Im Herbst 2016 ist Daniel ein Jahrhundert alt. Elisabeth, Anfang 30, kennt ihn von früher, der Nachbar hat sie als Kind mit der Kunst bekannt gemacht. Jetzt besucht sie ihn im Altersheim, liest ihm Bücher vor und fragt sich, was die Zukunft bringen mag. Denn England hat einen historischen Sommer hinter sich, die Nation ist gespalten, Angst macht sich breit. Der erste Roman aus Ali Smiths Jahreszeitenquartett erzählt von einer Welt, die immer abgeschotteter und exklusiver wird, über das Wesen von Reichtum und Wert, über die Bedeutung der Ernte. Und er erzählt vom Altern, von der Zeit und von der Liebe. Von uns.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Johannes Kaiser hält Ali Smiths neuen Roman für ein "Juwel britischer Literatur". Berührend und poetisch findet er, wie die Autorin das Sterben eines Mannes aus Sicht seiner viel jüngeren Lebensfreundin schildert. Dass Smith Aktuelles, wie die Brexit-Debatte oder das Erstarken rassistischer Tendenzen in Großbritannien auf bissige Weise mit in den Text einbindet, gefällt Kaiser gut. Wortspiele, farbige Bilder, Shakespeare-Bezüge und eine gelungene Übersetzung runden den insgesamt positiven Eindruck ab, den Kaiser von diesem Roman bekommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Ein Zaun wächst hoch
Mehr als ein Brexit-Roman: Ali Smiths "Herbst" erzählt von der Schönheit eines gelebten Lebens im Angesicht der Verunsicherung.
Von Elena Witzeck
Zwei Leben. Eines, das auf sein Ende zugeht und von der Erinnerung zehrt. Eines, das gerade so richtig loslegen könnte, frei und fertig für die Welt, das aber die Last der Zukunft trägt und mitverfolgen muss, wie aus einer Gesellschaft der Freigeister eine voller Niedertracht und Egoismus wird, wie die Pedanterie von Behörden das Dasein bestimmt. Es gibt nur einen Raum, in dem sie gemeinsam vorwärts- und zurückblicken können, wo ihre Erinnerungen ineinanderschwappen und das Erspürte genauso viel Raum bekommt wie das tatsächlich Erlebte: das Krankenzimmer des Alten.
Mr Gluck wird Elisabeths Nachbar, als sie, zehn Jahre alt, mit ihrer Mutter umzieht. Es heißt, er sei uralt, aber wie er die Beine unterschlägt, am Kanal entlangspaziert und sich seiner Uhr mit einem gezielten Wurf entledigt, nur weil ihm danach ist, wie er Geschichten entwirft - all das lässt sein wahres Alter erahnen. Er lenkt Elisabeths Blick von der überforderten Mutter auf Literatur und Kunst, die er ihr beschreibt, und er zeigt ihr ein erträglicheres Bild der Welt. "Niemand sprach wie Daniel. Niemand schwieg wie Daniel."
Aber man kann diese Geschichte von Ali Smith, der in Cambridge lebenden schottischen Autorin, nicht anhand ihrer äußeren Handlung begreifen. "Herbst" ist keine Erzählung mit Ursprung und Ziel, keine merkwürdige Liebes- oder Coming-of-Age-Geschichte und viel mehr als ein "Brexit-Roman" - dieses neue Genre britischer Literatur, das die Leute lesen, um zu verstehen, was ihnen im Alltag unerklärlich bleibt, ein Begriff, der es natürlich auch auf den Klappentext von "Herbst" geschafft hat, jetzt, wo der Roman auf Deutsch erschienen ist.
Der Sommer, in dem das Vereinigte Königreich für den Austritt aus der EU stimmte, scheint lange her. Es war der Sommer 2016, als Smith begann, an einem größeren Projekt zu arbeiten. Vier Bücher in vier Jahren, ein Jahreszeitenquartett. "Herbst" ist der erste Band, und dass er erst jetzt (in behutsamer Übersetzung von Silvia Morawetz) auf Deutsch vorliegt, nachdem auf Englisch schon zwei weitere Bände erschienen sind, Regierungen ausgewechselt, ungezählte neue Brexit-Szenarien in Umlauf gebracht und wieder verworfen wurden, könnte man nachlässig nennen, denn immerhin heißt es bei Smith: "Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten das Richtige und andere hätten das Falsche getan." Da werden Unterhausabgeordnete umgebracht, da bemerkt die Protagonistin, es sei "das Ende des Gesprächs", und überlegt, wann genau sich alle geändert haben und wie lange das schon so geht. Lange.
Aber dann ist man wieder froh, diesen Roman nicht 2016 gelesen zu haben, in der Verwirrung der ersten Zeit, und überhaupt, bis man verstanden hat, wer da wann spricht und träumt, wo die Zeit den alten Mann und die mittellose Kunstgeschichtsdozentin wieder zusammenführt, ist man schon fast bei der Hälfte des Romans angelangt. Smith spielt mit den Zeitebenen, mit dem inneren Erleben. Ihre Beschreibungen der gesellschaftlichen Spaltung haben immer wieder etwas dystopisch Überzeichnetes: Spanische Urlauber werden, gerade am Flughafen gelandet, lautstark beschimpft und zur Umkehr aufgefordert. Ist das die Welt der Abschottung, die uns erwartet? Oder das Anstehen am Postamt, der Wahnsinn der Brexit-Bürokraten: Weil ihre Augen zu klein sind und ihr Kopf die falsche Form hat, erlebt Elisabeth kafkaeske Szenen, wartet Monate auf ihren Pass. Und an der Grenze wächst der Maschendrahtzaun.
Ali Smith stand schon viermal auf der Shortlist des Man Booker Prize. Das hat mit der Kraft ihrer Sprache zu tun, mit einem Denken in Bildern und Refrains, in Satzfragmenten, das die Unruhe ihrer Protagonisten beschreibt. "Don Juan. Momentan. Blödian. Lebensbahn. Veteran im Liebeswahn. Zu profan. Mein lieber Schwan": Wie ein alter Mensch mit geschlossenen Augen sein Leben durchforstet, wie er seine Jugend zurückholt und die Frau, die ihn nie erhörte, die vergessene und nun von Smith wiederentdeckte Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty, die früh an Krebs starb, wie sich alles in seinem Kopf verwebt und trotz äußerer Verunsicherung ein bestechend schönes Bild entsteht, das ist große Schreibkunst.
Man kann den Brexit literarisch verhandeln, Anlass gibt es genug. Man kann aber auch über das, was uns zusammenhält, schreiben und das, was uns trennt, in einer Chronik unserer Zeit und damit mehr sagen. Momentan schreibt Smith an "Summer", dem Finale des Jahreszeitenquartetts, angekündigt für Sommer 2020.
Ali Smith: "Herbst". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr als ein Brexit-Roman: Ali Smiths "Herbst" erzählt von der Schönheit eines gelebten Lebens im Angesicht der Verunsicherung.
Von Elena Witzeck
Zwei Leben. Eines, das auf sein Ende zugeht und von der Erinnerung zehrt. Eines, das gerade so richtig loslegen könnte, frei und fertig für die Welt, das aber die Last der Zukunft trägt und mitverfolgen muss, wie aus einer Gesellschaft der Freigeister eine voller Niedertracht und Egoismus wird, wie die Pedanterie von Behörden das Dasein bestimmt. Es gibt nur einen Raum, in dem sie gemeinsam vorwärts- und zurückblicken können, wo ihre Erinnerungen ineinanderschwappen und das Erspürte genauso viel Raum bekommt wie das tatsächlich Erlebte: das Krankenzimmer des Alten.
Mr Gluck wird Elisabeths Nachbar, als sie, zehn Jahre alt, mit ihrer Mutter umzieht. Es heißt, er sei uralt, aber wie er die Beine unterschlägt, am Kanal entlangspaziert und sich seiner Uhr mit einem gezielten Wurf entledigt, nur weil ihm danach ist, wie er Geschichten entwirft - all das lässt sein wahres Alter erahnen. Er lenkt Elisabeths Blick von der überforderten Mutter auf Literatur und Kunst, die er ihr beschreibt, und er zeigt ihr ein erträglicheres Bild der Welt. "Niemand sprach wie Daniel. Niemand schwieg wie Daniel."
Aber man kann diese Geschichte von Ali Smith, der in Cambridge lebenden schottischen Autorin, nicht anhand ihrer äußeren Handlung begreifen. "Herbst" ist keine Erzählung mit Ursprung und Ziel, keine merkwürdige Liebes- oder Coming-of-Age-Geschichte und viel mehr als ein "Brexit-Roman" - dieses neue Genre britischer Literatur, das die Leute lesen, um zu verstehen, was ihnen im Alltag unerklärlich bleibt, ein Begriff, der es natürlich auch auf den Klappentext von "Herbst" geschafft hat, jetzt, wo der Roman auf Deutsch erschienen ist.
Der Sommer, in dem das Vereinigte Königreich für den Austritt aus der EU stimmte, scheint lange her. Es war der Sommer 2016, als Smith begann, an einem größeren Projekt zu arbeiten. Vier Bücher in vier Jahren, ein Jahreszeitenquartett. "Herbst" ist der erste Band, und dass er erst jetzt (in behutsamer Übersetzung von Silvia Morawetz) auf Deutsch vorliegt, nachdem auf Englisch schon zwei weitere Bände erschienen sind, Regierungen ausgewechselt, ungezählte neue Brexit-Szenarien in Umlauf gebracht und wieder verworfen wurden, könnte man nachlässig nennen, denn immerhin heißt es bei Smith: "Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten das Richtige und andere hätten das Falsche getan." Da werden Unterhausabgeordnete umgebracht, da bemerkt die Protagonistin, es sei "das Ende des Gesprächs", und überlegt, wann genau sich alle geändert haben und wie lange das schon so geht. Lange.
Aber dann ist man wieder froh, diesen Roman nicht 2016 gelesen zu haben, in der Verwirrung der ersten Zeit, und überhaupt, bis man verstanden hat, wer da wann spricht und träumt, wo die Zeit den alten Mann und die mittellose Kunstgeschichtsdozentin wieder zusammenführt, ist man schon fast bei der Hälfte des Romans angelangt. Smith spielt mit den Zeitebenen, mit dem inneren Erleben. Ihre Beschreibungen der gesellschaftlichen Spaltung haben immer wieder etwas dystopisch Überzeichnetes: Spanische Urlauber werden, gerade am Flughafen gelandet, lautstark beschimpft und zur Umkehr aufgefordert. Ist das die Welt der Abschottung, die uns erwartet? Oder das Anstehen am Postamt, der Wahnsinn der Brexit-Bürokraten: Weil ihre Augen zu klein sind und ihr Kopf die falsche Form hat, erlebt Elisabeth kafkaeske Szenen, wartet Monate auf ihren Pass. Und an der Grenze wächst der Maschendrahtzaun.
Ali Smith stand schon viermal auf der Shortlist des Man Booker Prize. Das hat mit der Kraft ihrer Sprache zu tun, mit einem Denken in Bildern und Refrains, in Satzfragmenten, das die Unruhe ihrer Protagonisten beschreibt. "Don Juan. Momentan. Blödian. Lebensbahn. Veteran im Liebeswahn. Zu profan. Mein lieber Schwan": Wie ein alter Mensch mit geschlossenen Augen sein Leben durchforstet, wie er seine Jugend zurückholt und die Frau, die ihn nie erhörte, die vergessene und nun von Smith wiederentdeckte Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty, die früh an Krebs starb, wie sich alles in seinem Kopf verwebt und trotz äußerer Verunsicherung ein bestechend schönes Bild entsteht, das ist große Schreibkunst.
Man kann den Brexit literarisch verhandeln, Anlass gibt es genug. Man kann aber auch über das, was uns zusammenhält, schreiben und das, was uns trennt, in einer Chronik unserer Zeit und damit mehr sagen. Momentan schreibt Smith an "Summer", dem Finale des Jahreszeitenquartetts, angekündigt für Sommer 2020.
Ali Smith: "Herbst". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2020„Es war die schlechteste aller Zeiten“
Insel im Sturm, aber kein Brexit-Roman: Ali Smith zieht in „Herbst“ mit Ovid
und Shakespeare gegen die Welt der Zäune und ihre Wachmannschaften zu Felde
VON HUBERT WINKELS
In der Regel haben erzählende Bücher, Romane zumal, einen Anfang und ein Ende. Die Prunkstücke dieser linearen, progressiven Zeitordnung sind neben den historischen die Entwicklungs-, Bildungs- und Familienromane. Und da der alles fressende und vermeintlich alles könnende Roman gelegentlich auch sich selbst zu dekonstruieren versucht, gibt es auch etliche sozusagen „nonlineare“ Versuche, experimentelle Prosa der besonderen Art.
Als Meisterin solcher Neuverspannungen des Genres schreibt die Schottin Ali Smith seit einem Vierteljahrhundert die tollsten Romanexperimente, weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, in Großbritannien und in jüngster Zeit auch in der restlichen englischsprachigen Welt mit erstaunlichem Erfolg. Das gekonnte Handhaben der ständigen Perspektivwechsel, Zeitsprünge, unterschiedlichsten Bildsphären und personalen Identitäten erzeugt, für sich genommen, eher kühle Bewunderung (und manchmal Abwehr) als Sympathie. Was hier aber einen Wärmestrom aus der artistischen Prosa hervorbrechen lässt, sind die inhaltlichen Entsprechungen zu den hybriden Textverfahren, die Wandlungen des Geschlechts, ja der biologischen Gattung überhaupt, die Versatilität der Dingwelt, die Hybridbildungen von Mensch, Natur und Kunst. Das wirkt sehr heutig, ist aber wesentlich von Ovids „Metamorphosen“ und dem fantastisch ausschweifenden Shakespeare inspiriert.
Damit ist auch schon der zweite Wärme erzeugende Zug in Ali Smith’ Prosa benannt. Die permanente Verwandlung hat bei ihr einen philosophisch-poetologischen Untergrund. Der Wandel ist paradoxerweise das Erste, ist vor allem Gegebenen selbst am Werk, er ist das alles beseelende Prinzip nicht nur unserer symbolischen Kommunikation, sondern der gesamten Schöpfung. Mit dieser Grenzen auflösenden metabolischen Kraft geht Ali Smith mit nachdrücklicher Sanftheit um. Sie wird weder dekretiert, noch wird mit ihr missioniert. Schaut her, sagt sie, schaut nur in den Kelch der Blüte, die sich öffnet noch im beginnenden Winter (das Schlussbild in „Herbst“). Es ist das romantische Bild des Lebens als Grund von allem, das doch immer nur in seiner konkreten Erscheinung sinnlich zu fassen ist.
Ein schöner Beleg für dieses Verfahren sind ihre Oxford Lectures, die Poetikvorlesungen, 2012 in England, 2017 bei uns unter dem Titel „Wem erzähle ich das?“erschienen. Darin trauert eine Erzählerin in ihrer Stube voller Bücher um ihre(n) Geliebte(n), beginnt ihr vorzulesen, tritt dann ins Gespräch mit dem wieder auferstehenden Geliebten, auch mit den Figuren und Szenen der Bücher, bis sich der literarische mit dem imaginären und dem realen Kosmos ununterscheidbar verbindet. Das ist die Erzählwelt und -weise der Ali Smith, auch in diesem Roman „Herbst“ (2016/2019) und seinen auf Englisch schon zu lesenden Nachfolgern „Winter“ (2017) und „Frühling“ (2019).
Mit diesen scheinbaren Präliminarien sind wir auch schon tiefer eingedrungen in die Textur von „Herbst“. Der Anfang des Romans setzt sein Ende bereits voraus. An eben diesem Ende fragt der einhunderteins Jahre alte Daniel Gluck, aus seinem Tiefschlaf erwachend, die junge Besucherin Elisabeth Demand als Erstes und wie immer: „Was liest du gerade?“ Beide existieren, symbiotisch miteinander verbunden, in einem eigenen Erzählreich.
Alt und schwach ist Gluck auf den letzten Seiten, kurz vor dem Tod. Doch auf den furiosen ersten zehn Seiten des Romans ist er dabei, von den Toten aufzuerstehen. Ein nasser Ledersack, so wird er angespült an einem leeren Strand, ein Sprechen regt sich, erst handelt es von Gluck in der dritten Person, bald schon wandelt es sich zur erlebten Rede, geht über in den inneren Monolog, schließlich adressiert er sich an sich selbst. Eine Welt entsteht in einer Kaskade von Erzählformen, bis sich der Auferstandene als Toter selbst begegnet. „Daniel Gluck sieht vom Tod zum Leben und dann wieder zum Tod. Die Traurigkeit der Welt. Noch auf der Welt, eindeutig. Er sieht an seinem Laubmantel herunter, immer noch grün.“
Aus Nacktheitsscham hat sich der in ewiger Wiederkehr Auferstandene einen Mantel aus Laub genäht. Er verwandelt sich in einen Baum, ein Ovidmotiv zweifellos. Wenn wir Daniel Gluck aber ein paar Dutzend Seiten später wiederbegegnen, dann ist er Teil einer Kiefer, eingezwängt in den Stamm diese Nadelbaums und spricht aus dem Holz heraus. Und damit wären wir bei Shakespeares „Sturm“ wo der Luftgeist Ariel, der herrlich verwirrende Wandler, zu Beginn in einer Kiefer feststeckt, aus der ihn der verbannte Prospero befreit. Wir sind im Reich der Magier und Zauberer. In den folgenden Romanen des literarischen Jahreszeitenquartettes der Ali Smith fungieren dann Shakespeares „Cymbeline“ („Winter“) und „Perikles“ („Spring“) als Referenztexte, alle drei literaturhistorisch den Shakespeareschen „Romanzen“, den Zauber- und Märchenstücken zugerechnet.
Eine Zwischenfrage muss an dieser Stelle wohl beantwortet werden. Warum gilt „Herbst“ (und die gesamte Tetralogie) als „Brexit-Roman“? Erster Teil der Antwort: Es ist keiner. Zweiter Teil: Ali Smith hat selbst von Brexit als ihrem Thema gesprochen und damit willentlich oder unfreiwillig eine Art Test provoziert, der offenbart, wie ein vorgegebenes oder eingeflüstertes Erkenntnisziel die Wahrnehmung von Text, Dramaturgie und Poesie bis hin zur absurden Verzerrung steuert. Aber sonst?
Natürlich kann man einige Passagen des Romans leicht auf die Brexit-Diskussion der vergangenen Jahre in Großbritannien beziehen – der Roman ist 2016 geschrieben und veröffentlicht! –, allerdings fast ebenso gut auch auf andere politische Systeme der Ausgrenzung, Radikalisierung und Intoleranz beziehen („Spring“ ist in dieser Hinsicht etwas eindeutiger).
Das wiederum liegt am Symbolcharakter der gesellschaftlichen Bezüge. Zwei, drei kabarettreife Szenen beleuchten die Identitätsneurose bei der Passbehörde oder bei der Anforderung des Persönlichkeitsnachweises. So gelingt es Elisabeth Demand nicht, den Maßanforderungen bezüglich der Kopfbreite auf einem Foto, dem Abstand zwischen den Augen oder dem Abstand von Haaren zum Gesicht exakt zu genügen.
Oder der Zaun, der sich durch die drei ersten Bände des Jahreszeitenquartetts zieht. Dass er Flüchtende einsperren soll, erfährt man am Rande. Er ist vor allem das Trennende schlechthin, ein Emblem für die Gegenwart. Und in jedem der bislang drei Romane taucht eine eher düstere Figur auf, die zur Wachmannschaft der Zaunwelt gehört, die den orwellhaften Namen SA4A trägt. An und mit dem Zaun erlebt die eher spießig-ängstliche Mutter der munteren Gluck-Freundin Elisabeth ihr spätes Coming-out. Erst ist sie bar jeden Verständnisses für die Neigung ihrer Tochter zu dem siebzig Jahre älteren Nachbarn Gluck und ohne jedes Verständnis für Kunst, Freiheit oder Schönheit überhaupt, doch wie durch ein Wunder gerät die Gegenwartsnärrin in den Sog der Vergangenheit.
Sie erinnert alte Songs und Filme, lernt eine einstmals berühmte Schauspielerin kennen und lieben, wird mit ihrem Spaß an Antiquitäten in eine Art „Bares für Rares“-Ratesendung erfolgreich eingeladen. Frisch befreit und frisch verpartnert ist es ausgerechnet diese old school mam, die ein Attentat auf den Zaun des Bösen begeht. Sie wirft voll Wut ein antikes Barometer in die Maschen, dass es zischt und dem Zaun der Strom ausgeht. Er ist ein Elektrozaun auch gegen Kinder. Und Mutters Begehr zum Ende des Romans ist es, weitere antike Requisiten ans segregierende Metall zu knallen. In alten Dingen verdichten sich Erzählungen, ganze Lebensgeschichten, und der Zaun ist ihr Tod, ein globaler Dementor. Nichts soll gezählt, gemessen sein, weder Zeit noch Gesichtsbreite oder gar die Luft ( Ariel!), alles ist erzählt, alles fließt, und im ewigen Gewisper der Worte hört man die Wachstumsschübe der Welt in ihrer permanenten Veränderung.
Es versteht sich, dass eine solche heraklitisch inspirierte Erzählphilosophie ein positives Verhältnis zum Sein als erzähltem hat. Die Konsequenz, mit der Ali Smith das austrägt, ist erstaunlich. Aus lauter dystopischen Motiven kann sie Romane heitersten Gleitens und Springens und Wandelns erzeugen, mit einer stillen Vision ewiger Konjunktionen, die nicht selten als schlichtes Happy End erscheinen. So ist auch der Brexit in „Herbst“ schon in der bionarrativen Phase seiner Verwandlung in einen neuen besseren sozialen Organismus angekommen. Ein utopisches Potenzial, das den Smith’schen Wärmestrom weiter verstärkt.
Und noch etwas gehört dazu, damit beim Fehlen einer konsistenten Handlung, der Ersetzung von Personen durch bewegliche Masken und Widergänger aus der Literaturgeschichte und bei dauernd wechselnden Erzählern Nähe entstehen kann. Ali Smith ist sehr am Adressaten interessiert, an uns, ihren Lesern und Zuhörern. Dieser beweglichen undurchsichtigen Größe will sie etwas ins Ohr flüstern, als vertraute Freundin, nichts Festes, Klares, Begrenztes, sondern eine flüssige, vielgestaltige Botschaft, die sich nur im Vollzug herstellt. Sie macht uns zu intimen Zeugen eines quasi-alchemistischen Vorgangs der Wortkombinatorik und Welterschaffung. Sie ist eine Freundin im eben beginnenden großen Akt der Rettung der Welt und des Schönen.
Das ist zweifellos eine idealtypische Nachzeichnung eines Verfahrens und eines Begehrens. Dass es eine Negativform dazu geben muss, dass man je nach Erwartung auch von Inkonsistenz der Sprechhaltung, der Fabel, der Personen und ihres Zusammenspiels sprechen kann, liegt nahe. Man muss schon bei der poetischen Weltrettung mitmachen wollen, mitschöpfend, sympathetisch. Auch die Idee, dass Literatur das Imaginäre dem Realen überordnet, muss man nicht für revolutionär halten. Und logisch schwierig ist ihre Begründung obendrein. Einen Hinweis darauf gibt Ali Smith, wenn sie im Folgeroman „Winter“ rhetorisch fragt: „Where would we be without our ability to see beyond what it is we’re supposed to be seeing.“
Aber die Fragen an den Roman gehen nicht in Richtung Begründung, sie führen in einen offenen und verzweigten fiktionalen Raum der tausend Referenzen. Ali Smith’ Erzählungen sind extrem verdichtete Metaliteratur. Genannt werden müssen noch die innigen Verbindungen zu John Keats und, notorisch bei Ali Smith, zu Virginia Woolf. Aber auch zu Charles Dickens: Mit einer Verballhornung eines der bekannteste Literaturzitate im englischsprachigen Raum – aus Dickens’ „Eine Geschichte aus zwei Städten“ – beginnt „Herbst“: „Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten.“
Auch bleibt noch Ali Smith’ um- und überschreibende Arbeit mit Werken der bildenden Kunst zu erwähnen, ihre Idee und Praxis der Ekphrasis. Im Mittelpunkt jedes ihrer Jahreszeitenromane steht eine Künstlerin. In „Herbst“ ist es Pauline Boty, eine weitgehend vergessene Pop-Artistin, deren Weg auch zu Christine Keeler führt, der legendären Society-Prostituierten aus den wilden Sechzigerjahren in London. In „Winter“ ist es die Bildhauerin Barbara Hepworth, in „Spring“ Tacita Dean.
Hier kommt, einen jahrhundertealten Wettstreit der Künste beerbend, die schöne Literatur an eine Grenze. Oder besser, Ali Smith versucht vergeblich, diese Grenze einzureißen. Sie unternimmt einige Anstrengungen, Pauline Botys Bildcollagen so zu beschreiben, dass wir sie klar vor dem inneren Auge stehen haben. Das funktioniert aber nicht. Die Simultaneität der Erfassung des Gegenstandes durch den Blick ist etwas anderes als die Verzeitlichung des Gegenstandes in der Linearität des Erzählens. Gerne wäre Ali Smith’ Erzählung bildende Kunst. Aber sie kann diese nur hineinverwandeln in ihr Medium der Nachträglichkeit. Daran arbeitet sie sich auf vielen Wegen ab. Manche sind vergeblich, viele davon großartige Spaziergänge ins Offene und Überraschende.
Smith’ Ab- und Umweg im sprachlichen Gelände mit derselben innigen Mischung aus Lässigkeit und Genauigkeit zu zeichnen wie die Autorin selbst, bis tief hinein in Kalauer und Lautpoesie, ist der Übersetzerin Silvia Morawetz hervorragend gelungen. Wäre der Roman Natur, dann wäre er ein altes raues verknotetes Holzgewächs, aus dem hier und da kleine Knospen sprießen.
„Daniel Gluck sieht vom
Tod zum Leben und
dann wieder zum Tod.“
Aus lauter dystopischen Motiven
entsteht ein Roman heitersten
Gleitens und Springens
Im Mittelpunkt jedes
der Jahreszeitenromane
steht eine Künstlerin
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren, sie lebt in Cambridge.
Foto: mauritius images / Alamy/Gary Doak
Ali Smith: Herbst.
Roman. Aus dem
Englischen von
Silvia Morawetz.
Luchterhand Literatur-
verlag, München 2019.
269 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Insel im Sturm, aber kein Brexit-Roman: Ali Smith zieht in „Herbst“ mit Ovid
und Shakespeare gegen die Welt der Zäune und ihre Wachmannschaften zu Felde
VON HUBERT WINKELS
In der Regel haben erzählende Bücher, Romane zumal, einen Anfang und ein Ende. Die Prunkstücke dieser linearen, progressiven Zeitordnung sind neben den historischen die Entwicklungs-, Bildungs- und Familienromane. Und da der alles fressende und vermeintlich alles könnende Roman gelegentlich auch sich selbst zu dekonstruieren versucht, gibt es auch etliche sozusagen „nonlineare“ Versuche, experimentelle Prosa der besonderen Art.
Als Meisterin solcher Neuverspannungen des Genres schreibt die Schottin Ali Smith seit einem Vierteljahrhundert die tollsten Romanexperimente, weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, in Großbritannien und in jüngster Zeit auch in der restlichen englischsprachigen Welt mit erstaunlichem Erfolg. Das gekonnte Handhaben der ständigen Perspektivwechsel, Zeitsprünge, unterschiedlichsten Bildsphären und personalen Identitäten erzeugt, für sich genommen, eher kühle Bewunderung (und manchmal Abwehr) als Sympathie. Was hier aber einen Wärmestrom aus der artistischen Prosa hervorbrechen lässt, sind die inhaltlichen Entsprechungen zu den hybriden Textverfahren, die Wandlungen des Geschlechts, ja der biologischen Gattung überhaupt, die Versatilität der Dingwelt, die Hybridbildungen von Mensch, Natur und Kunst. Das wirkt sehr heutig, ist aber wesentlich von Ovids „Metamorphosen“ und dem fantastisch ausschweifenden Shakespeare inspiriert.
Damit ist auch schon der zweite Wärme erzeugende Zug in Ali Smith’ Prosa benannt. Die permanente Verwandlung hat bei ihr einen philosophisch-poetologischen Untergrund. Der Wandel ist paradoxerweise das Erste, ist vor allem Gegebenen selbst am Werk, er ist das alles beseelende Prinzip nicht nur unserer symbolischen Kommunikation, sondern der gesamten Schöpfung. Mit dieser Grenzen auflösenden metabolischen Kraft geht Ali Smith mit nachdrücklicher Sanftheit um. Sie wird weder dekretiert, noch wird mit ihr missioniert. Schaut her, sagt sie, schaut nur in den Kelch der Blüte, die sich öffnet noch im beginnenden Winter (das Schlussbild in „Herbst“). Es ist das romantische Bild des Lebens als Grund von allem, das doch immer nur in seiner konkreten Erscheinung sinnlich zu fassen ist.
Ein schöner Beleg für dieses Verfahren sind ihre Oxford Lectures, die Poetikvorlesungen, 2012 in England, 2017 bei uns unter dem Titel „Wem erzähle ich das?“erschienen. Darin trauert eine Erzählerin in ihrer Stube voller Bücher um ihre(n) Geliebte(n), beginnt ihr vorzulesen, tritt dann ins Gespräch mit dem wieder auferstehenden Geliebten, auch mit den Figuren und Szenen der Bücher, bis sich der literarische mit dem imaginären und dem realen Kosmos ununterscheidbar verbindet. Das ist die Erzählwelt und -weise der Ali Smith, auch in diesem Roman „Herbst“ (2016/2019) und seinen auf Englisch schon zu lesenden Nachfolgern „Winter“ (2017) und „Frühling“ (2019).
Mit diesen scheinbaren Präliminarien sind wir auch schon tiefer eingedrungen in die Textur von „Herbst“. Der Anfang des Romans setzt sein Ende bereits voraus. An eben diesem Ende fragt der einhunderteins Jahre alte Daniel Gluck, aus seinem Tiefschlaf erwachend, die junge Besucherin Elisabeth Demand als Erstes und wie immer: „Was liest du gerade?“ Beide existieren, symbiotisch miteinander verbunden, in einem eigenen Erzählreich.
Alt und schwach ist Gluck auf den letzten Seiten, kurz vor dem Tod. Doch auf den furiosen ersten zehn Seiten des Romans ist er dabei, von den Toten aufzuerstehen. Ein nasser Ledersack, so wird er angespült an einem leeren Strand, ein Sprechen regt sich, erst handelt es von Gluck in der dritten Person, bald schon wandelt es sich zur erlebten Rede, geht über in den inneren Monolog, schließlich adressiert er sich an sich selbst. Eine Welt entsteht in einer Kaskade von Erzählformen, bis sich der Auferstandene als Toter selbst begegnet. „Daniel Gluck sieht vom Tod zum Leben und dann wieder zum Tod. Die Traurigkeit der Welt. Noch auf der Welt, eindeutig. Er sieht an seinem Laubmantel herunter, immer noch grün.“
Aus Nacktheitsscham hat sich der in ewiger Wiederkehr Auferstandene einen Mantel aus Laub genäht. Er verwandelt sich in einen Baum, ein Ovidmotiv zweifellos. Wenn wir Daniel Gluck aber ein paar Dutzend Seiten später wiederbegegnen, dann ist er Teil einer Kiefer, eingezwängt in den Stamm diese Nadelbaums und spricht aus dem Holz heraus. Und damit wären wir bei Shakespeares „Sturm“ wo der Luftgeist Ariel, der herrlich verwirrende Wandler, zu Beginn in einer Kiefer feststeckt, aus der ihn der verbannte Prospero befreit. Wir sind im Reich der Magier und Zauberer. In den folgenden Romanen des literarischen Jahreszeitenquartettes der Ali Smith fungieren dann Shakespeares „Cymbeline“ („Winter“) und „Perikles“ („Spring“) als Referenztexte, alle drei literaturhistorisch den Shakespeareschen „Romanzen“, den Zauber- und Märchenstücken zugerechnet.
Eine Zwischenfrage muss an dieser Stelle wohl beantwortet werden. Warum gilt „Herbst“ (und die gesamte Tetralogie) als „Brexit-Roman“? Erster Teil der Antwort: Es ist keiner. Zweiter Teil: Ali Smith hat selbst von Brexit als ihrem Thema gesprochen und damit willentlich oder unfreiwillig eine Art Test provoziert, der offenbart, wie ein vorgegebenes oder eingeflüstertes Erkenntnisziel die Wahrnehmung von Text, Dramaturgie und Poesie bis hin zur absurden Verzerrung steuert. Aber sonst?
Natürlich kann man einige Passagen des Romans leicht auf die Brexit-Diskussion der vergangenen Jahre in Großbritannien beziehen – der Roman ist 2016 geschrieben und veröffentlicht! –, allerdings fast ebenso gut auch auf andere politische Systeme der Ausgrenzung, Radikalisierung und Intoleranz beziehen („Spring“ ist in dieser Hinsicht etwas eindeutiger).
Das wiederum liegt am Symbolcharakter der gesellschaftlichen Bezüge. Zwei, drei kabarettreife Szenen beleuchten die Identitätsneurose bei der Passbehörde oder bei der Anforderung des Persönlichkeitsnachweises. So gelingt es Elisabeth Demand nicht, den Maßanforderungen bezüglich der Kopfbreite auf einem Foto, dem Abstand zwischen den Augen oder dem Abstand von Haaren zum Gesicht exakt zu genügen.
Oder der Zaun, der sich durch die drei ersten Bände des Jahreszeitenquartetts zieht. Dass er Flüchtende einsperren soll, erfährt man am Rande. Er ist vor allem das Trennende schlechthin, ein Emblem für die Gegenwart. Und in jedem der bislang drei Romane taucht eine eher düstere Figur auf, die zur Wachmannschaft der Zaunwelt gehört, die den orwellhaften Namen SA4A trägt. An und mit dem Zaun erlebt die eher spießig-ängstliche Mutter der munteren Gluck-Freundin Elisabeth ihr spätes Coming-out. Erst ist sie bar jeden Verständnisses für die Neigung ihrer Tochter zu dem siebzig Jahre älteren Nachbarn Gluck und ohne jedes Verständnis für Kunst, Freiheit oder Schönheit überhaupt, doch wie durch ein Wunder gerät die Gegenwartsnärrin in den Sog der Vergangenheit.
Sie erinnert alte Songs und Filme, lernt eine einstmals berühmte Schauspielerin kennen und lieben, wird mit ihrem Spaß an Antiquitäten in eine Art „Bares für Rares“-Ratesendung erfolgreich eingeladen. Frisch befreit und frisch verpartnert ist es ausgerechnet diese old school mam, die ein Attentat auf den Zaun des Bösen begeht. Sie wirft voll Wut ein antikes Barometer in die Maschen, dass es zischt und dem Zaun der Strom ausgeht. Er ist ein Elektrozaun auch gegen Kinder. Und Mutters Begehr zum Ende des Romans ist es, weitere antike Requisiten ans segregierende Metall zu knallen. In alten Dingen verdichten sich Erzählungen, ganze Lebensgeschichten, und der Zaun ist ihr Tod, ein globaler Dementor. Nichts soll gezählt, gemessen sein, weder Zeit noch Gesichtsbreite oder gar die Luft ( Ariel!), alles ist erzählt, alles fließt, und im ewigen Gewisper der Worte hört man die Wachstumsschübe der Welt in ihrer permanenten Veränderung.
Es versteht sich, dass eine solche heraklitisch inspirierte Erzählphilosophie ein positives Verhältnis zum Sein als erzähltem hat. Die Konsequenz, mit der Ali Smith das austrägt, ist erstaunlich. Aus lauter dystopischen Motiven kann sie Romane heitersten Gleitens und Springens und Wandelns erzeugen, mit einer stillen Vision ewiger Konjunktionen, die nicht selten als schlichtes Happy End erscheinen. So ist auch der Brexit in „Herbst“ schon in der bionarrativen Phase seiner Verwandlung in einen neuen besseren sozialen Organismus angekommen. Ein utopisches Potenzial, das den Smith’schen Wärmestrom weiter verstärkt.
Und noch etwas gehört dazu, damit beim Fehlen einer konsistenten Handlung, der Ersetzung von Personen durch bewegliche Masken und Widergänger aus der Literaturgeschichte und bei dauernd wechselnden Erzählern Nähe entstehen kann. Ali Smith ist sehr am Adressaten interessiert, an uns, ihren Lesern und Zuhörern. Dieser beweglichen undurchsichtigen Größe will sie etwas ins Ohr flüstern, als vertraute Freundin, nichts Festes, Klares, Begrenztes, sondern eine flüssige, vielgestaltige Botschaft, die sich nur im Vollzug herstellt. Sie macht uns zu intimen Zeugen eines quasi-alchemistischen Vorgangs der Wortkombinatorik und Welterschaffung. Sie ist eine Freundin im eben beginnenden großen Akt der Rettung der Welt und des Schönen.
Das ist zweifellos eine idealtypische Nachzeichnung eines Verfahrens und eines Begehrens. Dass es eine Negativform dazu geben muss, dass man je nach Erwartung auch von Inkonsistenz der Sprechhaltung, der Fabel, der Personen und ihres Zusammenspiels sprechen kann, liegt nahe. Man muss schon bei der poetischen Weltrettung mitmachen wollen, mitschöpfend, sympathetisch. Auch die Idee, dass Literatur das Imaginäre dem Realen überordnet, muss man nicht für revolutionär halten. Und logisch schwierig ist ihre Begründung obendrein. Einen Hinweis darauf gibt Ali Smith, wenn sie im Folgeroman „Winter“ rhetorisch fragt: „Where would we be without our ability to see beyond what it is we’re supposed to be seeing.“
Aber die Fragen an den Roman gehen nicht in Richtung Begründung, sie führen in einen offenen und verzweigten fiktionalen Raum der tausend Referenzen. Ali Smith’ Erzählungen sind extrem verdichtete Metaliteratur. Genannt werden müssen noch die innigen Verbindungen zu John Keats und, notorisch bei Ali Smith, zu Virginia Woolf. Aber auch zu Charles Dickens: Mit einer Verballhornung eines der bekannteste Literaturzitate im englischsprachigen Raum – aus Dickens’ „Eine Geschichte aus zwei Städten“ – beginnt „Herbst“: „Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten.“
Auch bleibt noch Ali Smith’ um- und überschreibende Arbeit mit Werken der bildenden Kunst zu erwähnen, ihre Idee und Praxis der Ekphrasis. Im Mittelpunkt jedes ihrer Jahreszeitenromane steht eine Künstlerin. In „Herbst“ ist es Pauline Boty, eine weitgehend vergessene Pop-Artistin, deren Weg auch zu Christine Keeler führt, der legendären Society-Prostituierten aus den wilden Sechzigerjahren in London. In „Winter“ ist es die Bildhauerin Barbara Hepworth, in „Spring“ Tacita Dean.
Hier kommt, einen jahrhundertealten Wettstreit der Künste beerbend, die schöne Literatur an eine Grenze. Oder besser, Ali Smith versucht vergeblich, diese Grenze einzureißen. Sie unternimmt einige Anstrengungen, Pauline Botys Bildcollagen so zu beschreiben, dass wir sie klar vor dem inneren Auge stehen haben. Das funktioniert aber nicht. Die Simultaneität der Erfassung des Gegenstandes durch den Blick ist etwas anderes als die Verzeitlichung des Gegenstandes in der Linearität des Erzählens. Gerne wäre Ali Smith’ Erzählung bildende Kunst. Aber sie kann diese nur hineinverwandeln in ihr Medium der Nachträglichkeit. Daran arbeitet sie sich auf vielen Wegen ab. Manche sind vergeblich, viele davon großartige Spaziergänge ins Offene und Überraschende.
Smith’ Ab- und Umweg im sprachlichen Gelände mit derselben innigen Mischung aus Lässigkeit und Genauigkeit zu zeichnen wie die Autorin selbst, bis tief hinein in Kalauer und Lautpoesie, ist der Übersetzerin Silvia Morawetz hervorragend gelungen. Wäre der Roman Natur, dann wäre er ein altes raues verknotetes Holzgewächs, aus dem hier und da kleine Knospen sprießen.
„Daniel Gluck sieht vom
Tod zum Leben und
dann wieder zum Tod.“
Aus lauter dystopischen Motiven
entsteht ein Roman heitersten
Gleitens und Springens
Im Mittelpunkt jedes
der Jahreszeitenromane
steht eine Künstlerin
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren, sie lebt in Cambridge.
Foto: mauritius images / Alamy/Gary Doak
Ali Smith: Herbst.
Roman. Aus dem
Englischen von
Silvia Morawetz.
Luchterhand Literatur-
verlag, München 2019.
269 Seiten, 22 Euro.
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»Ali Smith findet prächtige, farbmächtige Bilder für den Zustand ihrer Protagonisten. Ein berührendes, umwerfendes Juwel britischer Literatur, beeindruckend übersetzt von Silvia Morawetz.« Johannes Kaiser / Deutschlandfunk Kultur