Goethes «Italienische Reise» ist ein Schlüsselwerk der Weimarer Klassik - Flucht aus der Midlife-Crisis, Aufbruch in die Welt, Bildungsreise in die Antike, Selbstverortung des großen deutschen Dichters. Sie ist aber auch der Beginn einer bürgerlichen Tradition: Goethes Bericht nährte eine Rom- und Italienbegeisterung unter deutschen und europäischen Intellektuellen, die bis heute anhält. Golo Maurer zeigt, wie ebenjene Selbsterfahrung Goethes in Italien für die Generationen nach ihm zum Vorbild wurde. Karl Friedrich Schinkel reiste im frühen, Richard Wagner im späten 19. Jahrhundert nach Italien, die Brüder Mann, Walter Benjamin, Sigmund Freud, der sich einen «Italienpilger» nannte - Goethe hatte ihnen die Messlatte gesetzt: «Dem denkenden und fühlenden Menschen geht ein neues Leben, ein neuer Sinn auf, wenn er diesen Ort betritt.» Maurer macht in seinem Buch deutlich: Goethes Italienreise war der erste deutsche Selbstfindungstrip - und als solcher für die Nachgeborenen ästhetischer Topos wie autobiographische Herausforderung.
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Ein "kenntnisreiches und auf Detailwissen basierendes Buch" hat Golo Maurer hier über die Italienreise Goethes, samt Vor- und Nachgeschichte, verfasst, lobt Rezensent Michael Opitz. Er lernt, dass Goethe erst der dritte Reiseversuch gelang, warum er überhaupt nach Italien reisen wollte und was das kostete. Seine Zeitgenossen konnten Goethes Italienbegeisterung offenbar nicht so recht teilen, heute ist das sicher anders. Exzellente Lektüre bis zur nächsten eigenen Italienreise, meint Opitz.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld hat nichts einzuwenden gegen die Italieneuphorie des Kunstgeschichtlers Golo Maurer. Wie Maurer Goethes Italiensehnsucht ausdeutet, findet er allerdings nicht einwandfrei. Maurers "Neuerzählung" der "Italienischen Reise" als Selbstheilung und Verwandlung des Geheimrats im Süden krankt laut Steinfeld an allzu "kühnen Vorstellungen", etwa wenn der Autor von Goethes "Midlife Crisis" spricht und dem Dichter ein "verfehltes Leben" attestiert. Wenn Maurer gegen Ende des Buches mit Italien verbundene Lebensläufe von Curtius bis Brinkmann präsentiert und sie quasi unter Goethe-Tourismus subsumiert, hat Steinfeld so seine Zweifel.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2022Therapie und Tourismus
Golo Maurer erzählt Goethes „Italienische Reise“ einmal mehr als Geschichte der Selbstheilung im Süden, allerdings mit forciert modernen Zügen. Geht das?
Je älter Johann Wolfgang Goethe wurde, desto mehr beschäftigte er sich mit der eigenen Geschichte. Er wurde „sich selbst historisch“, wie er diesen Vorgang nannte. Zugleich wurde er sich selbst poetisch. Er wolle „völlig wahrhaft“ sein und zugleich „ein anmutiges Märchen schreiben“, erklärte er in einem Brief aus dem Jahr 1815. Damals arbeitete er die Tagebücher und Briefe seiner italienischen Reise zu einem Erinnerungsbuch um, dreißig Jahre nach den Ereignissen. Er dichtete sein Leben nach, so wie er es zuvor in den ersten Bänden von „Dichtung und Wahrheit“ (ab 1811) getan hatte und später in der „Campagne in Frankreich“ (1822) betrieb. Tausende seiner Interpreten, berufene wie unberufene, dichteten an diesen Märchen weiter, ein jeder nach seinen Kenntnissen, ein jeder nach seinen Vorlieben und nach seinem Geschmack. Zwar wuchsen die Kenntnisse der Philologen und Historiker. Doch je mehr man über Goethe schrieb, und je unübersichtlicher das Wissen über diesen Dichter und seine Werke wurde, desto größer wurden die Freiheiten zur Poesie.
Golo Maurer, der Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom (der „Bibliotheca Hertziana“), weiß, dass jeder, der über Goethe schreibt, ein vielfach begangenes Gelände betritt. „Die Geschichte vom deutschen Dichter im Süden berührt so viele Sehnsüchte, Vorstellungen und Klischees, ist so abgedroschen und ausgelutscht, so neu und spannend“, schreibt er in einer programmatischen Erklärung zu seiner Neuerzählung der „Italienischen Reise“, „dass man sie immer wieder von neuem und immer wieder etwas anders erzählen kann. Sie ist, wie ein gutes Märchen der Brüder Grimm, schlicht unverwüstlich, ein ,Aschenputtel‘ für Erwachsene, die Geschichte von einem der auszog, im Süden zu lernen.“ Den offenen Widerspruch zwischen „ausgelutscht“ und „neu“, löst Golo Maurer zwar nicht auf. Aber man versteht, was er meint: Die Tatsachen haben sich in Stoff verwandelt. Die Geschichte ist ins Reich der Erzählungen gewandert.
„Heimreisen“ hat Golo Maurer sein Buch genannt, in dem der Geheime Rat Goethe zwar nicht als Aschenputtel, so doch als eine Art eiserner Heinrich auftritt. Erzählt wird die Geschichte einer Selbstheilung durch die Begegnung mit dem Süden, vermehrt um einen langen Epilog, in dem berichtet wird, wie sich aus Goethes Unternehmen langsam, aber sicher das seelische Zentrum der deutschen Nation herausbilden sollte.
In ihren Grundzügen ist diese Geschichte, wie bei Sagen üblich, oft vorgetragen worden. In diesem Fall trägt sie forciert moderne Züge: Mit der Reise nach Italien, so Maurer, habe Goethe „die Idee des biographischen Neubeginns, einer therapeutischen Reise zur Lebensmitte“ begründet. Belegt wird die These mit der Freude, die Goethe in Verona empfand, als er den Mantel in den Koffer legte und sich wie ein Italiener zu kleiden versuchte. Offenbar wird der Unterschied zwischen einer Kleidung und einer Verwandlung belanglos, wenn es einen Pionier der Selbstbefreiung zu loben gilt. Ob so viel Interesse am Menschen versinkt das literarische Werk im Unbedeutenden. Was sollen der „Tasso“, die „Iphigenie“, der „Wilhelm Meister“ sein? Eine „Ansammlung halbfertiger Meisterwerke“, erklärt Maurer, „die früher einmal viel gelesen wurden“. Besonderes Augenmerk legt Maurer auf die „Verschleifung von Milieus und Rollen“, die der Weimarer Hofbeamte mit seinem plötzlichen Aufbruch nach Italien und dem nachfolgenden, fast zwei Jahre währenden Aufenthalt im Süden betreibt: in Gestalt des Inkognitos, das er annimmt, der Stände, zwischen denen er changiert, oder der Liebschaften, die er preisgibt und eingeht. In diesen Bewegungen, in denen sich Goethe aus dem höfischen Regime löst, an das er sich über mehr als ein Jahrzehnt in Weimar gebunden hatte, liegt tatsächlich die „moderne Dimension der Reise“, wie Maurer sie darstellt. Allerdings ist die „Midlife Crisis“, die den „bürgerlichen Selfmademan“ Goethe überfallen haben soll, eine ebenso kühn unzeitgemäße Vorstellung wie der Gedanke, „Heimat“ sei eine „ultimative Komfort-Zone“. Aber vielleicht taugen solche Einfälle zur Verfertigung eines „anmutigen Märchens“, das dann davon handelt, wie Goethe es auf Grundlage einer herzoglichen Alimentierung, von allen Pflichten befreit und von der Sonne Italiens beschienen, zur „Modellfigur“ für die Deutschen brachte.
Goethe war ein alter Mann, als er, Eckermann zufolge, sein traurigstes Bekenntnis zu Italien ablegte: „Ja ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. – Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh gewesen.“ Bitter klingen diese Sätze, nach einem verfehlten Leben, und das um so mehr, als Golo Maurer sie an den Schluss seiner Darstellung der eigentlichen italienischen Reise setzt. Was sie bedeuten, ist indessen nicht sicher: Denn zum einen hatte sich Goethe im Herbst 1828, als ihn die Melancholie der Erinnerung überfiel, zu einem Helden der Einsamkeit gebildet, der er vierzig Jahre zuvor gewiss nicht gewesen war. Zum anderen lässt sich die Formulierung „was eigentlich ein Mensch sei“ auch materialistisch verstehen, im Sinne etwa Georg Büchners, der ein paar Jahre später schrieb: „Und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion.“ Golo Maurer hingegen möchte in Goethes Worten das Eingeständnis sehen, den Lebenssinn letztlich verfehlt zu haben. Die Deutung steht ihm frei, steht aber vermutlich nicht einmal für die halbe Wahrheit.
Dass Goethe sich im Juni 1788 wieder am herzoglichen Hof einfand, versichert Maurer, stelle folglich keine „Heimkehr“ dar, sondern eine „Heimreise“. Sie führt in die Verbannung, weshalb Goethe sich zuletzt mit Ovid vergleicht (wodurch Weimar zu Tomi am Schwarzen Meer wird). „In Italien und vor allem in Rom fühlte er sich zu Hause. Hier gehörte er eigentlich hin.“ Die Geschichte von der Selbstheilung im Süden war zu dieser Zeit, so Maurer, jedoch schon zu einer beispielgebenden Fabel geworden. Das Reisen auf Goethes Spuren begann. Johann Gottfried Herder wurde darüber unglücklich, was Schriftsteller, Gelehrte, Studienräte und zahllose gewöhnliche Menschen nicht daran hinderte, ihre Bestimmung gleichermaßen in Rom zu suchen. Von den großen deutschsprachigen Italienvermittlern des 19. Jahrhunderts, von Ferdinand Gregorovius und Victor Hehn vor allem, ist in Maurers Buch indessen nur beiläufig die Rede, was den letzten Teil als eher lose addiert erscheinen lässt.
In diesem letzten Drittel geht Maurer den italienischen Lebensläufen eines halben Dutzends deutscher Gelehrter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nach, von Ernst Robert Curtius bis Rolf Dieter Brinkmann, die sich gleichsam im Schatten Goethes in Rom bewegten, mit gemischten Ergebnissen. „Deutsch war, wer Goethe las und sich nach Italien sehnte. Das zumindest ist die These dieses Buches.“ Dass Goethe je gründlich gelesen wurde, außerhalb einer relativ schmalen Schicht gebildeter Bürger, ist indessen mehr als zweifelhaft: Große Teile des Œuvres, von Romanen wie „Der Sammler und die Seinigen“ bis zu den Heften „Zur Morphologie“, blieben weitgehend unbekannt. Gemessen an der Vertrautheit mit Schillers Werken, dessen Dramen und Balladen bis weit ins 20. Jahrhundert als unerschöpflicher Quell für geflügelte Worte dienten, dürfte es mit den Goethe-Kenntnissen der Deutschen, den „Götz“, den „Werther“ und den ersten Teil des „Faust“ ausgenommen, nie gut bestellt gewesen sein. Lässt man Maurers Definition gelten, hat es also in Deutschland nicht allzu viele „Deutsche“ gegeben, damals nicht und heute erst recht nicht. Die Möglichkeiten, zu den „anmutigen Märchen“ überzugehen, dürften sich dadurch erweitert haben.
Selbstverständlich geht das Märchenhafte auf Kosten der Faktentreue: In welchem Maß Goethes Abreise nach Italien tatsächlich die Tat eines „Oberfluchtmeisters“ und nicht eine zumindest mit dem Herzog verabredete Sache war, wird in der Forschung zumindest als fragliche Angelegenheit betrachtet. Dass Goethe während seiner gesamten Zeit in Italien die politischen Verhältnisse Weimars, vor allem im Bezug auf den Fürstenbund gegen Österreich, nicht aus dem Blick ließ, ist indessen belegt, kommt bei Maurer aber nicht vor.
Entsprechend bildete die Rückkehr nach Weimar keineswegs einen Übergang in die „Frührente“, sondern allenfalls einen wie auch immer prekären Übergang in eine andere Art der Produktivität. Hätte Goethe aber in Rom bleiben können? Vielleicht, und eine zumindest längerfristige Rückkehr dorthin war für das Jahr 1796 nicht nur geplant, sondern auch schon halb vorbereitet. Es wurde nichts daraus, und zwar nicht nur, weil in Norditalien Krieg geführt wurde, sondern auch, weil es für ihn mit dem einen „Selbsterfahrungstrip“ (Florian Illies) getan war.
Golo Maurer hingegen kam nach Italien und blieb. Und er denkt offenbar auch an sich selbst, wenn er erzählt, was Goethe am Morgen des 24. April 1787 sah, als er aus dem Fenster blickte: „So ein herrlicher Frühlingsblick wie der heutige, bei aufgehender Sonne, ward uns freilich nie durchs ganze Leben.“ Und Golo Maurer bestätigt: „Lässt sich Schöneres, Großartigeres im Leben denken? Eigentlich nicht.“ Gegen diesen Satz lässt sich gar nichts einwenden.
THOMAS STEINFELD
„Ich bin, mit meinem Zustande
in Rom verglichen, eigentlich
nachher nie wieder froh gewesen“
Dass Goethe je gründlich
gelesen wurde, ist mehr
als zweifelhaft
Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst. Rowohlt
Verlag, Hamburg 2021.
542 Seiten, 28 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Golo Maurer erzählt Goethes „Italienische Reise“ einmal mehr als Geschichte der Selbstheilung im Süden, allerdings mit forciert modernen Zügen. Geht das?
Je älter Johann Wolfgang Goethe wurde, desto mehr beschäftigte er sich mit der eigenen Geschichte. Er wurde „sich selbst historisch“, wie er diesen Vorgang nannte. Zugleich wurde er sich selbst poetisch. Er wolle „völlig wahrhaft“ sein und zugleich „ein anmutiges Märchen schreiben“, erklärte er in einem Brief aus dem Jahr 1815. Damals arbeitete er die Tagebücher und Briefe seiner italienischen Reise zu einem Erinnerungsbuch um, dreißig Jahre nach den Ereignissen. Er dichtete sein Leben nach, so wie er es zuvor in den ersten Bänden von „Dichtung und Wahrheit“ (ab 1811) getan hatte und später in der „Campagne in Frankreich“ (1822) betrieb. Tausende seiner Interpreten, berufene wie unberufene, dichteten an diesen Märchen weiter, ein jeder nach seinen Kenntnissen, ein jeder nach seinen Vorlieben und nach seinem Geschmack. Zwar wuchsen die Kenntnisse der Philologen und Historiker. Doch je mehr man über Goethe schrieb, und je unübersichtlicher das Wissen über diesen Dichter und seine Werke wurde, desto größer wurden die Freiheiten zur Poesie.
Golo Maurer, der Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom (der „Bibliotheca Hertziana“), weiß, dass jeder, der über Goethe schreibt, ein vielfach begangenes Gelände betritt. „Die Geschichte vom deutschen Dichter im Süden berührt so viele Sehnsüchte, Vorstellungen und Klischees, ist so abgedroschen und ausgelutscht, so neu und spannend“, schreibt er in einer programmatischen Erklärung zu seiner Neuerzählung der „Italienischen Reise“, „dass man sie immer wieder von neuem und immer wieder etwas anders erzählen kann. Sie ist, wie ein gutes Märchen der Brüder Grimm, schlicht unverwüstlich, ein ,Aschenputtel‘ für Erwachsene, die Geschichte von einem der auszog, im Süden zu lernen.“ Den offenen Widerspruch zwischen „ausgelutscht“ und „neu“, löst Golo Maurer zwar nicht auf. Aber man versteht, was er meint: Die Tatsachen haben sich in Stoff verwandelt. Die Geschichte ist ins Reich der Erzählungen gewandert.
„Heimreisen“ hat Golo Maurer sein Buch genannt, in dem der Geheime Rat Goethe zwar nicht als Aschenputtel, so doch als eine Art eiserner Heinrich auftritt. Erzählt wird die Geschichte einer Selbstheilung durch die Begegnung mit dem Süden, vermehrt um einen langen Epilog, in dem berichtet wird, wie sich aus Goethes Unternehmen langsam, aber sicher das seelische Zentrum der deutschen Nation herausbilden sollte.
In ihren Grundzügen ist diese Geschichte, wie bei Sagen üblich, oft vorgetragen worden. In diesem Fall trägt sie forciert moderne Züge: Mit der Reise nach Italien, so Maurer, habe Goethe „die Idee des biographischen Neubeginns, einer therapeutischen Reise zur Lebensmitte“ begründet. Belegt wird die These mit der Freude, die Goethe in Verona empfand, als er den Mantel in den Koffer legte und sich wie ein Italiener zu kleiden versuchte. Offenbar wird der Unterschied zwischen einer Kleidung und einer Verwandlung belanglos, wenn es einen Pionier der Selbstbefreiung zu loben gilt. Ob so viel Interesse am Menschen versinkt das literarische Werk im Unbedeutenden. Was sollen der „Tasso“, die „Iphigenie“, der „Wilhelm Meister“ sein? Eine „Ansammlung halbfertiger Meisterwerke“, erklärt Maurer, „die früher einmal viel gelesen wurden“. Besonderes Augenmerk legt Maurer auf die „Verschleifung von Milieus und Rollen“, die der Weimarer Hofbeamte mit seinem plötzlichen Aufbruch nach Italien und dem nachfolgenden, fast zwei Jahre währenden Aufenthalt im Süden betreibt: in Gestalt des Inkognitos, das er annimmt, der Stände, zwischen denen er changiert, oder der Liebschaften, die er preisgibt und eingeht. In diesen Bewegungen, in denen sich Goethe aus dem höfischen Regime löst, an das er sich über mehr als ein Jahrzehnt in Weimar gebunden hatte, liegt tatsächlich die „moderne Dimension der Reise“, wie Maurer sie darstellt. Allerdings ist die „Midlife Crisis“, die den „bürgerlichen Selfmademan“ Goethe überfallen haben soll, eine ebenso kühn unzeitgemäße Vorstellung wie der Gedanke, „Heimat“ sei eine „ultimative Komfort-Zone“. Aber vielleicht taugen solche Einfälle zur Verfertigung eines „anmutigen Märchens“, das dann davon handelt, wie Goethe es auf Grundlage einer herzoglichen Alimentierung, von allen Pflichten befreit und von der Sonne Italiens beschienen, zur „Modellfigur“ für die Deutschen brachte.
Goethe war ein alter Mann, als er, Eckermann zufolge, sein traurigstes Bekenntnis zu Italien ablegte: „Ja ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. – Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh gewesen.“ Bitter klingen diese Sätze, nach einem verfehlten Leben, und das um so mehr, als Golo Maurer sie an den Schluss seiner Darstellung der eigentlichen italienischen Reise setzt. Was sie bedeuten, ist indessen nicht sicher: Denn zum einen hatte sich Goethe im Herbst 1828, als ihn die Melancholie der Erinnerung überfiel, zu einem Helden der Einsamkeit gebildet, der er vierzig Jahre zuvor gewiss nicht gewesen war. Zum anderen lässt sich die Formulierung „was eigentlich ein Mensch sei“ auch materialistisch verstehen, im Sinne etwa Georg Büchners, der ein paar Jahre später schrieb: „Und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion.“ Golo Maurer hingegen möchte in Goethes Worten das Eingeständnis sehen, den Lebenssinn letztlich verfehlt zu haben. Die Deutung steht ihm frei, steht aber vermutlich nicht einmal für die halbe Wahrheit.
Dass Goethe sich im Juni 1788 wieder am herzoglichen Hof einfand, versichert Maurer, stelle folglich keine „Heimkehr“ dar, sondern eine „Heimreise“. Sie führt in die Verbannung, weshalb Goethe sich zuletzt mit Ovid vergleicht (wodurch Weimar zu Tomi am Schwarzen Meer wird). „In Italien und vor allem in Rom fühlte er sich zu Hause. Hier gehörte er eigentlich hin.“ Die Geschichte von der Selbstheilung im Süden war zu dieser Zeit, so Maurer, jedoch schon zu einer beispielgebenden Fabel geworden. Das Reisen auf Goethes Spuren begann. Johann Gottfried Herder wurde darüber unglücklich, was Schriftsteller, Gelehrte, Studienräte und zahllose gewöhnliche Menschen nicht daran hinderte, ihre Bestimmung gleichermaßen in Rom zu suchen. Von den großen deutschsprachigen Italienvermittlern des 19. Jahrhunderts, von Ferdinand Gregorovius und Victor Hehn vor allem, ist in Maurers Buch indessen nur beiläufig die Rede, was den letzten Teil als eher lose addiert erscheinen lässt.
In diesem letzten Drittel geht Maurer den italienischen Lebensläufen eines halben Dutzends deutscher Gelehrter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nach, von Ernst Robert Curtius bis Rolf Dieter Brinkmann, die sich gleichsam im Schatten Goethes in Rom bewegten, mit gemischten Ergebnissen. „Deutsch war, wer Goethe las und sich nach Italien sehnte. Das zumindest ist die These dieses Buches.“ Dass Goethe je gründlich gelesen wurde, außerhalb einer relativ schmalen Schicht gebildeter Bürger, ist indessen mehr als zweifelhaft: Große Teile des Œuvres, von Romanen wie „Der Sammler und die Seinigen“ bis zu den Heften „Zur Morphologie“, blieben weitgehend unbekannt. Gemessen an der Vertrautheit mit Schillers Werken, dessen Dramen und Balladen bis weit ins 20. Jahrhundert als unerschöpflicher Quell für geflügelte Worte dienten, dürfte es mit den Goethe-Kenntnissen der Deutschen, den „Götz“, den „Werther“ und den ersten Teil des „Faust“ ausgenommen, nie gut bestellt gewesen sein. Lässt man Maurers Definition gelten, hat es also in Deutschland nicht allzu viele „Deutsche“ gegeben, damals nicht und heute erst recht nicht. Die Möglichkeiten, zu den „anmutigen Märchen“ überzugehen, dürften sich dadurch erweitert haben.
Selbstverständlich geht das Märchenhafte auf Kosten der Faktentreue: In welchem Maß Goethes Abreise nach Italien tatsächlich die Tat eines „Oberfluchtmeisters“ und nicht eine zumindest mit dem Herzog verabredete Sache war, wird in der Forschung zumindest als fragliche Angelegenheit betrachtet. Dass Goethe während seiner gesamten Zeit in Italien die politischen Verhältnisse Weimars, vor allem im Bezug auf den Fürstenbund gegen Österreich, nicht aus dem Blick ließ, ist indessen belegt, kommt bei Maurer aber nicht vor.
Entsprechend bildete die Rückkehr nach Weimar keineswegs einen Übergang in die „Frührente“, sondern allenfalls einen wie auch immer prekären Übergang in eine andere Art der Produktivität. Hätte Goethe aber in Rom bleiben können? Vielleicht, und eine zumindest längerfristige Rückkehr dorthin war für das Jahr 1796 nicht nur geplant, sondern auch schon halb vorbereitet. Es wurde nichts daraus, und zwar nicht nur, weil in Norditalien Krieg geführt wurde, sondern auch, weil es für ihn mit dem einen „Selbsterfahrungstrip“ (Florian Illies) getan war.
Golo Maurer hingegen kam nach Italien und blieb. Und er denkt offenbar auch an sich selbst, wenn er erzählt, was Goethe am Morgen des 24. April 1787 sah, als er aus dem Fenster blickte: „So ein herrlicher Frühlingsblick wie der heutige, bei aufgehender Sonne, ward uns freilich nie durchs ganze Leben.“ Und Golo Maurer bestätigt: „Lässt sich Schöneres, Großartigeres im Leben denken? Eigentlich nicht.“ Gegen diesen Satz lässt sich gar nichts einwenden.
THOMAS STEINFELD
„Ich bin, mit meinem Zustande
in Rom verglichen, eigentlich
nachher nie wieder froh gewesen“
Dass Goethe je gründlich
gelesen wurde, ist mehr
als zweifelhaft
Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst. Rowohlt
Verlag, Hamburg 2021.
542 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Historiker Golo Maurer erkundet in seinem Buch "Heimreisen" die Italienleidenschaft der Deutschen. (...) Ihm ist ein anregendes Reisebuch gelungen - für Reisen in den Süden und durch deutsche Geschichte. Hannoversche Allgemeine Zeitung