Zum ersten Mal auf Deutsch: Der Roman von Boris Lurie verbindet die Gewalt der KZs mit der zerstörerischen Energie der Kulturindustrie. Radikal und provokant wie kein Autor zuvor. Bobby ist in New York regelmäßig zu Gast - oder sollte man besser sagen: gefangen? - im "Haus von Anita" und lässt sich dort zusammen mit drei weiteren Männern von den Gebieterinnen des Hauses zur sexuellen Befriedigung quälen und misshandeln. Was auf der Oberfläche wie ein pornographischer S/M-Roman wirkt, ist auf einer anderen Ebene die provokante Darstellung der Nazigräuel. Ruth Klüger hat in der detailgenauen Darstellung der Lager die Gefahr einer "Pornographie des Todes" gesehen. Wie ein auf die Spitze getriebener Beweis ihrer provokanten These liest sich dieser Text, an dem Boris Lurie mehr als 40 Jahre arbeitete. Auch er war ein Überlebender der Shoah und er war Mitbegründer der NO!art-Bewegung, die sich vor allem gegen die Pop Art und eine selbstgefällige Konsumgesellschaft wendet. Die industrielle Zerstörung der Körper in den Lagern wird hier bis zur Unerträglichkeit mit ihrer kulturindustriellen Vernutzung durch Konsum, Kommerz und Pornographie verschränkt. Lurie verarbeitet in diesem Buch nicht nur seine Erfahrung der KZs, sondern fragt auch mit schockierender Eindringlichkeit nach der Bedeutung der Kunst nach der Shoah. Eine Lektüre, die erlitten und nicht genossen werden will.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Reinhard J. Brembeck rät, sich einzulassen auf Boris Luries "sprachlich ungelenken", aber wie Schläge auf den Kopf wirkenden Text, diese "jüdische Selbstfindungsgeschichte" mit der Wucht eines Dampfhammers. Wie der Autor ohne Pathos, ohne Beschönigung einführt in ein Sadomaso-Underground-Manhattan, nach dem de Sade sich die Finger lecken würde, das trägt laut Brembeck alle Insignien der No!Art. Das Buch liest er als Autobiografie des Autors, als Auseinandersetzung mit den Schuldgefühlen eines Holocaustüberlebenden. Dass Lurie einen Ausweg aus der Schuld findet, indem er Gewalt, Kunst, Sex und Kapitalismus mischt und seinen Helden auf eine "imaginäre Reise" schickt, findet der Rezensent bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2021Babylon am Hudson
Boris Luries radikal sexualisierter Roman zur Gleichgültigkeit gegenüber der Schoa
Schon das Cover von Boris Luries Romans "Haus von Anita" ist eine Provokation. Ein Pin-up-Girl steht in lasziver Pose und Reizwäsche mit dem Rücken zum Betrachter, ihr Hinterteil ist entblößt. Dahinter liegt das Grauen: aufgestapelte Leichenberge aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Die umstrittene Fotocollage "Railroad to America" des Künstlers und Schoa-Überlebenden Lurie aus dem Jahr 1963 war von John Heartfields und Hannah Höchs Collagetechniken inspiriert und als Mahnung gedacht. Mehr als vierzig Jahre lang hat der Protagonist der "NO!art"-Bewegung danach an seinem Roman gearbeitet. Der bietet eine fragmentarische Sammlung von Geschichten, mit der Lurie die Rolle von Kunst nach der Schoa hinterfragt. Sein Konzept radikaler künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, um ein Vergessen zu verhindern, hat er mit diesem Non-finito in Prosaform übertragen.
Der Roman beginnt zunächst als pornografische, sadomasochistische Geschichte. Drei Herrinnen, Anita, Beth Simpson und Tana Louise, halten sich zur sexuellen Befriedigung drei geschorene Sklaven und einen Kapo. Fritz und Hans sind Deutsche. Aldo, der Kalfaktor, ist der Liebling der drei Frauen, und Bobby, der Icherzähler, ist der einzige Jude unter den Gefangenen. Die sexuellen Misshandlungen, die ihm und den anderen Insassen des Hauses von Anita angetan werden, schildert er in sachlichen kurzen Sätzen. "Bobby, komm her", sind die Worte, die vor jeder Folter stehen. Trocken kommentiert er sein Elend - "wir nennen es den kleinen Tod und es umfasst die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit: Nahrung, Sex und Macht". Die drei Männer werden gequält und moralisch zersetzt, was einem Zweck dient: der "Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken". Erst der Tod von Anita erlöst die drei. Doch wo der Anfang des Romans eine Suada aus Fäkalwörtern, Blut und anderen Körperflüssigkeiten ist, wandelt sich der Text am Ende in eine postapokalyptische Science-Fiction-Dystopie vom Untergang New Yorks, "unser eigenes Babylon am Hudson, von dem sich alle angezogen fühlen, in diesem vergoldeten Land Amerika".
Boris Lurie, 1924 in Leningrad als Kind einer säkularen jüdischen Familie geboren, arbeitet antagonistisch zu Theodor Adornos viel zitiertem Satz "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch". Der Künstler, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Wechselspiel zwischen Holocaust und Popkultur auseinandersetzte, durchlebte in seiner Jugend ein Martyrium. Er überlebte vier Konzentrationslager, darunter Stutthof und Buchenwald. Erst floh seine gesamte Familie vor den Bolschewisten nach Lettland, dann wurde sie nach dem Einmarsch der Deutschen aus Riga deportiert. Mutter, Schwester und Großmutter wurden im Konzentrationslager ermordet; er schaffte es nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten und begann 1946 ein neues Leben in New York. Schnell wurde er dort zu einem bedeutenden neodadaistischen Künstler.
Seine Arbeit war von Beginn an durch die Auseinandersetzung mit der Schoa geprägt. "Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald", sagte er zeitlebens in Interviews. 1959 gründete er mit anderen New Yorker Künstlern die Bewegung "NO!art" - inspiriert von Marcel Duchamps radikaler Kunstauffassung. Lurie kritisierte abstrakten Expressionismus und Pop-Art, die für ihn Ausdruck eines kulturlosen "American Way of Life" waren: "Der Dollar wischt alles weg, mit magischer Kraft. Die Vergangenheit und die Gegenwart."
Ähnliche Gesellschaftskritik äußert er auch in "Haus von Anita". Das Etablissement beschreibt er als "ein modernes, erzieherisches Sklaveninstitut der Avantgarde" in der Upper West Side von New York. Zeitgenössische Kunst hängt an den Wänden. Doch die Taten, die hier geschehen, bleiben den illustren Besuchern der New Yorker Gesellschaft - Professoren, Kunsthändlern oder Rabbinern - nicht verborgen. Sie schweigen aber.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 blieb Lurie ein Kritiker des zeitgenössischen Kunstbetriebs. Als er mit 83 Jahren starb, hatte er kein einziges Werk verkauft. Heute verwaltet die Boris Lurie Art Foundation seinen Nachlass, die auch die amerikanische Originalausgabe "House of Anita" 2016 herausgegeben hat. Der deutsche Verlag spricht davon, dass dessen Lektüre "erlitten und nicht genossen werden will". In der Gewaltspirale seiner Geschichten verzahnt Lurie durch seine literarische Montagetechnik Pornografie und eigene Holocausterfahrungen, die Massenkultur der Sechziger mit der industriellen Massentötung in den Konzentrationslagern. Das wurde von vielen Zeitgenossen kritisiert. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel bezeichnete ihn gar als Verräter und warf Lurie vor, dass er den Opfern der Schoa die Würde nehme: "Eine in der Geschichte nie dagewesene Tragödie in eine groteske Karikatur umzuwandeln heißt nicht nur, sie ihrer Bedeutung zu berauben, sondern auch, sie in eine Lüge zu verwandeln."
Lurie entgegnete ihm, dass er unter Kunst nicht Flucht aus der Realität verstehe, sondern sie als Mittel betrachte, um die Brutalität der menschlichen Zivilisation zu zeigen. Kunst müsse sich um "die Themen des wirklichen Lebens" kümmern. Krieg und Gewalt, Sexismus, Kolonialismus und Rassismus waren in seiner Kunstphilosophie die zentralen Motive. Sein Buch ist deswegen nicht nur eine radikale Auseinandersetzung mit der Schoa, sondern auch eine Anklage gegen den Antisemitismus im bürgerlichen Korsett und das Wegsehen - "selbst in den amerikanischen Salons von Avantgarde-Institutionen wie dem Haus von Anita kann man Antisemiten finden". KEVIN HANSCHKE
Boris Lurie: "Haus von Anita". Roman.
Aus dem Englischen und mit einem Vorwort von Joachim Kalka. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 298 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Boris Luries radikal sexualisierter Roman zur Gleichgültigkeit gegenüber der Schoa
Schon das Cover von Boris Luries Romans "Haus von Anita" ist eine Provokation. Ein Pin-up-Girl steht in lasziver Pose und Reizwäsche mit dem Rücken zum Betrachter, ihr Hinterteil ist entblößt. Dahinter liegt das Grauen: aufgestapelte Leichenberge aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Die umstrittene Fotocollage "Railroad to America" des Künstlers und Schoa-Überlebenden Lurie aus dem Jahr 1963 war von John Heartfields und Hannah Höchs Collagetechniken inspiriert und als Mahnung gedacht. Mehr als vierzig Jahre lang hat der Protagonist der "NO!art"-Bewegung danach an seinem Roman gearbeitet. Der bietet eine fragmentarische Sammlung von Geschichten, mit der Lurie die Rolle von Kunst nach der Schoa hinterfragt. Sein Konzept radikaler künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, um ein Vergessen zu verhindern, hat er mit diesem Non-finito in Prosaform übertragen.
Der Roman beginnt zunächst als pornografische, sadomasochistische Geschichte. Drei Herrinnen, Anita, Beth Simpson und Tana Louise, halten sich zur sexuellen Befriedigung drei geschorene Sklaven und einen Kapo. Fritz und Hans sind Deutsche. Aldo, der Kalfaktor, ist der Liebling der drei Frauen, und Bobby, der Icherzähler, ist der einzige Jude unter den Gefangenen. Die sexuellen Misshandlungen, die ihm und den anderen Insassen des Hauses von Anita angetan werden, schildert er in sachlichen kurzen Sätzen. "Bobby, komm her", sind die Worte, die vor jeder Folter stehen. Trocken kommentiert er sein Elend - "wir nennen es den kleinen Tod und es umfasst die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit: Nahrung, Sex und Macht". Die drei Männer werden gequält und moralisch zersetzt, was einem Zweck dient: der "Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken". Erst der Tod von Anita erlöst die drei. Doch wo der Anfang des Romans eine Suada aus Fäkalwörtern, Blut und anderen Körperflüssigkeiten ist, wandelt sich der Text am Ende in eine postapokalyptische Science-Fiction-Dystopie vom Untergang New Yorks, "unser eigenes Babylon am Hudson, von dem sich alle angezogen fühlen, in diesem vergoldeten Land Amerika".
Boris Lurie, 1924 in Leningrad als Kind einer säkularen jüdischen Familie geboren, arbeitet antagonistisch zu Theodor Adornos viel zitiertem Satz "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch". Der Künstler, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Wechselspiel zwischen Holocaust und Popkultur auseinandersetzte, durchlebte in seiner Jugend ein Martyrium. Er überlebte vier Konzentrationslager, darunter Stutthof und Buchenwald. Erst floh seine gesamte Familie vor den Bolschewisten nach Lettland, dann wurde sie nach dem Einmarsch der Deutschen aus Riga deportiert. Mutter, Schwester und Großmutter wurden im Konzentrationslager ermordet; er schaffte es nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten und begann 1946 ein neues Leben in New York. Schnell wurde er dort zu einem bedeutenden neodadaistischen Künstler.
Seine Arbeit war von Beginn an durch die Auseinandersetzung mit der Schoa geprägt. "Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald", sagte er zeitlebens in Interviews. 1959 gründete er mit anderen New Yorker Künstlern die Bewegung "NO!art" - inspiriert von Marcel Duchamps radikaler Kunstauffassung. Lurie kritisierte abstrakten Expressionismus und Pop-Art, die für ihn Ausdruck eines kulturlosen "American Way of Life" waren: "Der Dollar wischt alles weg, mit magischer Kraft. Die Vergangenheit und die Gegenwart."
Ähnliche Gesellschaftskritik äußert er auch in "Haus von Anita". Das Etablissement beschreibt er als "ein modernes, erzieherisches Sklaveninstitut der Avantgarde" in der Upper West Side von New York. Zeitgenössische Kunst hängt an den Wänden. Doch die Taten, die hier geschehen, bleiben den illustren Besuchern der New Yorker Gesellschaft - Professoren, Kunsthändlern oder Rabbinern - nicht verborgen. Sie schweigen aber.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 blieb Lurie ein Kritiker des zeitgenössischen Kunstbetriebs. Als er mit 83 Jahren starb, hatte er kein einziges Werk verkauft. Heute verwaltet die Boris Lurie Art Foundation seinen Nachlass, die auch die amerikanische Originalausgabe "House of Anita" 2016 herausgegeben hat. Der deutsche Verlag spricht davon, dass dessen Lektüre "erlitten und nicht genossen werden will". In der Gewaltspirale seiner Geschichten verzahnt Lurie durch seine literarische Montagetechnik Pornografie und eigene Holocausterfahrungen, die Massenkultur der Sechziger mit der industriellen Massentötung in den Konzentrationslagern. Das wurde von vielen Zeitgenossen kritisiert. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel bezeichnete ihn gar als Verräter und warf Lurie vor, dass er den Opfern der Schoa die Würde nehme: "Eine in der Geschichte nie dagewesene Tragödie in eine groteske Karikatur umzuwandeln heißt nicht nur, sie ihrer Bedeutung zu berauben, sondern auch, sie in eine Lüge zu verwandeln."
Lurie entgegnete ihm, dass er unter Kunst nicht Flucht aus der Realität verstehe, sondern sie als Mittel betrachte, um die Brutalität der menschlichen Zivilisation zu zeigen. Kunst müsse sich um "die Themen des wirklichen Lebens" kümmern. Krieg und Gewalt, Sexismus, Kolonialismus und Rassismus waren in seiner Kunstphilosophie die zentralen Motive. Sein Buch ist deswegen nicht nur eine radikale Auseinandersetzung mit der Schoa, sondern auch eine Anklage gegen den Antisemitismus im bürgerlichen Korsett und das Wegsehen - "selbst in den amerikanischen Salons von Avantgarde-Institutionen wie dem Haus von Anita kann man Antisemiten finden". KEVIN HANSCHKE
Boris Lurie: "Haus von Anita". Roman.
Aus dem Englischen und mit einem Vorwort von Joachim Kalka. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 298 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.07.2021Von Sado zu Maso
Boris Luries verstörender Roman „Haus von Anita“
„Es ist nichts Ungewöhnliches, daß eine dahingeschiedene Person einen israelischen Panzer fährt, da ja jedermann weiß, daß diese nunmehr siegreichen, mit dem Davidsstern bemalten Maschinen zu Lande, zu Wasser und in der Luft schnell und sicher von jenen gelenkt werden, deren Überreste in den ungekennzeichneten Gruben der feindlichen Erde im fernen Norden verschwunden sind.“ Ja, Boris Luries posthum vor fünf Jahren und jetzt auf Deutsch erschienenes Buch „Haus von Anita“ ist sprachlich ungelenk, aber es sind Sätze wie herumsausende Ziegelsteine. Dieser 300-Seiten-Text fasziniert von Anfang bis zum Ende, ein Text, der sich trotz seines wüsten Settings und seiner keine Sextabus respektierenden Sprache mühelos lesen lässt. Es ist eine jüdische Selbstfindungsgeschichte, mit der archaischen Wucht der Tora nicht geschrieben, sondern ins Papier gemeißelt.
Zu Beginn führt Boris Lurie ein mondänes Sado-Etablissement im Manhattan der 60er -oder 70er-Jahre vor, das des göttlichen Marquis de Sade würdig gewesen wäre. Vier Herrinnen halten sich in Anitas Haus vier Männersklaven, die sie nach festgelegten Regeln foltern, erniedrigen, sexuell ausbeuten. Wie sein großer Vorgänger lässt auch Lurie kein Detail bei diesen Sexorgien aus.
Boris Lurie lebte bis zu seinem Tod 2008 als Künstler in New York und war Mitbegründer von No!Art. Die Gruppe provozierte mit Kunstverweigerung, gefakten Fäkalien, Holocaust-Thematiken, jew art, Ablehnung des abstrakten Expressionismus, Hass auf die Pop Art. „Anitas Haus“ passt bruchlos in diese Ästhetik. Lurie wurde 1924 in Leningrad als Industriellensohn in eine säkulare jüdische Familie geboren. Er verbrachte die Jugend in Riga, war dann vier Jahre lang in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Aus seiner Familie überlebten nur er und sein Vater, sie gingen zusammen nach New York, finanzierten sich durch Börsenspekulationen.
So ist, wenig verwunderlich, dieses Buch auch eine kaum kaschierte fiktive Autobiografie. Es ist die Suche eines Mannes nach seinen Wurzeln, ist die Auseinandersetzung eines Holocaustüberlebenden mit den Nazimassenmördereien, ist eine Aufarbeitung seiner Schuldgefühle als Überlebender. Dass er den Holocaust in einen pornografischen Kontext stellt, brachte dem Künstler, den Vorwurf ein, den Opfern die Würde zu nehmen und die Massenvernichtung zu verharmlosen.
Der Held heißt wie der Autor Bobby, und er versteht erst nach und nach, was alle anderen schon wissen: Dass er ein Jude ist. Immer wieder rekurriert der Text auf den Wald von Rumbula bei Riga, wo 1941 die Nazis 25 000 Juden erschossen haben. Nach und nach bekommt so die heile New Yorker Sado-Hip-Welt Risse. Die toten Juden von Rumbula tauchen auf und nisten sich ein in Anitas Haus, sie sind die unabweisbare Anklage eines Verrats des Protagonisten.
Eine der Herrinnen, „Die Judy“, fällt aus der Rolle. Auch sie verdrängt ihr Judentum, wird ihrerseits zum Folteropfer und zum lebendigen Kunstobjekt stilisiert. Woraufhin eine jüdische Kunsthändlerin auftaucht, die ganz begierig auf dieses neuartige Artefakt blickt, das alle Gegenwarts-Pop-Art deklassiert, und sich in den Kreis der Sadodiktatorinnen einfindet. Zynismus und Hellsichtigkeit in Bezug auf das vertrackte Verhältnis von Kunst und Markt kommen in dieser Figurenkonstellation grell krachend auf den Punkt. Lurie vermischt hemmungs- und gnadenlos Pornografie, Gewaltkapitalismus, Zynismus, KZ-Folter, Kunstmarkt und den american way of life. In diesem mit Faustschlagsätzen formulierten „J’accuse“ fehlt aber alles Moraline, jedes Pathos, jedes Sentiment. Es gibt keine Beschwichtigungen, keine Beschönigungen, keine Friedensangebote. Schnörkellos stürzt der Text von Gemeinheit zu Gemeinheit, von Sado zu Maso, von Niedertracht zu Perfidie. Aber Lurie will und schafft sehr viel mehr als eine in den übelsten Abgründen des Menschlichen berserkernde Anklageschrift. Er sucht und findet für sich und seinen Helden einen Ausweg. Wie die Mystiker, wie Juan de la Cruz, Hâfez, Teresa von Ávila und Attar, begibt sich Boris Lurie auf eine imaginäre Reise, die sinnstiftend Leiden, Tod und Leben miteinander aussöhnt. In den „Vogelgesprächen“ erzählt Attar, wie sich die Gemeinschaft der Vögel auf die Suche nach dem legendären Supervogel macht. Die Reise ist ein Todesflug, fast kein Vogel überlebt. Und die 30 Überlebenden müssen zuletzt erkennen, dass sie selbst jener sehnsüchtig gesuchte Simurgh sind, der Name bedeutet wörtlich: 30 Vögel. Boris Lurie lässt seinen Bobby eine ähnlich fantastische Reise ins Ungewisse antreten, die ihn nach Israel führt, wo er, siehe oben, als untoter Panzerfahrer zu seiner Bestimmung findet. Die Coda ist dann aber ein Brief der New Yorker Kunsthändlerin an die ebenfalls in Israel zu Tode gekommene und von ihr einst als Kunstkultobjekt begehrte Judy: „Ich hatte daran gedacht, Sie im Land unserer Väter aufzustellen. Denken Sie nur, wie schön Die Judy im Skulpturengarten in Jerusalem ausgestellt hätte. Unsere Ahnen haben sich seit unvordenklichen Zeiten in diese Richtung verneigt, also stellen Sie sich vor, Sie wären an den Toren unserer Ewigen Stadt ausgestellt!“
REINHARD J. BREMBECK
Vier Jahre lang war
Lurie in Arbeits- und
Konzentrationslagern
Die fantastische Reise des
Helden führt ihn
schließlich nach Israel
Boris Lurie im Jahr 2002 in Manhattan.
Foto: imago images/Matthias Reichelt
Boris Lurie: Das Haus von Anita. Aus dem Englischen und mit einem Vorwort versehen von Joachim Kalka.
Wallstein, Göttingen 2021.
298 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Boris Luries verstörender Roman „Haus von Anita“
„Es ist nichts Ungewöhnliches, daß eine dahingeschiedene Person einen israelischen Panzer fährt, da ja jedermann weiß, daß diese nunmehr siegreichen, mit dem Davidsstern bemalten Maschinen zu Lande, zu Wasser und in der Luft schnell und sicher von jenen gelenkt werden, deren Überreste in den ungekennzeichneten Gruben der feindlichen Erde im fernen Norden verschwunden sind.“ Ja, Boris Luries posthum vor fünf Jahren und jetzt auf Deutsch erschienenes Buch „Haus von Anita“ ist sprachlich ungelenk, aber es sind Sätze wie herumsausende Ziegelsteine. Dieser 300-Seiten-Text fasziniert von Anfang bis zum Ende, ein Text, der sich trotz seines wüsten Settings und seiner keine Sextabus respektierenden Sprache mühelos lesen lässt. Es ist eine jüdische Selbstfindungsgeschichte, mit der archaischen Wucht der Tora nicht geschrieben, sondern ins Papier gemeißelt.
Zu Beginn führt Boris Lurie ein mondänes Sado-Etablissement im Manhattan der 60er -oder 70er-Jahre vor, das des göttlichen Marquis de Sade würdig gewesen wäre. Vier Herrinnen halten sich in Anitas Haus vier Männersklaven, die sie nach festgelegten Regeln foltern, erniedrigen, sexuell ausbeuten. Wie sein großer Vorgänger lässt auch Lurie kein Detail bei diesen Sexorgien aus.
Boris Lurie lebte bis zu seinem Tod 2008 als Künstler in New York und war Mitbegründer von No!Art. Die Gruppe provozierte mit Kunstverweigerung, gefakten Fäkalien, Holocaust-Thematiken, jew art, Ablehnung des abstrakten Expressionismus, Hass auf die Pop Art. „Anitas Haus“ passt bruchlos in diese Ästhetik. Lurie wurde 1924 in Leningrad als Industriellensohn in eine säkulare jüdische Familie geboren. Er verbrachte die Jugend in Riga, war dann vier Jahre lang in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Aus seiner Familie überlebten nur er und sein Vater, sie gingen zusammen nach New York, finanzierten sich durch Börsenspekulationen.
So ist, wenig verwunderlich, dieses Buch auch eine kaum kaschierte fiktive Autobiografie. Es ist die Suche eines Mannes nach seinen Wurzeln, ist die Auseinandersetzung eines Holocaustüberlebenden mit den Nazimassenmördereien, ist eine Aufarbeitung seiner Schuldgefühle als Überlebender. Dass er den Holocaust in einen pornografischen Kontext stellt, brachte dem Künstler, den Vorwurf ein, den Opfern die Würde zu nehmen und die Massenvernichtung zu verharmlosen.
Der Held heißt wie der Autor Bobby, und er versteht erst nach und nach, was alle anderen schon wissen: Dass er ein Jude ist. Immer wieder rekurriert der Text auf den Wald von Rumbula bei Riga, wo 1941 die Nazis 25 000 Juden erschossen haben. Nach und nach bekommt so die heile New Yorker Sado-Hip-Welt Risse. Die toten Juden von Rumbula tauchen auf und nisten sich ein in Anitas Haus, sie sind die unabweisbare Anklage eines Verrats des Protagonisten.
Eine der Herrinnen, „Die Judy“, fällt aus der Rolle. Auch sie verdrängt ihr Judentum, wird ihrerseits zum Folteropfer und zum lebendigen Kunstobjekt stilisiert. Woraufhin eine jüdische Kunsthändlerin auftaucht, die ganz begierig auf dieses neuartige Artefakt blickt, das alle Gegenwarts-Pop-Art deklassiert, und sich in den Kreis der Sadodiktatorinnen einfindet. Zynismus und Hellsichtigkeit in Bezug auf das vertrackte Verhältnis von Kunst und Markt kommen in dieser Figurenkonstellation grell krachend auf den Punkt. Lurie vermischt hemmungs- und gnadenlos Pornografie, Gewaltkapitalismus, Zynismus, KZ-Folter, Kunstmarkt und den american way of life. In diesem mit Faustschlagsätzen formulierten „J’accuse“ fehlt aber alles Moraline, jedes Pathos, jedes Sentiment. Es gibt keine Beschwichtigungen, keine Beschönigungen, keine Friedensangebote. Schnörkellos stürzt der Text von Gemeinheit zu Gemeinheit, von Sado zu Maso, von Niedertracht zu Perfidie. Aber Lurie will und schafft sehr viel mehr als eine in den übelsten Abgründen des Menschlichen berserkernde Anklageschrift. Er sucht und findet für sich und seinen Helden einen Ausweg. Wie die Mystiker, wie Juan de la Cruz, Hâfez, Teresa von Ávila und Attar, begibt sich Boris Lurie auf eine imaginäre Reise, die sinnstiftend Leiden, Tod und Leben miteinander aussöhnt. In den „Vogelgesprächen“ erzählt Attar, wie sich die Gemeinschaft der Vögel auf die Suche nach dem legendären Supervogel macht. Die Reise ist ein Todesflug, fast kein Vogel überlebt. Und die 30 Überlebenden müssen zuletzt erkennen, dass sie selbst jener sehnsüchtig gesuchte Simurgh sind, der Name bedeutet wörtlich: 30 Vögel. Boris Lurie lässt seinen Bobby eine ähnlich fantastische Reise ins Ungewisse antreten, die ihn nach Israel führt, wo er, siehe oben, als untoter Panzerfahrer zu seiner Bestimmung findet. Die Coda ist dann aber ein Brief der New Yorker Kunsthändlerin an die ebenfalls in Israel zu Tode gekommene und von ihr einst als Kunstkultobjekt begehrte Judy: „Ich hatte daran gedacht, Sie im Land unserer Väter aufzustellen. Denken Sie nur, wie schön Die Judy im Skulpturengarten in Jerusalem ausgestellt hätte. Unsere Ahnen haben sich seit unvordenklichen Zeiten in diese Richtung verneigt, also stellen Sie sich vor, Sie wären an den Toren unserer Ewigen Stadt ausgestellt!“
REINHARD J. BREMBECK
Vier Jahre lang war
Lurie in Arbeits- und
Konzentrationslagern
Die fantastische Reise des
Helden führt ihn
schließlich nach Israel
Boris Lurie im Jahr 2002 in Manhattan.
Foto: imago images/Matthias Reichelt
Boris Lurie: Das Haus von Anita. Aus dem Englischen und mit einem Vorwort versehen von Joachim Kalka.
Wallstein, Göttingen 2021.
298 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Nicht nur eine radikale Auseinandersetzung mit der Schoa, sondern auch eine Anklage gegen den Antisemitismus im bürgerlichen Korsett und das Wegsehen.« (Kevin Hanschke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.2021) »So schwierig die Lektüre ist, so lohnend ist sie.« (Matthias Reichelt, Jungle World, 24.06.2021) »Wie schwer es ist, eine Sprache zu finden, die dem Lager gerecht wird, hat auch Primo Levi bemerkt. (...) In einem solchen Kontext ist Lurie einzuordnen.« (Jens Uthoff, taz am wochenende, 15./16.05.2021) »Ein kaum erträgliches Buch. Gut, dass es endlich auf Deutsch vorliegt!« (Uli Hufen, Deutschlandfunk Büchermarkt, 06.05.2021) »'Haus von Anita' ist ein singuläres Werk. Man legt dieses Buch immer wieder erschrocken, bisweilen auch angewidert zur Seite und kann sich seinem Bann doch nicht entziehen.« (Sebastian Fasthuber, Falter, 12.05.2021) »Ob der Ich-Erzähler dieses ebenso eindrucksvollen wie verstörenden Romans seine Identität wiederfindet, sollte man besser selbstlesen.« (Oliver Pfohlmann, SWR2 lesenswert Kritik, 04.06.2021) »Ein Buch, das einen nicht mehr loslässt.« (Andre Fischer, Nürnberger Zeitung, 29.06.2021) »provokanter Roman, dessen groteske Bestrafungsfantasien einer kafkaesken Traumlogik folgen« (Oliver Pfohlmann, Landsruter Zeitung, 24.07.2021) »In seiner sprachlichen wie inhaltlichen Radikalität provoziert es auch heute noch, gut 13 Jahre nach Luries Tod.« (Jürgen Nielsen-Sikora, Glanz & Elend, 23.03.2021)