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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Castorps letzter Winter: Timon Karl Kaleyta schickt einen modern entkräfteten Helden ins Bergsanatorium
Berge altern anders. Jahrmillionen sind für Felsmassive ein Wimpernschlag, hundert Jahre für einen "Zauberberg" nahezu nichts. So wirkt Thomas Manns Gedankengebirge bis heute taufrisch. Es ist die Ironie, die diese monumentale Abschiedszeremonie für die bürgerliche Selbstzufriedenheit so jung hält. Im Jubiläumsjahr nun kreißt und kreißt dieser Überberg, gebiert die ulkigsten Formationen, eine feministisch angestrengte Parodie der Parodie bei Olga Tokarczuk etwa. Auch Heinz Strunk und Norman Ohler legen ihre sicher lesenswerten Fortschreibungen in Kürze vor. Bei Timon Karl Kaleyta hat man es mit einer luftgespiegelten, allerdings arg eingeschrumpften Variante der Vorlage zu tun: ein Zwerg von Berg, der seine Abkunft - bis hinein in den gehobenen Erzählton - dafür umso stolzer vor sich her trägt. Es geht gleich los mit kolossal viel Schnee: "Schon seit Tagen fiel der Schnee ohne Unterlass aus den Wolken, es war einer der kältesten Winter der vergangenen Jahrzehnte."
Kaleytas Held, geplagt von Schlaflosigkeit und Impotenz (sind das die Geißeln unserer Zeit?), sucht auf Anraten seiner Frau das Sanatorium San Vita in der alpinen Abgeschiedenheit der Dolomiten auf. Die Traumlosigkeit des Patienten kontrastiert sofort mit der traumartigen, surrealen Atmosphäre dieses bis ins Berginnere unterkellerten Heilorts unter der Leitung, nein, Herrschaft des allmächtigen Professors Trinkl, einer Koryphäe der ganzheitlichen Naturheilkunde. Die gesamte erste Hälfte des Romans spielt in dieser Edelklinik, deren Achtsamkeitsabsolutismus amüsant karikiert wird. Gerade in der Abwehr der Zudringlichkeiten scheint der Held ansatzweise zu sich zurückzufinden.
Über eine milde Satire geht dies freilich nicht hinaus. Dafür fehlt den Dialogen zwischen dem auf Abschottung, Totalüberwachung und übergriffige Methoden setzenden Heilkundler und dem sich zu Recht gegängelt fühlenden Erzähler die Tiefe. Es ist eben kein zynisch-intellektueller Hofrat Behrens, der uns da begegnet, sondern ein Scharlatan in seiner Maske. Auch die verführerische Patientin Mana wirkt wie eine blasse Wiedergängerin von Thomas Manns Madame Chauchat. Ebenso viel Aufhebens wird zwar um einen Kuss Manas gemacht, doch statt wie die "tatarische" Sirene einen Mynheer Peeperkorn anzuschleppen, der in seiner entleerten Kolonial-Majestät für ein ganzes Zeitalter einsteht, scheint Mana bloß insgeheim mit Trinkl verbündet zu sein; halb Hure, halb Verräterin. Sie fragt gleich: "Lieben Sie ihre Frau eigentlich?" Da zuckt es bereits in den impotenten Lenden.
Dass der egozentrische Erzähler permanent zwischen Begierde und Furcht, zwischen Zutrauen und Verschwörungsdenken changiert, gehört noch zu den interessanteren Ebenen des Buchs. Dass die Behandlung so leicht anschlägt, hingegen nicht. Kaum wird der Erzähler mit sich allein in ein dunkles Zimmer gesperrt oder zum eigenhändigen Abschlachten eines Bären genötigt ("Ihre Frau kann stolz auf sie sein"), kehren die Träume zurück ("ich spürte, dass etwas lange Verdrängtes zurück an die Oberfläche gespült worden war"), und sie enthüllen ein denkbar schlichtes Geheimnis. Schuldig fühlt sich der Held, weil er den Kontakt zu einem guten Jugendfreund trotz dessen Briefen abgebrochen hat. Peinlich war ihm dieser Jesper noch zu Schulzeiten geworden, weil der alles infrage stellte und sich "von nichts und niemandem beherrschen" lassen wollte.
Das führt über eine erzählerisch holprige Zwischenstation in die zweite Hälfte des Romans, in der unser Held diesen Jesper aufsucht, der mit seiner Frau und im Einklang mit der Natur einen wiederum abgeschiedenen Selbstversorgerhof bewirtschaftet: halb Rousseau (oder Thoreau), halb Hermann-Hesse-Figur (in seiner enthusiastischen Freundschaftsliebe), aber auch er mehr dekoratives Imitat als authentischer Charakter.
Der taumelnde Protagonist, der den unverwundbaren Jesper anbetet, möchte nichts lieber, als für immer auf diesem Hof zu bleiben und in nichtentfremdeter Arbeit sein Glück zu finden. Es ist ein Problem, dass die Ironiesignale dieser an sich wenig aufregenden Aussteigerutopie uneindeutig sind. Soll hier nur lustvoll parodiert werden, oder will Kaleyta der angestaubten Konstellation doch einen hermeneutischen Mehrwert abgewinnen, gar auf eine Zeitdiagnose hinaus? Wie auch immer, es wird früh klar, dass die Sache - die Heilung - so bruchlos nicht vonstattengehen kann. Bald schon führen körperliche Beschwerden, Ängste und Neid zum Umschlag der Stimmung auch hier, bis die Situation vollends eskaliert. Auch im Streben nach dem Ideal der Einfachheit lauert das Totalitäre, das Ausmerzen aller Schwächen, sollen wir womöglich erkennen. Das abgeschmackte, aber visuell eindrückliche Finale erweckt endgültig den Eindruck, es mit einem Drehbuch zu tun zu haben.
Das würde auch die narrativ wenig gefüllte, aber sehr bildhaft evozierte Atmosphäre zwischen Lebensgier und Todesschatten erklären, die vage an das zerrissene moderne Individuum in "Der Steppenwolf" oder den romantisch-letalen Narzissmus in "Klingsors letzter Sommer" gemahnt: "Glauben Sie, es war das letzte Mal, dass wir so einen Winter hatten?" Das Pathos kann hier gar nicht groß genug sein. So fangen die beiden Freunde mit Netzen den Morgentau, um dann den Kelch des jeweils anderen zu leeren. Wie die überdeutliche Symbolik (zumal in den Traumszenen) wirken auch die vielen Klopstock-Zitate bedeutungsheischend hineingeworfen, ohne Auswirkung auf das Erzählte zu haben; dabei wäre es leicht gewesen, darüber ins Nachdenken über das Dialektische an der Empfindsamkeit zu kommen. Vor allem aber bleibt das Buch in allen Belangen - Humor, Geist, erzählerische Raffinesse - weit hinter dem "Zauberberg" zurück. Das mag zwar für einen Großteil der deutschen Literatur gelten, aber die arbeitet sich auch nicht so unbescheiden an diesem Vorbild ab. OLIVER JUNGEN
Timon Karl Kaleyta: "Heilung". Roman.
Piper Verlag, München 2024. 206 S., geb.,
22,- Euro.
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