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Das Sachenfinden als Heilungsversuch: In ihrem Debüt erzählt Maja Konrad von Henry und einem seltsamen Hobby.
Von Eva-Maria Magel
Von Eva-Maria Magel
Wie kann es sein, dass jemand sein Gebiss verliert, mitten am Tag und auf der Straße? Sachen gibt's, die glaubt man gar nicht. Henry wundert nichts von dem, was er so findet auf seinen Streifzügen. Kuscheltiere, Katzen, Spazierstöcke, sein Kinderzimmer ist eine Insel der geborgenen Gegenstände. Immer wenn Henry Kolonko frei hat, zieht er los und findet, wenn er Glück hat, ein weiteres Mal: die Person, die sich grämt, weil "Hasi" verloren ist. Oder die nuschelt, weil die Zähne fehlen.
Dass der Neunjährige mehr als nur ein spezielles Hobby hat, wird rasch deutlich in "Henry Kolonko und die Sache mit dem Finden". Zu penibel führt er seine Notizen, etwas zu einsam scheint der Alltag des Jungen, da ist etwas Zwanghaftes zu spüren in dem Wunsch, für andere die Lücke zu schließen, die Vergesslichkeit oder Achtlosigkeit gerissen haben.
Das ist die Hauptgeschichte in Maja Konrads Kinderbuchdebüt, und es ranken sich kleine und große Nebengeschichten darum, die alle mit dem Verlieren, dem Verlust zu tun haben. Und den Wunden, die das schlägt. Das Sachensuchen, ein wunderbar leichtherziges Spiel der Möglichkeiten im Spazierengehen, das Pippi Langstrumpf zu verdanken ist, hat geradezu sein Gegenstück in Henrys obsessivem Sachenfinden und seiner Zurückhaltung. Nie würde er sich persönlich vorstellen, er betrachtet aus der Ferne die "vielen bunten Gefühle", die er auslöst, wenn er irgendwo klingelt und ein Fundstück diskret auf die Schwelle legt.
Zunächst aber findet Henry nicht nur Gebiss, Knöpfe und Schlüsselanhänger, er wird selbst gefunden von der quirligen Pippa, die neu in sein Haus zieht. Die Fragen stellt. Und sich regelrecht an Henrys Fersen heftet bei seinen Rückgabe-Streifzügen durch den Leipziger Süden, zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Clara-Zetkin-Park, in dem sich Henry auskennt wie kaum jemand sonst.
Man merkt Konrads Beschreibung die Ortskenntnis an. Und man merkt auch ein bisschen, dass sie sich vor ihrem Debüt kundig gemacht hat auf der Landkarte dessen, was schreiberisch so geht im Kinderbuch. Wie ihre Figur unternimmt auch sie Streifzüge durch ihr Viertel. Aus den Szenen, die sie so sammelt, hat Konrad, Jahrgang 1983, von Hause aus Tourismusmanagerin, bisher schriftstellerische Miniaturen entwickelt, die man in ihrem Internetauftritt finden kann. Mit der Gruppe Schreibkreativ, einem guten Dutzend schreibender Frauen, einige eher nebenbei, andere im Hauptberuf, hat sie in Workshops und Onlinetreffs Erfahrungen gesammelt und ausgetauscht.
Die Mischung aus einem verdrängten Verlust, einem geheimnisvoll schlecht gelaunten Nachbarn, einer neuen Freundin als Katalysator und einer Schatzsuche in die Vergangenheit ist aus etwas zu vielen Versatzstücken konstruiert - aber mit dem Thema des Verlierens und Findens findet Konrad einen verlässlichen Kettfaden, der es ihr ermöglicht, eine Erzählung zu weben, in der dunkle und bunte Töne Platz finden. Das Interesse an den Abenteuern von Konrad und Pippa, die eine Katze finden und eine Geheimschrift entziffern müssen, unterstreichen die Illustrationen von Stefanie Jeschke, die sich überdies für jede Seite eine Knopfsammlung ausgedacht hat, die den Verlauf der Geschichte begleitet.
Dass der Verlust der Mutter, eines Lebenspartners, einer Kinderfreundin auf dichtem Raum in Henrys Geschichte und die der Nebenstränge passen, hat viel mit einer schlichten, unpathetischen Erzählweise zu tun, die den Leser bei der Stange hält - auch mit der durch sie geschürten Vermutung, da lägen noch sehr viel mehr Geschichten hinter dem Erzählten. Und schließlich mit der wachsenden Erkenntnis, man müsse nicht notwendigerweise das wiederfinden, was man verloren hat. Es kann auch etwas ganz anderes sein, das den Verlust erträglicher macht.
Maja Konrad: "Henry Kolonko und die Sache mit dem Finden".
Illustriert von Stefanie Jeschke. Carlsen Verlag, Hamburg 2023. 128 S., geb., 12,- Euro.
Ab 8 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Entdeckung
Maja Konrads warmherziger
Kinderroman „Henry Kolonko
und die Sache mit dem Finden“.
Der neunjährige Henry hat ein besonderes Hobby. Er sammelt Dinge auf, die Leute verloren haben, Gehstöcke, rosa Kuschelelefanten mit Schleife, Teddys, sehr viele Schlüssel, ein Gebiss. Archiviert sie in seinem Kinderzimmer und ermittelt die rechtmäßigen Besitzer. Dann klingelt er an deren Tür, legt das verlorene Objekt auf die Schwelle – und verschwindet. Zumindest bis zum nächsten Auto, hinter dem er sich verstecken kann. Von dort beobachtet er, wie die Leute verdutzt und glücklich ihre Sachen finden, geht nach Hause und macht sich wieder an die Arbeit.
So hat er sich eingerichtet seit dem Unfalltod seiner Mutter. Sein Vater fände es gut, wenn Henry auch mal was mit anderen Kindern machen würde. Aber er drängt ihn nicht. Dann zieht Pippa ins Wohnhaus der zwei im Leipziger Süden. Sie erscheint Henry erst einmal als einzige Zumutung, so aufgeschlossen ist sie, so laut, so bunt: gepunktete Schuhe, Regenbogen-Leggings, Tierohrhaarreifen. Pippa drängt sich auf, sie klingelt an der Wohnungstür, kommt mit zu seinem Rückgaberundgang. Und fragt ihn, warum er immer abhaut, bevor die Leute ihre zurückgebrachten Sachen finden. „Die freuen sich doch! So viele schöne, bunte Gefühle!“
Als dann die Nachbarkatze Mimi verschwindet, tun sich Pippa, begeistert, und Henry, anfangs widerwillig, zusammen. Sie stellen Fragen, lauern, legen Köder aus. Und zu Henrys großem Erstaunen, dass so etwas denkbar ist, gehen sie sogar nach Einbruch der Dunkelheit zusammen vors Haus, um nach Mimi zu suchen. Nach und nach holt Pippa Henry aus seinem Archiv, aus seinem Versteck hervor und führt ihn wieder ans Kinderleben heran. Irgendwann, nach einem großen Krach mit Pippa, versteht Henry sogar, warum er sich so aufs Finden und Zurückgeben kapriziert hat: Er will nicht, dass irgendjemand anders einen bleibenden Verlust erleidet, so wie er.
Die Autorin Maja Konrad ist eine Entdeckung. Sie erzählt diese anrührende Geschichte sachlich, schlicht, warmherzig, aber dabei ohne jedes Pathos, voller origineller Einfälle, die aber nie so weit hergeholt sind, dass sie die Aufmerksamkeit von den Figuren ablenken würden. Sie hat ein Auge und ein Ohr fürs Konkrete, realistisch Städtische. Aber auch fürs Wunderliche, darin ist sie Andreas Steinhöfel mit seinen Rico-und-Oskar-Büchern nicht unähnlich.
Am Ende finden Henry und Pippa nicht nur die Katze Mimi, sondern lösen auch noch ein weiteres Geheimnis, eines aus der Vergangenheit. Ein Geheimnis, das vielleicht erklärt, warum die beiden zueinander gefunden haben in einer rettenden Kinderfreundschaft.
KATHLEEN HILDEBRAND
Maja Konrad:
Henry Kolonko und die Sache mit dem Finden. Carlsen Verlag,
Hamburg 2023.
128 Seiten, 12 Euro.
Ab acht Jahren.
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