In der Epoche aufkeimender Nationalbewegungen besaß Heine ein feines Sensorium für den gar nicht so feinen Unterschied zwischen republikanischem und altdeutschem Nationalismus. Er richtete als Erster ein waches Auge auf die dunklen Energien eines drohenden Populismus und pflegte eine ganz eigene Unterscheidung von »Kultur« und »Zivilisation« jenseits der üblichen Völkerklischees. Er kultivierte einen elegant-ironischen Umgang mit deutschem Ressentiment und Tiefsinn - und beleidigte in all dem die deutsche Leitkultur.
Rolf Hosfeld, erfolgreicher Biograph und einer der besten deutschen Heine-Kenner, zeigt uns, wie Heines außergewöhnliches Leben und Werk gleichsam den Typus des europäischen Intellektuellen begründet hat.
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Das Leben Heinrich Heines war anders, als er selbst es gesehen haben wollte: Rolf Hosfelds neue Biographie
Er hatte viele Frauen, die dafür in Frage kamen. Es mag in Hamburger oder Frankfurter Bordellen in der Zeit als Gymnasiast und als Bankkaufmannslehrling geschehen sein oder spätestens in der Zeit als sechsundzwanzigjähriger Göttinger Student, dass Heinrich Heine sich, obgleich er sich veilchenblaue Seidenkondome hatte anmessen lassen, bei der schönen Köchin von Hofrat Bauer die Syphilis holte, die ihn sein Leben lang mit Lähmungen, Krämpfen, Nervenschädigungen, Kopfschmerzen, Blindheit quälte - und schließlich dem achtjährigen Krankenlager von 1848 bis zu seinem Tod. Er starb in Paris in einer schönen Wohnung mit Blick auf die Champs-Élysées. Er war nicht so arm, wie er manchmal vorgab.
Heine verdiente als Literat sehr ordentlich. In manchen Jahren brachte er es auf mehr als 30 000 Franc - wobei ein Franc an Kaufkraft rund zehn Euro entsprochen haben dürfte. Die finanzielle Basis bildeten jene viertausend Franc, die ihm sein schwerreicher Onkel Salomon Heine als Jahresrente zahlte und die er sich nach dessen Tod auch von dessen Sohn und Erbe erstritt. Unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe, "dem besten Monarchen, der jemals die konstitutionelle Dornenkrone trug", erhielt er außerdem einen französischen Ehrensold in Höhe von weiteren viertausend Franc jährlich - den ausgerechnet die Februarrevolution von 1848 ihm aberkannte und den Napoleon III. nicht wieder aufleben ließ. Er brauche aber wegen seiner Krankheit 24 000 Franc jährlich, schrieb Heine 1855 in einem Brief an die Mutter in Hamburg. Damals erhielt er von dort die Hälfte dieser Summe und musste die andere Hälfte mit seinen Publikationen verdienen.
Heines Leben ist voller Paradoxien. Er profitierte von der Judenemanzipation, gehörte zur ersten Generation, die christliche Gymnasien besuchen (Düsseldorf) und sich ungehindert an deutschen Universitäten (Bonn, Berlin, Göttingen) immatrikulieren konnte, vermochte aber das Stigma, ein Jude zu sein, in Deutschland nie abzustreifen. Er promovierte zum Doktor der Rechte (wenn auch nur "rite", der Ordnung genügend), praktizierte jedoch nie als Jurist. Er war Burschenschaftler und verhöhnte die Burschenschaften. Er konnte schmerzlich süß schreiben, aber auch gallenbitter wie in den Polemiken gegen Wolfgang Menzel, August von Platen und Ludwig Börne. Er duellierte sich mit den Antisemiten neuer Art, die nach der Judenemanzipation die taufrische Nationalbewegung verschmutzten.
Er wollte eigentlich ein Deutscher sein, kein Jude, aber die Deutschen zwangen ihn dazu, ein Jude zu sein, und als solcher verteidigte er sich wütend gegen jedwede Schmähung. Weil er in Deutschland kein Deutscher sein durfte, ging er nach Frankreich, wo man ihn als Deutschen achtete. Als man 1835 seine Schriften in den Ländern des Deutschen Bundes verbot, lebte er schon seit Jahren in Paris.
Er ließ sich evangelisch taufen und heiratete katholisch. Er verkehrte mit Atheisten und Religionskritikern wie Marx und Feuerbach und bekannte doch 1851: "Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit mit den Hegelianern die Schweine gehütet." Er liebte seine Heidengötter, darunter "die hochgebenedeite Göttin der Schönheit, Unsere Liebe Frau von Milo", bedauerte nur, dass sie keine Arme hatte und also nicht helfen konnte. Helfen konnte seine Frau Mathilde, sie zähmte den Polygamen allmählich und pflegte ihn in der Zeit der "Matratzengruft". Gleichwohl verliebte er sich in seinem letzten Lebensjahr noch einmal vom Bett aus. "Worte, Worte, keine Taten", dichtete der Gelähmte damals sehnsüchtig und sarkastisch, "immer Geist und keinen Braten." Er hätte gern Fleischliches gegeben. Geistig war er wach bis zum Schluss.
In der wohlinformierten neuen Heine-Biographie von Rolf Hosfeld erfährt man fast alles und vielerlei, langweilt sich nicht, ist aber wie ein Spaziergänger, der an Schaufenstern vorbeibummelt. Da ist viel Interessantes, aber wenig Strukturbildendes, viel Anregendes, aber wenig Weitergedachtes. Ein ganzes Leben wird chronologisch durchgeplaudert, aber die Person, um die sich alles dreht, bleibt fern und hinter Glas, ein Sieb, das nichts fasst, ohne eine Seele, die mit der des Lesers in Dialog träte. Die Syphilis wird gestreift, aber gleich wieder vergessen, ein Bewusstsein, dass in den wunderbaren Gedichten und Berichten immer ein Kranker spricht, dreißig Jahre lang, stellt sich nicht her. Viele Mädchen huschen durchs Bild, aber eine tiefenpsychologische Ergründung fehlt, von den literarischen Auswirkungen der Erotomanie ist kaum die Rede. Die ökonomische Situation wird durch gelegentliche Zahlen erahnbar, aber nie insgesamt erörtert und bewertet.
Dabei erklärt sie vieles. Wer von einem Bankier, vom Staat und vom Markt für Feuilletontexte abhängt, kann ehrlicherweise kein Kommunist sein. Am ehesten noch wird das Thema Judentum grundsätzlicher gefasst, aber auch hier fehlt es an einer schlüssigen Darlegung der Konsequenzen für das literarische Werk. Die Wahl der Stoffe und der unverwechselbare Heine-Ton müssten sich eigentlich aus den Grundkonstanten dieses Lebens ergeben, aber das literarische Werk dient Hosfeld nur als Steinbruch, in dem biographische Mitteilungen herumliegen.
Der Untertitel "Die Erfindung des europäischen Intellektuellen" lässt eine Gelehrtensoziologie erwarten, die nicht gegeben wird. Es wird darum auch nicht klar, wer hier was "erfunden" haben soll. Lessing war doch auch schon ein Intellektueller, Friedrich Schlegel ebenso, Voltaire und Diderot sowieso. Oder ist das Wort "Erfindung" identitätspsychologisch gemeint, "postmodern", als habe Heine sich eine Rolle geschneidert? Auch diese Lesart bleibt ohne Halt, weil Heine eben doch sehr authentisch ist, kein nihilistischer Dandy; in allem spürt man seine Liebe und seinen Hass, seinen Schmerz und seine Lust. Er hat immer Witz, aber immer auch Pathos. Sein Lachen ist nie ohne Lebensernst. Er ist kein postmoderner Spieler, sondern, wie er selbst sagte, "ein braver Soldat im Befreiungskriege der Menschheit".
Man muss die fünfhundert Seiten deshalb nicht ungelesen lassen. Sie sind flüssig geschrieben und mit kostbaren Heine-Zitaten verziert. Ihre Hauptbelege sind die Briefe und die autobiographischen Äußerungen in Gedichten und Reisefeuilletons. Ungedruckte Quellen werden nicht verwendet. Infolgedessen gibt es nichts völlig Neues. Es weht ein bekannter Grundwind - vage antiklassisch, antiromantisch und antireligiös, lustlos links. Aber immerhin erfährt man von fast allem, was in der Heine-Forschung diskutiert wird, irgendetwas. Solange es keine wirklich exzellente Heine-Biographie gibt, mischt Hosfeld immerhin unter den besten mit.
HERMANN KURZKE
Rolf Hosfeld: "Heinrich Heine - Die Erfindung des europäischen Intellektuellen". Biographie.
Siedler Verlag, München 2014. 509 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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