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Großes Feuilleton: Selbst in seinen Alltagsarbeiten war Joseph Roths Stil alterslos und über jede Mode erhaben, wie zwei neue Anthologien zeigen.
Ob Joseph Roth heutzutage den Egon Erwin Kisch-Preis oder eine andere Auszeichnung für Reportage bekäme, ist fraglich. Sein Sinn für die Gesetze der Gattung ist unterentwickelt: Wie man einen ordentlichen szenischen Einstieg hinbekommt, scheint ihn gar nicht so recht zu kümmern; die Anbindung an ein aktuelles Thema von allgemeinem Interesse ist oft undeutlich, der Anlass eines Textes erscheint, wenn überhaupt, meist erst im letzten Drittel; zugespitzte Thesen, die sich in eine eindeutige Beziehung zu anderen zugespitzten Thesen bringen ließen, sucht man vergebens; überhaupt sind seine Themen für gewöhnlich etwas zu klein, um für einen großen Preis in Frage zu kommen.
Die Zweifel an seiner Journalistenpreistauglichkeit liegen allerdings nicht daran, dass Joseph Roth, der Schriftsteller, sich zu fein dafür gewesen wäre, sich als Journalist zu fühlen, im Gegenteil. Oft hat er gegen die Feingeister polemisiert, die eine zu säuberliche Trennlinie zwischen Schriftsteller und Journalist ziehen wollen, und in einer jetzt neu erschienenen Artikelsammlung ist ein Brief zitiert, in dem er sogar mit beträchtlichem Pathos das Recht der Zeitung auf Eingriffe in den Text verteidigt. Dem Feuilleton-Korrespondenten Bernard von Brentano schrieb er 1926: "Vielleicht werden Sie mit dieser eifersüchtigen Liebe zu jeder Zeile, die Sie von sich geben, ein genialer Dichter. Ein guter Journalist niemals." Und dann, noch feierlicher: "Die Sache, der Sie Ihren Aufsatz widmen, ist heilig. Ihr Aufsatz ist Mittel zum Zweck." Das schrieb er freilich, als er für die "Frankfurter Zeitung" vorübergehend als Redakteur tätig war. Meistens war er selbst Korrespondent oder freier Mitarbeiter, der mitunter sehr dünnhäutig auf vermeintliche oder wirkliche Missachtung seiner Arbeit reagieren konnte. "Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern eine Hauptmahlzeit", lautete die berühmte Zeile an Benno Reifenberg, mit der er die zentrale Bedeutung eines feuilletonistischen Reporters für die Zeitung herausstreichen wollte.
Die jetzt im Wallstein Verlag erschienene Anthologie "Heimweg nach Prag" ist deshalb so aufschlussreich, weil sie die Normalität des journalistischen Arbeitens bei Roth dokumentiert, statt die Artikel als Ausfluss eines isoliert für sich stehenden literarischen Werks zu präsentieren. Der Herausgeber Helmuth Nürnberger hat chronologisch sämtliche Texte versammelt und sorgfältig kommentiert, die von Roth in einer der von ihm belieferten Zeitungen erschienen sind, nämlich im "Prager Tagblatt", einer großen liberalen Zeitung, für die außer seinen Vorbildern Alfred Polgar und Egon Erwin Kisch etwa auch Max Brod schrieb. Noch einmal veröffentlicht sind also auch alle weniger gelungenen Arbeiten, die Gedichtversuche, die Buchauszüge, die Zweitverwertungen von Texten für Zeitungen wie den "Berliner Börsen-Courier", die "Neue Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Zeitung". Um sein kostspieliges Berliner Leben im Hotel zu finanzieren, war Roth darauf angewiesen, nicht nur schnell und viel zu schreiben, sondern auch profitabel zu verkaufen. Und dokumentiert sind auch die Streichungen, manchmal auch Verstümmelungen, die zu akzeptieren er sich zumindest nach außen als professionelle Tugend anrechnete ("Von 40 Artikeln, die ich geschrieben habe, sind vielleicht zehn ,unversehrt' erschienen").
In einer Szene über Führungen von Arbeitslosen im Berliner Volkskunde-Museum kürzte die Redaktion des "Prager Tagblatts" gleich den ganzen politischen Schluss des Artikels weg, in dem er die Entscheidung kritisiert, Deutschland die Mitgliedschaft im Völkerbund zu versagen. In einem anderen Artikel über die Berliner Müllerstraße (eine Straße "von solch qualvoller Unaufhörlichkeit, als trüge sie ihren Namen nicht nach einem, sondern nach allen Müllers der Welt") ist der Schluss wohl eher aus Unachtsamkeit verstümmelt. Allzu sorgsam scheint die Redaktion nicht immer mit ihrem Mitarbeiter umgegangen zu sein, wie auch aus der ziemlich ignoranten Etikettierung seines Buchs "Der Antichrist" von 1934 als Manifest hervorgeht, das sich "vor allem gegen das Kino" wende. Die scharfen Abrechnungen Roths mit dem Hitler-Regime nach 1933 druckte das "Prager Tagblatt" nicht. Da ein Briefwechsel nicht erhalten ist, weiß man nicht, weshalb, und auch nicht, ob es sonstige Unstimmigkeiten gab.
Der Herausgeber Helmuth Nürnberger zeichnet nach, wie sich die Wege des Schriftstellers und der Zeitung kreuzten - wobei auch deutlich wird, dass Roth eine zwar leidenschaftliche, aber nicht sehr kenntnisreiche Beziehung zu Prag hatte. In dem titelgebenden Artikel "Heimweh nach Prag" von 1924, der hier offenbar wie einige andere nicht näher gekennzeichnete Texte zum ersten Mal in einer Anthologie veröffentlicht wird, fungiert die Stadt mehr wie eine Negativfolie für das, was dem Autor an seinem Wohnort Berlin alles fehlt. Während die deutsche Hauptstadt als Hort der Obrigkeitsstaatlichkeit beschrieben wird, der für den Autor nur wie der "Wartesaal eines großen Bahnhofs" ist, erscheint ihm Prag als "Schoß der mütterlichen Skepsis", als eine "Heimat für Heimatlose", in der er "jeden Augenblick zu Hause sein kann". Schon einem früheren Text über Prag hatte der "Berliner Börsen-Courier" den warnenden Hinweis vorangestellt, es handele sich bloß um eine "literatenhafte Vorstellung" der Stadt.
Damit ist freilich zugleich auch benannt, was am Journalisten Joseph Roth so großartig ist. Beobachtungen dienen ihm nicht allein dazu, Atmosphäre zu schaffen, und auch nicht bloß, eine These zu illustrieren. Die Details setzen sich bei ihm zu einem inneren Bild zusammen. Er könne nicht "berichten", hat Roth einmal geschrieben: "Ich kann nur erzählen, was in mir vorging und wie ich es erlebte". So setzt er sich in ein Luxushotel, um nachzuempfinden, wie sich ein Millionär fühlt, oder er imaginiert die Lebenswege von anonymen Toten, deren Fotos er sich im Polizeipräsidium anguckt. Und fast immer drückt sich die Einfühlung in einer Sprache aus, die denkbar weit von Sentimentalität entfernt ist.
In einem seiner frühesten Texte fällt ihm 1919 in der Wiener Kärtnerstraße "ein vom Kriege zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch" auf, auf dessen "mit dem Trottoir eine Horizontale bildenden gebrochenen Rücken" ein Hund sitzt: Das ist für Roth das gültige Bild dieser Nachkriegszeit.
Die Journalistin Wiebke Porombka meint, Roth habe in der Stadtbeobachtung eine "Möglichkeit des Denkens jenseits von alten Begrifflichkeiten" gefunden. Entlang dieser Leitlinie hat sie im Rahmen der Bibliothek "Österreichs Eigensinn" im Verlag Jung und Jung eine weitere schön gestaltete Anthologie herausgegeben, eine Art "Best of" schon früher gesammelter Stadtfeuilletons von Roth vor allem aus Wien und Berlin. Die Beliebtheit der Feuilleton-Gattung scheint auf dem Buchmarkt groß zu sein. Dass sie es beim real existierenden Feuilleton heute weniger ist, hat wahrscheinlich nicht mit deren Subjektivität zu tun, die ja jetzt auch wieder hoch im Kurs steht. Eher schon mit dem Objektivitätsanspruch dieser Subjektivität, mit dem selbst ein so entschiedenes Temperament wie Joseph Roth nicht davor zurückschreckte, vorgefundene Widersprüche unaufgelöst nebeneinander stehen zu lassen.
MARK SIEMONS
Joseph Roth: "Heimweh nach Prag". Feuilletons - Glossen - Reportagen für das "Prager Tagblatt".
Hrsg. und kommentiert von Helmuth Nürnberger. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 640 S., geb., 39,90 Euro.
Joseph Roth: "Trübsal einer Straßenbahn". Stadtfeuilletons.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Wiebke Porombka. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2012, 271 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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