus ohne Halt" von einer jungen Außenseiterin, die an einem Bergsee in den Rocky Mountains aufwächst.
In rasendem Tempo skizziert Marilynne Robinson zu Beginn ihres aufwühlenden und melancholischen Romans "Haus ohne Halt" eine Familiengeschichte: den tödlichen Unfall des eigenbrötlerischen Großvaters, dessen Zug von einer Eisenbahnbrücke in den See stürzt; die schweigsame Jugend seiner drei Töchter und das autistische Aufwachsen der beiden Enkelinnen Ruth und Lucille. All das spielt sich in Fingerbone ab, einem verlorenen Ort am Fuße der Rocky Mountains, am Ufer eines schwarzen und bodenlosen Sees, der mit seinem scharfen Raubtiergeruch und seinen jährlichen Überschwemmungen das abgeschiedene Tal beherrscht.
Marilynne Robinson, Pulitzerpreisträgerin des Jahres 2005 und in den Vereinigten Staaten nicht nur für ihre Romane, sondern auch für ihre Essays und Kolumnen bekannt, wurde 1943 an einem derart unberechenbaren See geboren. Wie ihre Heldin Ruth, die Erzählerin der Geschichte, liebte und hasste sie das allgegenwärtige, gurgelnde Wasser, das im Frühlingslicht zu schweben schien und im Winter zu faserigem Eis erstarrte, das so schwer brach "wie junge Knochen". Sie hat dieser dramatischen Landschaft, in der sich die Menschen täglich aufs Neue ihrer Hilflosigkeit bewusst wurden, mit ihrem Roman ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt. Und sie verwebt mit diesem sehr speziellen Lebensgefühl auch die apokalyptisch-religiöse Dimension dieser Geschichte, die von einer existentiellen Entwurzelung erzählt.
Ruth und ihre Schwester Lucille wurden als Kinder heimlich auf der Terrasse der Großmutter abgesetzt, bevor ihre Mutter mit dem Auto in den See fuhr - ein Schmerz, den die empfindsame und träumerische Ruth nie verwindet. Die Erzählzeit des Romans setzt ein, als nach dem Tod der Großmutter ihre Tante Sylvie zurückkehrt, um die inzwischen halbwüchsigen Mädchen aufzuziehen. Sylvie ist eine beeindruckende Figur: klug und verträumt, menschenscheu und völlig unfähig, sich in einer sesshaften Normalität einzurichten. Eine Landstreicherin, die ständig von Busbahnhöfen und Zügen erzählt und von den eigensinnigen Menschen, denen sie dort begegnete. Deren Geschichten saugt sie begierig auf, wobei es ihr völlig gleichgültig ist, ob diese Mitreisenden Lügen erzählen oder die Wahrheit.
Immer stärker fühlt Ruth sich hingezogen zu ihrer phantasievollen Tante, einem Ebenbild der Mutter, während die jüngere Lucille sich für den chaotischen Haushalt und das asoziale Verhalten Sylvies schämt, von Ballettunterricht und hübschen Kleidern träumt und schließlich davonläuft. Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn der ganze Ort beginnt nun das auffällige Paar zu beobachten: Der Sheriff begutachtet das verwahrloste Haus, Nachbarinnen bringen Essen und Wollstrümpfe, und schließlich wird ein Vormundschaftstermin festgelegt.
Doch Ruth ist für ein "anständiges" Leben verloren, genauer gesagt: Sie ist längst zur Schriftstellerin geworden. Ihre Sinne wurden von Kälte, Langeweile und Angst "aufs wundervollste geschärft", wie sie zufrieden bemerkt, und sie liebt Sylvies Marotte, im Dunkeln zu essen, weil sie dann die Nähe ihrer Tante besonders intensiv spürt. Die Beschreibung der schmerzhaften Initiation, die sie durchstehen muss, ist das stärkste Kapitel des Romans: Sylvie will sie in ihr "Geheimnis" einweihen und setzt sie auf einer Insel aus, auf der es nur noch ein verfallenes Haus gibt - dort soll sie "die Stimmen der Kinder" hören. Und nach qualvollen Stunden hört sie diese auch. In einem erschütternden Klagegesang ruft sie all das Blut an, das seit Kains Mord an Abel vergossen wurde, und sieht "eine Trauer, die nicht zu stillen ist", als treibende Kraft hinter dem Lauf der Welt.
Aus dem traurigen, verschüchterten Mädchen ist eine eindrucksvolle und oft selbstironische Schwester von Huckleberry Finn geworden, die der Engstirnigkeit und Selbstgerechtigkeit der Bürger den Rücken kehrt. Dafür liebt Ruth die nackten Gesichter der Landstreicher, der "hungrigsten aller Lebewesen", die auf Erden nichts mehr finden, was sie nährt, und die deshalb alles zurücklassen müssen. Und sie singt ein mitreißendes Loblied auf die Randzonen der Gesellschaft, wo man alles aussprechen und sich gegen den Schmerz der Erinnerung ständig neu erfinden darf.
NICOLE HENNEBERG
Marilynne Robinson: "Haus ohne Halt". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Reinhardt-Jost. edition fünf, Verlag Silke Weniger. Gräfelfing/Hamburg 2012. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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