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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Mit größtmöglicher Distanz - Eine Biographie über Henry Kissinger
An wohl kaum einem Politiker des 20. Jahrhunderts jenseits von Staats- und Regierungschefs haben sich Politologen, Historiker und Investigativjournalisten intensiver abgearbeitet als an Henry Kissinger. Unberührt hat er keinen seiner Biographen gelassen. Die einen verdammen den ehemaligen Sicherheitsberater und Außenminister der Vereinigten Staaten als zynischen Machtpolitiker und Selbstdarsteller, die anderen feiern ihn als Über-Staatsmann und Welterklärer. In "The Price of Power: Kissinger in the Nixon White House" kanzelte ihn der Journalist Seymour Hersh 1983 für seine Vietnam-Politik ab, sein Kollege Christopher Hitchens beschuldigte ihn 2001 in "Die Akte Kissinger" sogar zahlreicher Kriegsverbrechen. Sehr viel gewogener dagegen ist ihm der britische Historiker Niall Ferguson 2016 in "Kissinger: The Idealist", deckt auf 1120 Seiten allerdings nur die Lebensjahre 1923 bis 1968 ab - die Zeit vor seinem Regierungseintritt also. Sollte Ferguson in ähnlicher Detailverliebtheit weiterschreiben, dürfte er sogar Kissingers drei Memoirenbände von insgesamt 4000 Seiten übertrumpfen, quantitativ jedenfalls.
Bei Bernd Greiner, drei Jahrzehnte lang Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, hat Kissinger keine Chance - nicht als Mensch, nicht als Wissenschaftler und erst recht nicht als Außenpolitiker. Schon mit den drei Großkapitel-Überschriften "Lehrling", "Angestellter" und "Pensionär" distanziert er sich von seinem Protagonisten, der sich doch als Vordenker, Gestalter und ewiger Ratgeber der Mächtigen betrachtet. Zum Auftakt zeigt Greiner, wie der vor den Nazis nach Amerika geflüchtete Fürther Jude Heinz Alfred Kissinger durch harte Arbeit, unbändige Intelligenz, Selbstbewusstsein und Selbstdarstellung, aber auch durch die richtigen Förderer und durch Schmeichelei in jungen Jahren in die Spitze der außenpolitischen Community seiner neuen Heimat aufsteigt. Die neugeborene Weltmacht sucht händeringend nach Köpfen, die im Kalten Krieg Strategien ersinnen und Politiker anleiten können. Kissinger macht sich schnell einen Namen als Hardliner, der Moskau und Peking entschlossen entgegentreten und notfalls atomare Gefechtsfeldwaffen einsetzen will.
Von Harvard aus, das diese internationalistische Elite mit Verve und Geld aus Regierung und Wirtschaft ausbildet, streckt Kissinger seine Fühler immer tiefer in die Hallen der Macht hinein: als Autor politikrelevanter Studien, als Mitglied des Council on Foreign Relations, des Durchlauferhitzers für nach politischer Mitsprache gierende Akademiker, als Kurzzeit-Zuarbeiter von John F. Kennedys Nationalem Sicherheitsrat. Greiner zeichnet Kissinger als selbstbezogenen Megalomanen, ausbeuterischen Chef und prinzipienlosen Karrieristen, der sich so lange verschiedenen Herren andient, bis ihn endlich Richard Nixon 1969 ins Weiße Haus holt. Der neue Präsident übernimmt ein durch den Vietnam-Krieg zerrissenes Land, misstraut Bürokratien und Establishment bis hin zur Paranoia, ist konfliktscheu und bedarf ständiger Bestätigung: Alles Umstände, die Kissinger rasch zum zentralen außenpolitischen Berater Nixons, und, als der im Sumpf von Watergate versinkt, zum Dreh- und Angelpunkt von Washingtons Beziehungen mit der Welt werden lassen.
Greiner hält das für eine Katastrophe. Kaum ein Charakterdefizit, das er Kissinger nicht attestiert: Skrupellosigkeit, Ruhmsucht, Eitelkeit, Ignoranz, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung, Weinerlichkeit, Egomanie, Wetterwendigkeit. Für alles bietet er Belege; vor allem die von Nixon insgeheim mitgeschnittenen Gespräche im Oval Office sind eine Schatzkiste für seine Vorwürfe - auf mehr als 20 Seiten finden sich diese Aufzeichnungen abgedruckt im Buch. Mit der Politik des angeblichen Duo Infernale geht Greiner gnadenlos ins Gericht: Das Ende des Vietnam-Kriegs hätten die beiden zu lange hinausgezögert und noch dazu Kambodscha bombardiert, die Entspannungspolitik mit Moskau nur aus dem Kalkül betrieben, die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten zu sichern, den Salt-Vertrag mit dem Kreml über Obergrenzen für strategische Nuklearwaffen schlampig verhandelt, in Indonesien und Chile brutale Diktatoren unterstützt, bei der Annäherung an China sei Peking der Strippenzieher gewesen. Allein Kissingers Pendeldiplomatie für einen Waffenstillstand zwischen Israel und den arabischen Staaten 1974 kann der Autor etwas Positives abgewinnen, aber auch hier habe dieser die Chance auf einen breiten Interessenausgleich nicht genutzt. Dass Kissinger den Friedensnobelpreis erhielt, in Amerika zeitweise 85 Prozent öffentliche Zustimmung erfuhr und ihn die Medien als Superstar feierten, führt der Autor zurück auf dessen Selbstinszenierung und unkritische, mehr an Hype als an Substanz interessierte Journalisten.
Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung 1977 ändert sich Kissinger in Greiners Darstellung nicht. Mit aller Macht drängt er ins Rampenlicht, will wieder ein Amt ergattern, gibt ein weiteres Mal den Rechtsausleger und ständigen Mahner vor drohendem Unheil, wenn man seinem Rat nicht folge. Unermüdlich arbeite er daran, so der Verfasser, sein Bild für die Nachwelt selbst mit brachialen Mitteln wie Gerichtsverfahren und dem Verschluss von Akten zu schönen und seinen Ruf mit hochdotierten Vorträgen und mit einer Beratergesellschaft zu Geld zu machen. Bis heute ist der mittlerweile Siebenundneunzigjährige im Fernsehen, auf Konferenzen und mit Zeitungskolumnen präsent, zuletzt zur Corona-Krise. Für Greiner weitere Belege ungezügelten Öffentlichkeitsdrangs.
Die Biographie ist gut geschrieben, aber dramaturgisch wenig packend: Zu vorhersehbar bleibt Kissinger stets Fürst der Finsternis, zu wenig wird erklärt, warum er dann doch so viele Menschen in seinen Bann schlug und nach wie vor schlägt. Auch fair ist das Buch nicht. Wie ein Staatsanwalt sammelt Greiner Indizien gegen den Delinquenten, entlastende Zeugen oder alternative Interpretationen blendet er aus. Zu unterschiedlich sind letztlich die außenpolitischen Selbstverortungen, ja Weltsichten von Autor und Objekt. Greiner setzt auf Vertrauen, hehre Absichten, Menschenrechte und kollektive Sicherheit. Wiederholt stilisiert er Willy Brandt mit seiner Ostpolitik zu Kissingers moralischem und politischem Spiegelbild. Der bleibt stets der Bösewicht, weil er internationale Politik als Nullsummenspiel begreift, in dem der Gewinn der einen den Verlust der anderen Seite bedeutet, und amerikanische Interessen notfalls mit militärischem Druck und diplomatischer Intrige durchsetzt. Dass Kissinger die Vereinigten Staaten nicht zuletzt damit zwischen 1969 und 1977 aus einer Position der Defensive und Lähmung herausführte und durch seine Dreieckspolitik mit China und der Sowjetunion wieder als zentralen Global Player etablierte, zählt für Greiner nichts.
STEPHAN BIERLING
Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. Eine Biografie.
C.H. Beck Verlag, München 2020. 480 S., 28,- [Euro].
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