Selten war ein Verhältnis von Vater und Sohn so innig und so komplex - obwohl sich die Lebenszeit beider kaum überschnitt: Heinrich George herrschte seit den 1920ern als Berliner Theaterkönig, spielte unter Brecht und in «Metropolis». Im Dritten Reich führte er seine Karriere zu neuen Höhen, ließ sich für Propaganda einspannen; er starb 1946 im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen. Der Sohn Götz war da acht Jahre alt, doch mit dem Vater beschäftigte er sich zeitlebens - dem widersprüchlichen Künstler, dem er auf eigene Weise nachfolgte. Götz George spielte in Karl-May-Streifen, dann in «Schtonk» oder «Rossini», in denen sich die Republik spiegelte, glänzte in Charakterrollen wie in «Der Totmacher». Als «Schimanski» wurde er zum beliebtesten deutschen Fernsehkommissar und zum Prototyp des neuen Manns, der auch verletzlich sein durfte. Bei aller Verschiedenheit eint Vater und Sohn: Beide waren ungemein populär, echte Volksschauspieler. Ihr Leben erzählt ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Thomas Medicus versteht es wie wenige, seine Figuren lebhaft auszuleuchten und zugleich das große Panorama zu zeichnen. Eine außergewöhnliche, bewegende Vater-Sohn-Geschichte - und die Doppelbiographie zweier prägender Künstler des 20. Jahrhunderts.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020Geschenke
für
den Kopf
Man muss nicht alles positiv sehen,
aber sagen wir es mal so:
Jetzt kommen noch stillere Tage als sonst um
Weihnachten, das bedeutet extra viel Zeit
für Bücher, Filme, Musik! Dazu ein
paar Empfehlungen aus der SZ-Redaktion
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Das neue Grundlagenwerk zu Geschichte und Gegenwart der Krisen der Demokratie, in dessen Mittelpunkt dennoch die essayistisch tastende Überzeugung steht, dass wir uns in gefährlichen Zeiten vor allem anderen darüber klar werden müssen, was wir alles nicht wissen, bevor wir entscheiden können, was zu tun ist.
Adam Przeworski: Krisen der Demokratie. Suhrkamp, 2020. 254 Seiten, 18 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Ein so kluger wie warmherziger und unterhaltsamer Essay über Stil, Geschmack und Sinn im Pop anhand von Enya, der Königin der sphärischen New-Age-Kitschmusik? Geht natürlich nicht. Es sei denn, Chilly Gonzales schreibt ihn.
Chilly Gonzales: Enya. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 96 Seiten, 10 Euro.
EIN AUFREGER
Ist Haiyti die intellektuellste deutsche Gangsta-Rapperin oder die nervöseste Gangsta-Intellektuelle des Landes? Sagen wir so: Auf jeden Fall ist sie das Pop-Genie, das das Land noch nicht verdient hat.
Haiyti: „Sui Sui“ (Haiyti Records).
EIN GROSSER SPASS
Was Comedians von allen anderen Menschen unterscheidet, ist, dass ihr Leben bestenfalls nicht nur ein Witz ist. Sondern mehrere. Der Stand-up-Comedy-Superstar Jerry Seinfeld hat seine Autobiografie netterweise gleich als Gag-Sammlung geschrieben. Das Trost-Buch zur Zeit.
Jerry Seinfeld: Is This Anything? Simon & Schuster, 2020. 470 Seiten, 20 Euro.
Theresa Hein
EIN LIEBESBEWEIS
Vom unbedingten Brauchen eines anderen Menschen und der unaufhaltsamen Veränderung von ebenjenem handeln ein paar der schönsten Indie-Songs seit Langem. Und das alles von den mittlerweile mittelalten Strokes, produziert von Goldhändchen Rick Rubin: Midlife endlich ohne Krise, von der es dieses Jahr ja genug gab, mit einem Kunstwerk von Jean-Michel Basquiat als Cover.
The Strokes: The New Abnormal, RCA, 12,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mehr als das. Der Film „Für Sama“ ist eine schwere, schreckliche Probe. Eine Dokumentation aus dem Syrienkrieg, man sieht: wirklich alles von Geburt bis Tod. Gerade in der Zeit des gemütlichen Wegguckens und Einigelns ein Appell. Das alles passiert wirklich.
Für Sama, Regie: Waad al-Kateab, Edward Watts. Filmperlen, 95 Min. DVD,
13,78 Euro.
EIN GENUSS
Die Erzählerin in Deniz Ohdes Debütroman gehört jetzt, wie ihr Lehrer am Gymnasium nicht müde wird ihr einzutrichtern, zur „Elite“. Was aber auch egal ist, wenn die Mutter auszieht. Ohde erzählt von den Auf- und Abs in einem System, das wahre Chancengleichheit eben doch nur ermöglicht, wenn man sie von Geburt aus hat, daneben humorvoll, traurig über eine Kindheit und Jugend in Deutschland zur Jahrtausendwende. Wirkt lange nach.
Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020. 291 Seiten, 22 Euro.
Laura Hertreiter
EIN GROSSER SPASS
Nahe Zukunft, pandemisch gesehen ist das Schlimmste vorbei und Alard von Kittlitz schickt seinen geschmackssicheren Romanhelden anderweitig ins Verderben. Eine netflixartig erzählte Techno-Utopie über Hochleistungsgehirne und menschliche Begrenztheit. Rund um den Globus, während man zu Hause in der Corona-Gegenwart festsitzt.
Alard von Kittlitz, Sonder. Roman. Piper, München 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Lässige Kindermärchen von Olli Schulz, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Paul Maar, Flake, Nora Gantenbrink und anderen. Vor allem für Eltern, die Tiger, Bär und Tante Gans nicht mehr sehen können.
Flo, das Flummi und der Schnack, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 224 S., 22 Euro.
EINE HILFE
1945 gingen in Demmin Menschen aus Angst vor der Roten Armee in einen Fluss, Steine in den Taschen. Jahrzehnte später wächst dort Neuntklässlerin Larry auf, Ich-Erzählerin, rotzfrecher Schnodderton, Berufsziel Kriegsreporterin. Verena Keßler schreibt humorvoll über Sprachlosigkeit und Geschichte, die bleibt.
Verena Keßler, Die Gespenster von Demmin. Roman. Hanser, München 2020.
240 Seiten, 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Seit 2008 haben die Berliner Philharmoniker eine digitale Konzerthalle, ein Glück.
Digitalconcerthall.com, Abo-Tickets ab 9,90 Euro für sieben Tage.
Catrin Lorch
EIN GENUSS
Die Bilder hatten etwas von einer Flaschenpost. Es passte, dass der Maler – der im Jahr 1926 geborene Frank Walter – aus Antigua kam, ein Autodidakt am Rand der Zivilisation, sozusagen. Die Ausstellung, die Susanne Pfeffer ihm als Direktorin im Frankfurter MMK in diesem Frühjahr eingerichtet hatte, war eine Sensation. Der opulente Katalog spiegelt das Leben eines Künstlers, der neben 5000 Bildern auch 50 000 Seiten Manuskripte hinterließ. Eine Lektüre, die Lust macht auf weitere Entdeckungen von Kuratoren, die sich auf dem Gebiet des so sperrig betitelten „Kolonialen Diskurses“ bewegen.
Frank Walter. Eine Retrospektive. Hg. v. Susanne Pfeffer. Walther König, London 2020. 424 Seiten, 39,80 Euro.
EIN AUFREGER
Dieser Katalog dokumentiert zeitgenössische Ignoranz, Oberflächlichkeit und Feigheit: „Philip Guston Now“ ist die Publikation zu einer Tournee mit Werken des amerikanischen Malers durch bedeutende Museen. Doch die Vernissage fiel aus. Aus Angst vor „Fehlinterpretationen“, wie die Verantwortlichen mitteilten – wohl weil man fürchtete, die Figuren mit Ku-Klux-Klan-Mützen, die durch Gustons Bildwelten geistern, könnten falsch aufgefasst werden. Nach dem Protest von Hunderten von Künstlern wird im nächsten Jahr Eröffnung gefeiert, wenn Schau und Katalog überarbeitet und entschärft sind. Insofern: schnell zugreifen.
Philip Guston Now. Hg. v. Harry Cooper/Mark Godfrey. D. A. P. /National Gallery of Art. 280 Seiten, 47,99 Euro.
Johanna Adorján
EIN GENUSS
Ein zutiefst befriedigendes Buch über die Hauptfiguren des Surrealismus, das voller Exzentrik, Wahnsinn und Vergnügen steckt.
Desmond Morris, Das Leben der Surrealisten. Unionsverlag. 352 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Kann mich nicht erinnern, wann ich dieses Jahr sonst so laut gelacht hätte wie bei der Tanzszene in „Borat 2“. Oder überhaupt gelacht.
Borat 2: Anschluss Moviefilm, von und mit Sacha Baron Cohen (und Maria Bakalova!). Amazon prime.
EIN AUFREGER
Irgendwas von Woody Allen zu empfehlen ruft neuerdings reflexartig Empörung hervor. Dies ist seine Autobiografie. Fantastisches Buch, lustig und sorgfältig.
Woody Allen: Ganz nebenbei. Rowohlt, 2020. 448 Seiten, 25 Euro.
EINE HILFE
Die englische Schauspielerin, Autorin, Regisseurin und Produzentin Michaela Coel, 33, hat eine Fernsehserie über sexuellen Missbrauch gemacht, die einem den Glauben an die Menschheit zurückgeben kann. Nicht nur ist diese Serie, so modern, schnell und cool sie ist, auch noch gut geschrieben, mit unvergesslichen Charakteren. Sie hat auch einen so wahnsinnig schönen Kern: Man weiß nie, was der andere gerade durchmacht, darum geht es. Um Mitgefühl.
„I May Destroy You“, von und mit
Michaela Coel. Auf Sky.
Jens Bisky
EIN LIEBESBEWEIS
„Die beiden Götze“ war 1938 eine Karikatur in der Berliner Illustrierten überschrieben. Sie zeigte Heinrich George, der sein Riesentalent in den Dienst des Dritten Reiches stellte, als Ritter mit der eisernen Hand, neben seinem gerade geborenen Sohn, der vaterlos groß werden würde. Anschaulich erzählt Thomas Medicus von den beiden Schauspielern, von Vater und Sohn, deutscher Kultur im 20. Jahrhundert, von Körperbildern, Männerrollen.
Thomas Medicus: Heinrich und Götz George. Zwei Leben. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 416 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Hollywood in den späten Vierzigerjahren, schöne Menschen werden kühn, attackieren mit List, Charme, Wut die Dreieinigkeit aus Rassismus, Sexismus, Homophobie. Eine Miniserie als kontrafaktische Emanzipationsoperette, in herrlichen Kostümen und atemberaubenden Dekorationen wunderbar gespielt.
Hollywood. Von Ryan Murphy und Ian Brennan, mit David Corenswet, Patty LuPone, Laura Harrier u. v. a. Netflix.
EINE HERAUSFORDERUNG
„Die Personen: Ivan, Malina, ich. Die Zeit: heute. Der Ort: Wien“. Nina Kunzendorf führt als Ich-Erzählerin durch Ingeborg Bachmanns Dreiecksgeschichte aus Briefen, Monologen, Telefongesprächen.
Malina. Hörspiel nach dem Roman von Ingeborg Bachmann. Mit Nina Kunzendorf, Edmund Telgenkämper, Christoph Luser. Der Audio Verlag, 2 CDs, ca. 150 Minuten, 16 Euro.
Kurt Kister
EINE WIEDERENTDECKUNG
Klingt prätentiös, ist aber voller Überraschungen: „Texte und Zeichen“ war eine Zeitschrift, die Alfred Andersch zwischen 1955 und 1957 herausgab. 16 Hefte erschienen, dann war Schluss, lohnte sich nicht ökonomisch. Literarisch lohnt es sich bis heute, Hunderte Texte von Arno Schmidt über Dylan Thomas bis zu Böll, Beckett und Joachim Kaiser. 1978 druckte Zweitausendeins die Jahresbände nach; gibt es noch antiquarisch so um die 20 Euro.
Texte und Zeichen, 3 Bände, ca. 1500 Seiten, Zweitausendeins Verlag, nur antiquarisch, ca. 20-30 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Bob Dylan hat im Seuchenjahr eine neue Platte gemacht: „Rough and Rowdy Ways“. Der Meister lässt uns nicht allein. Auf der Platte klingt er manchmal, als wäre er erst 43. Bester Vintage Dylan mit einem großartigen Kennedy-Mordsong von 17 Minuten Dauer. You gotta love it.
Bob Dylan: Rough and Rowdy Ways. Als CD ab 9,99 Euro.
EINE HILFE
Bei Suhrkamp sind die „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld erschienen. Es sind höchst subjektive Protokolle von verlegerischen Reisen zwischen 1959 und 1998. Unseld traf so ziemlich alle, die schrieben, vom Schreiben lebten oder das versuchten. Ein Blick in Welten, die dem Leser sonst verschlossen bleiben: Frisch ist sauer, Handke kann sich nicht benehmen, und die Japaner mögen Hesse, die auch.
Siegfried Unseld: Reiseberichte. Berlin, Suhrkamp 2020. 378 Seiten, 26 Euro.
Johan Schloemann
EIN VERMÖGEN
Eine steinreiche Bankiersfamilie stieg im 19. Jahrhundert zum letzten der großen römischen Adelshäuser auf, mit Palazzi, legendären Partys, repräsentativer Kunst und allem Drum und Dran. Ihre fantastische Sammlung von Antiken, die jahrzehntelang unzugänglich war, wäre jetzt gerade in Rom zu sehen, wenn nicht schon wieder alles zu wäre. Also muss man in diesem herrlichen Katalog schwelgen.
The Torlonia Marbles. Collecting Masterpieces. Herausgegeben von Salvatore Settis und Carlo Gasparri. Electa, Mailand 2020. 336 Seiten, 39 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Und Erwachsene ebenso. Neuer deutscher Kinderpop für uns alle, im fünften Jahr.
Unter meinem Bett 6. Oetinger Media, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
EINE HERAUSFORDERUNG
Im Jahr der Pandemie packt dieses Buch besonders: Wie der Mensch durch die Erfindung der Jagd zum Raubtier wurde.
Roberto Calasso: Der Himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider, Suhrkamp Verlag, 624 Seiten, 38 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Spätestens seit „Jenseits von Afrika“ steht die Klarinette unter Kitschverdacht. Auch der „Allegro amabile“-Satz bei Brahms. Hier aber klingt sein scheinbar schlichtes Spätwerk wunderbar abgeklärt.
Johannes Brahms: Clarinet Sonatas. András Schiff, Jörg Widmann. ECM New Series, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
für
den Kopf
Man muss nicht alles positiv sehen,
aber sagen wir es mal so:
Jetzt kommen noch stillere Tage als sonst um
Weihnachten, das bedeutet extra viel Zeit
für Bücher, Filme, Musik! Dazu ein
paar Empfehlungen aus der SZ-Redaktion
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Das neue Grundlagenwerk zu Geschichte und Gegenwart der Krisen der Demokratie, in dessen Mittelpunkt dennoch die essayistisch tastende Überzeugung steht, dass wir uns in gefährlichen Zeiten vor allem anderen darüber klar werden müssen, was wir alles nicht wissen, bevor wir entscheiden können, was zu tun ist.
Adam Przeworski: Krisen der Demokratie. Suhrkamp, 2020. 254 Seiten, 18 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Ein so kluger wie warmherziger und unterhaltsamer Essay über Stil, Geschmack und Sinn im Pop anhand von Enya, der Königin der sphärischen New-Age-Kitschmusik? Geht natürlich nicht. Es sei denn, Chilly Gonzales schreibt ihn.
Chilly Gonzales: Enya. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 96 Seiten, 10 Euro.
EIN AUFREGER
Ist Haiyti die intellektuellste deutsche Gangsta-Rapperin oder die nervöseste Gangsta-Intellektuelle des Landes? Sagen wir so: Auf jeden Fall ist sie das Pop-Genie, das das Land noch nicht verdient hat.
Haiyti: „Sui Sui“ (Haiyti Records).
EIN GROSSER SPASS
Was Comedians von allen anderen Menschen unterscheidet, ist, dass ihr Leben bestenfalls nicht nur ein Witz ist. Sondern mehrere. Der Stand-up-Comedy-Superstar Jerry Seinfeld hat seine Autobiografie netterweise gleich als Gag-Sammlung geschrieben. Das Trost-Buch zur Zeit.
Jerry Seinfeld: Is This Anything? Simon & Schuster, 2020. 470 Seiten, 20 Euro.
Theresa Hein
EIN LIEBESBEWEIS
Vom unbedingten Brauchen eines anderen Menschen und der unaufhaltsamen Veränderung von ebenjenem handeln ein paar der schönsten Indie-Songs seit Langem. Und das alles von den mittlerweile mittelalten Strokes, produziert von Goldhändchen Rick Rubin: Midlife endlich ohne Krise, von der es dieses Jahr ja genug gab, mit einem Kunstwerk von Jean-Michel Basquiat als Cover.
The Strokes: The New Abnormal, RCA, 12,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mehr als das. Der Film „Für Sama“ ist eine schwere, schreckliche Probe. Eine Dokumentation aus dem Syrienkrieg, man sieht: wirklich alles von Geburt bis Tod. Gerade in der Zeit des gemütlichen Wegguckens und Einigelns ein Appell. Das alles passiert wirklich.
Für Sama, Regie: Waad al-Kateab, Edward Watts. Filmperlen, 95 Min. DVD,
13,78 Euro.
EIN GENUSS
Die Erzählerin in Deniz Ohdes Debütroman gehört jetzt, wie ihr Lehrer am Gymnasium nicht müde wird ihr einzutrichtern, zur „Elite“. Was aber auch egal ist, wenn die Mutter auszieht. Ohde erzählt von den Auf- und Abs in einem System, das wahre Chancengleichheit eben doch nur ermöglicht, wenn man sie von Geburt aus hat, daneben humorvoll, traurig über eine Kindheit und Jugend in Deutschland zur Jahrtausendwende. Wirkt lange nach.
Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020. 291 Seiten, 22 Euro.
Laura Hertreiter
EIN GROSSER SPASS
Nahe Zukunft, pandemisch gesehen ist das Schlimmste vorbei und Alard von Kittlitz schickt seinen geschmackssicheren Romanhelden anderweitig ins Verderben. Eine netflixartig erzählte Techno-Utopie über Hochleistungsgehirne und menschliche Begrenztheit. Rund um den Globus, während man zu Hause in der Corona-Gegenwart festsitzt.
Alard von Kittlitz, Sonder. Roman. Piper, München 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Lässige Kindermärchen von Olli Schulz, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Paul Maar, Flake, Nora Gantenbrink und anderen. Vor allem für Eltern, die Tiger, Bär und Tante Gans nicht mehr sehen können.
Flo, das Flummi und der Schnack, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 224 S., 22 Euro.
EINE HILFE
1945 gingen in Demmin Menschen aus Angst vor der Roten Armee in einen Fluss, Steine in den Taschen. Jahrzehnte später wächst dort Neuntklässlerin Larry auf, Ich-Erzählerin, rotzfrecher Schnodderton, Berufsziel Kriegsreporterin. Verena Keßler schreibt humorvoll über Sprachlosigkeit und Geschichte, die bleibt.
Verena Keßler, Die Gespenster von Demmin. Roman. Hanser, München 2020.
240 Seiten, 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Seit 2008 haben die Berliner Philharmoniker eine digitale Konzerthalle, ein Glück.
Digitalconcerthall.com, Abo-Tickets ab 9,90 Euro für sieben Tage.
Catrin Lorch
EIN GENUSS
Die Bilder hatten etwas von einer Flaschenpost. Es passte, dass der Maler – der im Jahr 1926 geborene Frank Walter – aus Antigua kam, ein Autodidakt am Rand der Zivilisation, sozusagen. Die Ausstellung, die Susanne Pfeffer ihm als Direktorin im Frankfurter MMK in diesem Frühjahr eingerichtet hatte, war eine Sensation. Der opulente Katalog spiegelt das Leben eines Künstlers, der neben 5000 Bildern auch 50 000 Seiten Manuskripte hinterließ. Eine Lektüre, die Lust macht auf weitere Entdeckungen von Kuratoren, die sich auf dem Gebiet des so sperrig betitelten „Kolonialen Diskurses“ bewegen.
Frank Walter. Eine Retrospektive. Hg. v. Susanne Pfeffer. Walther König, London 2020. 424 Seiten, 39,80 Euro.
EIN AUFREGER
Dieser Katalog dokumentiert zeitgenössische Ignoranz, Oberflächlichkeit und Feigheit: „Philip Guston Now“ ist die Publikation zu einer Tournee mit Werken des amerikanischen Malers durch bedeutende Museen. Doch die Vernissage fiel aus. Aus Angst vor „Fehlinterpretationen“, wie die Verantwortlichen mitteilten – wohl weil man fürchtete, die Figuren mit Ku-Klux-Klan-Mützen, die durch Gustons Bildwelten geistern, könnten falsch aufgefasst werden. Nach dem Protest von Hunderten von Künstlern wird im nächsten Jahr Eröffnung gefeiert, wenn Schau und Katalog überarbeitet und entschärft sind. Insofern: schnell zugreifen.
Philip Guston Now. Hg. v. Harry Cooper/Mark Godfrey. D. A. P. /National Gallery of Art. 280 Seiten, 47,99 Euro.
Johanna Adorján
EIN GENUSS
Ein zutiefst befriedigendes Buch über die Hauptfiguren des Surrealismus, das voller Exzentrik, Wahnsinn und Vergnügen steckt.
Desmond Morris, Das Leben der Surrealisten. Unionsverlag. 352 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Kann mich nicht erinnern, wann ich dieses Jahr sonst so laut gelacht hätte wie bei der Tanzszene in „Borat 2“. Oder überhaupt gelacht.
Borat 2: Anschluss Moviefilm, von und mit Sacha Baron Cohen (und Maria Bakalova!). Amazon prime.
EIN AUFREGER
Irgendwas von Woody Allen zu empfehlen ruft neuerdings reflexartig Empörung hervor. Dies ist seine Autobiografie. Fantastisches Buch, lustig und sorgfältig.
Woody Allen: Ganz nebenbei. Rowohlt, 2020. 448 Seiten, 25 Euro.
EINE HILFE
Die englische Schauspielerin, Autorin, Regisseurin und Produzentin Michaela Coel, 33, hat eine Fernsehserie über sexuellen Missbrauch gemacht, die einem den Glauben an die Menschheit zurückgeben kann. Nicht nur ist diese Serie, so modern, schnell und cool sie ist, auch noch gut geschrieben, mit unvergesslichen Charakteren. Sie hat auch einen so wahnsinnig schönen Kern: Man weiß nie, was der andere gerade durchmacht, darum geht es. Um Mitgefühl.
„I May Destroy You“, von und mit
Michaela Coel. Auf Sky.
Jens Bisky
EIN LIEBESBEWEIS
„Die beiden Götze“ war 1938 eine Karikatur in der Berliner Illustrierten überschrieben. Sie zeigte Heinrich George, der sein Riesentalent in den Dienst des Dritten Reiches stellte, als Ritter mit der eisernen Hand, neben seinem gerade geborenen Sohn, der vaterlos groß werden würde. Anschaulich erzählt Thomas Medicus von den beiden Schauspielern, von Vater und Sohn, deutscher Kultur im 20. Jahrhundert, von Körperbildern, Männerrollen.
Thomas Medicus: Heinrich und Götz George. Zwei Leben. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 416 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Hollywood in den späten Vierzigerjahren, schöne Menschen werden kühn, attackieren mit List, Charme, Wut die Dreieinigkeit aus Rassismus, Sexismus, Homophobie. Eine Miniserie als kontrafaktische Emanzipationsoperette, in herrlichen Kostümen und atemberaubenden Dekorationen wunderbar gespielt.
Hollywood. Von Ryan Murphy und Ian Brennan, mit David Corenswet, Patty LuPone, Laura Harrier u. v. a. Netflix.
EINE HERAUSFORDERUNG
„Die Personen: Ivan, Malina, ich. Die Zeit: heute. Der Ort: Wien“. Nina Kunzendorf führt als Ich-Erzählerin durch Ingeborg Bachmanns Dreiecksgeschichte aus Briefen, Monologen, Telefongesprächen.
Malina. Hörspiel nach dem Roman von Ingeborg Bachmann. Mit Nina Kunzendorf, Edmund Telgenkämper, Christoph Luser. Der Audio Verlag, 2 CDs, ca. 150 Minuten, 16 Euro.
Kurt Kister
EINE WIEDERENTDECKUNG
Klingt prätentiös, ist aber voller Überraschungen: „Texte und Zeichen“ war eine Zeitschrift, die Alfred Andersch zwischen 1955 und 1957 herausgab. 16 Hefte erschienen, dann war Schluss, lohnte sich nicht ökonomisch. Literarisch lohnt es sich bis heute, Hunderte Texte von Arno Schmidt über Dylan Thomas bis zu Böll, Beckett und Joachim Kaiser. 1978 druckte Zweitausendeins die Jahresbände nach; gibt es noch antiquarisch so um die 20 Euro.
Texte und Zeichen, 3 Bände, ca. 1500 Seiten, Zweitausendeins Verlag, nur antiquarisch, ca. 20-30 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Bob Dylan hat im Seuchenjahr eine neue Platte gemacht: „Rough and Rowdy Ways“. Der Meister lässt uns nicht allein. Auf der Platte klingt er manchmal, als wäre er erst 43. Bester Vintage Dylan mit einem großartigen Kennedy-Mordsong von 17 Minuten Dauer. You gotta love it.
Bob Dylan: Rough and Rowdy Ways. Als CD ab 9,99 Euro.
EINE HILFE
Bei Suhrkamp sind die „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld erschienen. Es sind höchst subjektive Protokolle von verlegerischen Reisen zwischen 1959 und 1998. Unseld traf so ziemlich alle, die schrieben, vom Schreiben lebten oder das versuchten. Ein Blick in Welten, die dem Leser sonst verschlossen bleiben: Frisch ist sauer, Handke kann sich nicht benehmen, und die Japaner mögen Hesse, die auch.
Siegfried Unseld: Reiseberichte. Berlin, Suhrkamp 2020. 378 Seiten, 26 Euro.
Johan Schloemann
EIN VERMÖGEN
Eine steinreiche Bankiersfamilie stieg im 19. Jahrhundert zum letzten der großen römischen Adelshäuser auf, mit Palazzi, legendären Partys, repräsentativer Kunst und allem Drum und Dran. Ihre fantastische Sammlung von Antiken, die jahrzehntelang unzugänglich war, wäre jetzt gerade in Rom zu sehen, wenn nicht schon wieder alles zu wäre. Also muss man in diesem herrlichen Katalog schwelgen.
The Torlonia Marbles. Collecting Masterpieces. Herausgegeben von Salvatore Settis und Carlo Gasparri. Electa, Mailand 2020. 336 Seiten, 39 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Und Erwachsene ebenso. Neuer deutscher Kinderpop für uns alle, im fünften Jahr.
Unter meinem Bett 6. Oetinger Media, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
EINE HERAUSFORDERUNG
Im Jahr der Pandemie packt dieses Buch besonders: Wie der Mensch durch die Erfindung der Jagd zum Raubtier wurde.
Roberto Calasso: Der Himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider, Suhrkamp Verlag, 624 Seiten, 38 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Spätestens seit „Jenseits von Afrika“ steht die Klarinette unter Kitschverdacht. Auch der „Allegro amabile“-Satz bei Brahms. Hier aber klingt sein scheinbar schlichtes Spätwerk wunderbar abgeklärt.
Johannes Brahms: Clarinet Sonatas. András Schiff, Jörg Widmann. ECM New Series, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Bert Rebhandl findet Thomas Medicus überzeugend, wenn der Autor in seiner Doppelbiografie über Heinrich und Götz George zwar mit den kulturtheoretischen Instrumenten klirrt, aber keine Küchenpsychologie anwendet. Das letzte Jahrhundert "schimmit" auch so durch, wenn Medicus kenntnisreich und sachlich zu Werke geht, meint Rebhandl, die Körperbilder von Vater und Sohn analysiert und Heinrich Georges Verstrickung ins Nazi-System gelassen offenlegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2021Familienroman mit zwei Schauspielern
Von imposanter Körperlichkeit waren beide: Thomas Medicus legt eine bestechende Doppelbiographie von Heinrich und Götz George vor.
Mit der Abfolge der Generationen hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Sie vollzieht sich in einem natürlichen Rhythmus, in den sich gleichwohl äußere Ereignisse wie Zäsuren oder Initialmomente einschreiben. Für Heinrich und Götz George, denen Thomas Medicus eine gemeinsame Biographie gewidmet hat, beginnen die "Zwei Leben" 1893 in Stettin und enden 2016 in Hamburg. Ein ganzes Jahrhundert, mit einer Kindheitsgeschichte im neunzehnten und einer Rückschau aus dem 21., verteilt auf zwei Männer, zwei Schauspieler, zwei Stars. Zwei Zeitgenossen. Dass dem Sohn das Leben des Vaters wie eine Aufgabe mitgegeben ist, leuchtet unmittelbar ein, zumal wenn es so grundlegende Fragen moralischen Verhaltens enthält wie bei Heinrich George, der im Nationalsozialismus eine tragende Säule des deutschen Starsystems war. Aber ist der Vater auch noch im Leben seines Sohnes gegenwärtig, wenn der als "Tatort"-Kommissar Schimanski zu einem Idol in der Bundesrepublik wird?
Für Thomas Medicus liegt der Schlüssel zu diesem Verhältnis in den Körperbildern. Heinrich George kennt man als Ungetüm von einem Mann, ausgestattet mit imposanter Leibesfülle in einer Zeit, in der noch andere Schönheitsideale galten, als sie später wirksam wurden, als Götz George nach dem Krieg seine Karriere begann. Auch er hatte eine beeindruckende Physis, er liebte es, sich an athletischen Herausforderungen und Stunts zu erproben, und wenn er Bier und Bockwurst als Polizistendiät verfocht, dann war das auch schon ein ironisches Distanzzeichen in einer Gesellschaft, die sich längst feinere Sachen bei Tisch leisten konnte. Einen wesentlichen Aspekt in dieser Differenz kann man beinahe wie eine Entmythologisierung lesen: Heinrich Georges Körper sollte noch wirken wie ein "Naturereignis", Götz George hingegen zeigte trotz aller proletarischen Brechung einen trainierten Körper, ein Produkt von Selbsttechniken und eines Kunstverständnisses, das nicht mehr mit einem Lebensstil der Verausgabung einhergehen musste.
Heinrich George starb 1946 im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen in Oranienburg. Sein Sohn Götz, der den Namen nach einer Lieblingsrolle des Vaters, dem Götz von Berlichingen von Goethe, bekam, war da gerade acht Jahre alt. Es gab also wenig persönlich Verbindendes zwischen den beiden, unweigerlich musste ein "Familienroman" - eine psychisch akzeptable Fiktion - an die Stelle einer persönlichen Auseinandersetzung treten. Das Buch von Thomas Medicus bekommt einen wichtigen Anlass nicht zuletzt dadurch, dass dieser Familienroman, also die Art und Weise, wie Götz George im eigenen Alter seinen Vater sehen und gesehen haben wollte, 2013 durch den Fernsehfilm "George" auch bis zu einem gewissen Grad offiziös wurde. In Form eines Dokudramas, in dem der Sohn die Hauptrolle des Vaters spielte, wurde da verhandelt, ob Heinrich George sich im Nationalsozialismus schuldig gemacht hatte. "Ich will den Vater schützen, ich will sein Bild schützen", deklarierte Götz George damals ganz offen.
Medicus geht hinter diese Schutzerzählung mit einem gelassenen, aber niemals oberflächlichen historisch-kritischen Interesse zurück. Er erzählt im ersten Teil seines Buches das Leben von Heinrich George vor dem immer wieder einbezogenen zeithistorischen Horizont: ein Traumatisierter des Ersten Weltkriegs, der in den zwanziger Jahren auf dem Theater und bald auch im Kino eine Möglichkeit fand, ganz in seiner Arbeit und in seiner Popularität aufzugehen. 1931 spielte er den Franz Biberkopf in "Berlin Alexanderplatz", der positive Höhepunkt in seinem Schaffen. 1933 schlug George sich aber umstandslos auf die Seite der neuen Machthaber in Deutschland, wie Medicus überzeugend und mit vielen Quellen darlegt. Die Ufa begrüßte die Machtergreifung mit dem Propagandafilm "Hitlerjunge Quex", in dem Heinrich George einen Berliner Proletarier spielte, dessen Sohn sich der kommunistischen "Organisation" entzieht und zu den Nazis überläuft. In "Jud Süß" von Veit Harlan, mit dem Goebbels den Rassenantisemitismus auf Hollywood-Niveau bringen wollte, setzte Heinrich George in der Rolle des dekadenten Herzogs von Württemberg auch seinem Körperbild ein Denkmal.
Das Mandat des Vaters als eines ersten Schauspielers übernahm Götz George nicht direkt, denn das gaben die Bedingungen im deutschen Kino nach 1945 nicht her. Mit "Kirmes" und "Herrenpartie" von Wolfgang Staudte bewies er in jungen Jahren aber auch schon Sinn für relevante Rollen - diese beiden Titel würde man wohl heute in seiner Filmographie als die bedeutendsten hervorheben, und Medicus würdigt sie auch ausführlich und kundig. Mit der Rolle des "Tatort"-Kommissars Horst Schimanski und einem Genre-Meisterwerk wie dem Thriller "Die Katze" von Dominik Graf wurde Götz George dann zu dem Star, der einen neuen Sinn für populäre Formen im deutschen Film verkörperte. Als "leibhaftige Anti-Bügelfalte" - eine der ganz wenigen Stilblüten in einem elegant geschriebenen Buch - fand er sogar die Aufmerksamkeit von Steven Spielberg, der ihn in "Schindlers Liste" besetzen wollte, in der Rolle des sadistischen KZ-Leiters Amon Göth. Götz George sagte ab, offiziell wegen seiner ungenügenden Englischkenntnisse.
War das auch ein Aspekt seiner "Kleinkariertheit", die er einmal für sich reklamierte, im Gegensatz zur überlebensgroßen Boheme-Existenz des Vaters? Thomas Medicus bleibt in privaten Dingen eher diskret, verzichtet vor allem auf jede Küchenpsychologie, hat aber von Freud bis Theweleit ein plausibles kulturtheoretisches Instrumentarium, um Vater und Sohn George als Individuen einer Epoche plastisch werden zu lassen. Sein Buch überzeugt durch souverän organisiertes Wissen und eine sachliche Perspektive. Das kurze zwanzigste Jahrhundert bekommt in diesen "Zwei Leben" und zwei Generationen die Konturen eines deutlich längeren.
BERT REBHANDL
Thomas Medicus:
"Heinrich und Götz George". Zwei Leben.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2020. 416 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von imposanter Körperlichkeit waren beide: Thomas Medicus legt eine bestechende Doppelbiographie von Heinrich und Götz George vor.
Mit der Abfolge der Generationen hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Sie vollzieht sich in einem natürlichen Rhythmus, in den sich gleichwohl äußere Ereignisse wie Zäsuren oder Initialmomente einschreiben. Für Heinrich und Götz George, denen Thomas Medicus eine gemeinsame Biographie gewidmet hat, beginnen die "Zwei Leben" 1893 in Stettin und enden 2016 in Hamburg. Ein ganzes Jahrhundert, mit einer Kindheitsgeschichte im neunzehnten und einer Rückschau aus dem 21., verteilt auf zwei Männer, zwei Schauspieler, zwei Stars. Zwei Zeitgenossen. Dass dem Sohn das Leben des Vaters wie eine Aufgabe mitgegeben ist, leuchtet unmittelbar ein, zumal wenn es so grundlegende Fragen moralischen Verhaltens enthält wie bei Heinrich George, der im Nationalsozialismus eine tragende Säule des deutschen Starsystems war. Aber ist der Vater auch noch im Leben seines Sohnes gegenwärtig, wenn der als "Tatort"-Kommissar Schimanski zu einem Idol in der Bundesrepublik wird?
Für Thomas Medicus liegt der Schlüssel zu diesem Verhältnis in den Körperbildern. Heinrich George kennt man als Ungetüm von einem Mann, ausgestattet mit imposanter Leibesfülle in einer Zeit, in der noch andere Schönheitsideale galten, als sie später wirksam wurden, als Götz George nach dem Krieg seine Karriere begann. Auch er hatte eine beeindruckende Physis, er liebte es, sich an athletischen Herausforderungen und Stunts zu erproben, und wenn er Bier und Bockwurst als Polizistendiät verfocht, dann war das auch schon ein ironisches Distanzzeichen in einer Gesellschaft, die sich längst feinere Sachen bei Tisch leisten konnte. Einen wesentlichen Aspekt in dieser Differenz kann man beinahe wie eine Entmythologisierung lesen: Heinrich Georges Körper sollte noch wirken wie ein "Naturereignis", Götz George hingegen zeigte trotz aller proletarischen Brechung einen trainierten Körper, ein Produkt von Selbsttechniken und eines Kunstverständnisses, das nicht mehr mit einem Lebensstil der Verausgabung einhergehen musste.
Heinrich George starb 1946 im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen in Oranienburg. Sein Sohn Götz, der den Namen nach einer Lieblingsrolle des Vaters, dem Götz von Berlichingen von Goethe, bekam, war da gerade acht Jahre alt. Es gab also wenig persönlich Verbindendes zwischen den beiden, unweigerlich musste ein "Familienroman" - eine psychisch akzeptable Fiktion - an die Stelle einer persönlichen Auseinandersetzung treten. Das Buch von Thomas Medicus bekommt einen wichtigen Anlass nicht zuletzt dadurch, dass dieser Familienroman, also die Art und Weise, wie Götz George im eigenen Alter seinen Vater sehen und gesehen haben wollte, 2013 durch den Fernsehfilm "George" auch bis zu einem gewissen Grad offiziös wurde. In Form eines Dokudramas, in dem der Sohn die Hauptrolle des Vaters spielte, wurde da verhandelt, ob Heinrich George sich im Nationalsozialismus schuldig gemacht hatte. "Ich will den Vater schützen, ich will sein Bild schützen", deklarierte Götz George damals ganz offen.
Medicus geht hinter diese Schutzerzählung mit einem gelassenen, aber niemals oberflächlichen historisch-kritischen Interesse zurück. Er erzählt im ersten Teil seines Buches das Leben von Heinrich George vor dem immer wieder einbezogenen zeithistorischen Horizont: ein Traumatisierter des Ersten Weltkriegs, der in den zwanziger Jahren auf dem Theater und bald auch im Kino eine Möglichkeit fand, ganz in seiner Arbeit und in seiner Popularität aufzugehen. 1931 spielte er den Franz Biberkopf in "Berlin Alexanderplatz", der positive Höhepunkt in seinem Schaffen. 1933 schlug George sich aber umstandslos auf die Seite der neuen Machthaber in Deutschland, wie Medicus überzeugend und mit vielen Quellen darlegt. Die Ufa begrüßte die Machtergreifung mit dem Propagandafilm "Hitlerjunge Quex", in dem Heinrich George einen Berliner Proletarier spielte, dessen Sohn sich der kommunistischen "Organisation" entzieht und zu den Nazis überläuft. In "Jud Süß" von Veit Harlan, mit dem Goebbels den Rassenantisemitismus auf Hollywood-Niveau bringen wollte, setzte Heinrich George in der Rolle des dekadenten Herzogs von Württemberg auch seinem Körperbild ein Denkmal.
Das Mandat des Vaters als eines ersten Schauspielers übernahm Götz George nicht direkt, denn das gaben die Bedingungen im deutschen Kino nach 1945 nicht her. Mit "Kirmes" und "Herrenpartie" von Wolfgang Staudte bewies er in jungen Jahren aber auch schon Sinn für relevante Rollen - diese beiden Titel würde man wohl heute in seiner Filmographie als die bedeutendsten hervorheben, und Medicus würdigt sie auch ausführlich und kundig. Mit der Rolle des "Tatort"-Kommissars Horst Schimanski und einem Genre-Meisterwerk wie dem Thriller "Die Katze" von Dominik Graf wurde Götz George dann zu dem Star, der einen neuen Sinn für populäre Formen im deutschen Film verkörperte. Als "leibhaftige Anti-Bügelfalte" - eine der ganz wenigen Stilblüten in einem elegant geschriebenen Buch - fand er sogar die Aufmerksamkeit von Steven Spielberg, der ihn in "Schindlers Liste" besetzen wollte, in der Rolle des sadistischen KZ-Leiters Amon Göth. Götz George sagte ab, offiziell wegen seiner ungenügenden Englischkenntnisse.
War das auch ein Aspekt seiner "Kleinkariertheit", die er einmal für sich reklamierte, im Gegensatz zur überlebensgroßen Boheme-Existenz des Vaters? Thomas Medicus bleibt in privaten Dingen eher diskret, verzichtet vor allem auf jede Küchenpsychologie, hat aber von Freud bis Theweleit ein plausibles kulturtheoretisches Instrumentarium, um Vater und Sohn George als Individuen einer Epoche plastisch werden zu lassen. Sein Buch überzeugt durch souverän organisiertes Wissen und eine sachliche Perspektive. Das kurze zwanzigste Jahrhundert bekommt in diesen "Zwei Leben" und zwei Generationen die Konturen eines deutlich längeren.
BERT REBHANDL
Thomas Medicus:
"Heinrich und Götz George". Zwei Leben.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2020. 416 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Thomas Medicus eindrucksvoller Doppelbiographie ist die erzählte Familiengeschichte Schauspielgeschichte, und die wiederum: deutsche Geschichte. MDR "Artour" 20201119