Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Susanne Fritz erzählt von einer deutschen Vaterfigur
Eines der beiden Motti, die Susanne Fritz ihrem Vaterroman voranstellt, stammt von Jean-Luc Godard: "Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge." Es ist anzunehmen, dass die Autorin damit ihr eigenes Verfahren bei diesem Buch beschreiben will. Folgerichtig lautet der erste Satz: "Ich suche einen Mann, dessen Leben im Alter von dreiundzwanzig Jahren beginnt." Denn von allem, was davor war, will Heinrich, der titelgebende Held dieses Romans, nichts (mehr) wissen.
Die Erzählerin dagegen schon. Glücklicherweise ist es für uns Leser ganz unerheblich, ob es sich bei Heinrich eins zu eins um den Vater der Autorin handelt oder um eine Kunstfigur. Das mag für Fritz eine Rolle spielen, für uns nicht. Es ist auch unerheblich, ob die Icherzählerin eins zu eins mit der Autorin gleichzusetzen ist oder darüber hinaus noch andere Facetten aufweist.
Die Geschichte beginnt mit der Urszene: Heinrichs Vater holt mit dem Stock nach ihm aus, der Kleine weicht aus, ein prachtvoller Spiegel wird zerschmettert. "Sein Unbehagen Spiegeln gegenüber ein Leben lang. Sich selbst nicht erkennen wollen, nicht erkennen können im gespiegelten Gegenüber."
Ob es sich hier um eine Reflexion des erwachsenen Heinrich handelt, um eine Vermutung seiner Erzählerin-Tochter oder aber um beides, steht dahin. Was wir erfahren, ist, dass Heinrich einen zum Jähzorn und zum Suff neigenden Vater mit dem Spitznamen Hoppla hatte, dass wir uns eingangs des Romans im Polen der Zwischenkriegszeit befinden, in der Zweiten Polnischen Republik also und dass Heinrichs Familie der deutschen Minderheit angehört.
Das ändert sich mit dem Überfall Deutschlands auf das Nachbarland, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert. Da ist Heinrich dreizehn und steht jetzt auf der siegreichen Seite. Er verfolgt gebannt in der Wochenschau die weiteren Feldzüge und träumt spätestens nach dem Überfall auf die Sowjetunion und dem schnellen Vormarsch davon, möglichst bald selbst an die Front zu kommen.
Ihn fasziniert vor allem der Name Dnjepropetrowsk, und er träumt davon, einmal Bürgermeister dieser Stadt in der Ukraine zu werden, die wir inzwischen als Dnipro kennen und die heute wieder Kriegsgebiet ist: "Lass dir berichten, Heinrich", ruft die Erzählerin ihren toten Vater an, "dass diese Stadt, während diese Zeilen geschrieben werden, ihr sowjetisches Erbe und mit ihm ihren alten Namen abgeworfen hat und heute schlicht so heißt wie auf Ukrainisch der Fluss, der sie bis zu zwei Kilometern Breite durchströmt . . ."
Heinrichs Wunsch, an die Ostfront zu kommen, geht für ihn als Siebzehnjährigen in Erfüllung, der Wunsch, Bürgermeister von Dnjepropetrowsk zu werden, nicht. Stattdessen erwarten ihn vier Jahre Kriegsgefangenschaft, bevor er 1949 "nach Hause" darf. Das meint in diesem Fall durch eine Reihe von Zufällen eine Kleinstadt im Schwarzwald, denn das ehemalige Zuhause ist inzwischen wieder polnisch. Später, in den Sechzigern, wird Heinrich die Gegend als Tourist auf einer Busreise besuchen, umzingelt von den mitreisenden Vertriebenen, die sich das Maul darüber zerreißen, wie heruntergekommen doch ihre ehemaligen Häuser sind, jetzt "in den falschen Händen".
In der Schwarzwaldkleinstadt beginnt, nach eigener Zählung, Heinrichs Leben. Er ist 23, es folgt eine beeindruckende Karriere als Architekt und Unternehmer, die Gründung einer Familie. Heinrich kauft sich, als "erste Anschaffung, die nicht unmittelbarer Notwendigkeit geschuldet ist", eine Leica.
"Die Fotografie löst das Tagebuch, den Ort peinlicher Selbstbeobachtung und Rechtfertigung ab. Der Negativfilm übernimmt die Rolle der Handschrift. An die Stelle des Berichts tritt die Magie des Lichts, an die der Wahrheitsfindung die Suche nach dem schönen Augenblick." Die unmittelbare Nachkriegszeit in ihrer Melange aus Verdrängung, Aufbruchsstimmung und Enge fängt Susanne Fritz sehr überzeugend ein. "Die neue Zeitrechnung fällt noch schwer, man tritt sich auf die Füße. Wer hängt an welchen Tagen welche Wäsche an die Leine? Eine hängt die Wäsche der anderen ab und ihre Wäsche dafür auf. Wer fegt welche Schwelle mit welchem Besen? Manche übersehen Besen grundsätzlich, manche fegen wild." Die Enge verschwindet jedoch mehr und mehr, der Erfolg scheint endlos zu sein: Bis Heinrich keine Lust mehr hat und die Firma abgibt.
Leider hat man den Eindruck, dass auch die Autorin keine rechte Lust mehr hat und aussteigt. Heinrich macht noch die ökologische Wende mit (hier sind wir in den frühen Siebzigern, Club of Rome), zehn Jahre später ist er Friedensaktivist. Vor allem hangelt er sich von einer Krankheit zur nächsten, Einzelheiten erfahren wir kaum, denn das alles wird nur noch protokollarisch aufgeschrieben, nicht mehr gezeigt.
Die Bilder verblassen. Erst kurz vor dem Ende ist es Heinrich selbst, der den Faden seines Lebens noch einmal aufnimmt und seiner Tochter Luisa bis dahin Verschwiegenes erzählt. Dieses Kapitel heißt "Licht am Ende des Tunnels". In ihm erkennt sich Heinrich, dem in seiner Kindheit der Spiegel zerschlagen wurde, vielleicht so gut wie nie zuvor. Es wäre versöhnlich gewesen, mit dieser Szene aufzuhören, aber Luisa oder die Autorin Susanne Fritz können ihre Suche nicht beenden. "Doch ich brauche einen Menschen", lautet der letzte Satz. Heinrich kann es nicht mehr sein.
Kommen wir noch einmal auf das anfangs genannte Motto von Jean-Luc Godard zurück, die Mär von Anfang, Mitte und Ende. Es erinnert fatal an das, was wir in der Schule im Fach Deutsch über den "Besinnungsaufsatz" gelernt haben. Etwas Besseres als das hat uns die Susanne Fritz zum Glück allemal geliefert. JOCHEN SCHIMMANG
Susanne Fritz: "Heinrich". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
211 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main