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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Boris Luries radikal sexualisierter Roman zur Gleichgültigkeit gegenüber der Schoa
Schon das Cover von Boris Luries Romans "Haus von Anita" ist eine Provokation. Ein Pin-up-Girl steht in lasziver Pose und Reizwäsche mit dem Rücken zum Betrachter, ihr Hinterteil ist entblößt. Dahinter liegt das Grauen: aufgestapelte Leichenberge aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Die umstrittene Fotocollage "Railroad to America" des Künstlers und Schoa-Überlebenden Lurie aus dem Jahr 1963 war von John Heartfields und Hannah Höchs Collagetechniken inspiriert und als Mahnung gedacht. Mehr als vierzig Jahre lang hat der Protagonist der "NO!art"-Bewegung danach an seinem Roman gearbeitet. Der bietet eine fragmentarische Sammlung von Geschichten, mit der Lurie die Rolle von Kunst nach der Schoa hinterfragt. Sein Konzept radikaler künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, um ein Vergessen zu verhindern, hat er mit diesem Non-finito in Prosaform übertragen.
Der Roman beginnt zunächst als pornografische, sadomasochistische Geschichte. Drei Herrinnen, Anita, Beth Simpson und Tana Louise, halten sich zur sexuellen Befriedigung drei geschorene Sklaven und einen Kapo. Fritz und Hans sind Deutsche. Aldo, der Kalfaktor, ist der Liebling der drei Frauen, und Bobby, der Icherzähler, ist der einzige Jude unter den Gefangenen. Die sexuellen Misshandlungen, die ihm und den anderen Insassen des Hauses von Anita angetan werden, schildert er in sachlichen kurzen Sätzen. "Bobby, komm her", sind die Worte, die vor jeder Folter stehen. Trocken kommentiert er sein Elend - "wir nennen es den kleinen Tod und es umfasst die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit: Nahrung, Sex und Macht". Die drei Männer werden gequält und moralisch zersetzt, was einem Zweck dient: der "Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken". Erst der Tod von Anita erlöst die drei. Doch wo der Anfang des Romans eine Suada aus Fäkalwörtern, Blut und anderen Körperflüssigkeiten ist, wandelt sich der Text am Ende in eine postapokalyptische Science-Fiction-Dystopie vom Untergang New Yorks, "unser eigenes Babylon am Hudson, von dem sich alle angezogen fühlen, in diesem vergoldeten Land Amerika".
Boris Lurie, 1924 in Leningrad als Kind einer säkularen jüdischen Familie geboren, arbeitet antagonistisch zu Theodor Adornos viel zitiertem Satz "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch". Der Künstler, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Wechselspiel zwischen Holocaust und Popkultur auseinandersetzte, durchlebte in seiner Jugend ein Martyrium. Er überlebte vier Konzentrationslager, darunter Stutthof und Buchenwald. Erst floh seine gesamte Familie vor den Bolschewisten nach Lettland, dann wurde sie nach dem Einmarsch der Deutschen aus Riga deportiert. Mutter, Schwester und Großmutter wurden im Konzentrationslager ermordet; er schaffte es nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten und begann 1946 ein neues Leben in New York. Schnell wurde er dort zu einem bedeutenden neodadaistischen Künstler.
Seine Arbeit war von Beginn an durch die Auseinandersetzung mit der Schoa geprägt. "Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald", sagte er zeitlebens in Interviews. 1959 gründete er mit anderen New Yorker Künstlern die Bewegung "NO!art" - inspiriert von Marcel Duchamps radikaler Kunstauffassung. Lurie kritisierte abstrakten Expressionismus und Pop-Art, die für ihn Ausdruck eines kulturlosen "American Way of Life" waren: "Der Dollar wischt alles weg, mit magischer Kraft. Die Vergangenheit und die Gegenwart."
Ähnliche Gesellschaftskritik äußert er auch in "Haus von Anita". Das Etablissement beschreibt er als "ein modernes, erzieherisches Sklaveninstitut der Avantgarde" in der Upper West Side von New York. Zeitgenössische Kunst hängt an den Wänden. Doch die Taten, die hier geschehen, bleiben den illustren Besuchern der New Yorker Gesellschaft - Professoren, Kunsthändlern oder Rabbinern - nicht verborgen. Sie schweigen aber.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 blieb Lurie ein Kritiker des zeitgenössischen Kunstbetriebs. Als er mit 83 Jahren starb, hatte er kein einziges Werk verkauft. Heute verwaltet die Boris Lurie Art Foundation seinen Nachlass, die auch die amerikanische Originalausgabe "House of Anita" 2016 herausgegeben hat. Der deutsche Verlag spricht davon, dass dessen Lektüre "erlitten und nicht genossen werden will". In der Gewaltspirale seiner Geschichten verzahnt Lurie durch seine literarische Montagetechnik Pornografie und eigene Holocausterfahrungen, die Massenkultur der Sechziger mit der industriellen Massentötung in den Konzentrationslagern. Das wurde von vielen Zeitgenossen kritisiert. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel bezeichnete ihn gar als Verräter und warf Lurie vor, dass er den Opfern der Schoa die Würde nehme: "Eine in der Geschichte nie dagewesene Tragödie in eine groteske Karikatur umzuwandeln heißt nicht nur, sie ihrer Bedeutung zu berauben, sondern auch, sie in eine Lüge zu verwandeln."
Lurie entgegnete ihm, dass er unter Kunst nicht Flucht aus der Realität verstehe, sondern sie als Mittel betrachte, um die Brutalität der menschlichen Zivilisation zu zeigen. Kunst müsse sich um "die Themen des wirklichen Lebens" kümmern. Krieg und Gewalt, Sexismus, Kolonialismus und Rassismus waren in seiner Kunstphilosophie die zentralen Motive. Sein Buch ist deswegen nicht nur eine radikale Auseinandersetzung mit der Schoa, sondern auch eine Anklage gegen den Antisemitismus im bürgerlichen Korsett und das Wegsehen - "selbst in den amerikanischen Salons von Avantgarde-Institutionen wie dem Haus von Anita kann man Antisemiten finden". KEVIN HANSCHKE
Boris Lurie: "Haus von Anita". Roman.
Aus dem Englischen und mit einem Vorwort von Joachim Kalka. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 298 S., geb., 24,- Euro.
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