Mit drei Zehnpesoscheinen in der Tasche macht sich der fünfzigjährige Broder Broschkus, erfolgreicher hanseatischer Bankier, auf in den schwarzen Süden Kubas, um dort eine Frau zu suchen, in deren abgründig grünen Augen er die Erleuchtung seines Lebens erfuhr. Er hofft, die Frau, von der er nicht einmal den Namen weiß, anhand der Notizen auf jenen drei Geldscheinen wiederzufinden. Im Verlauf seiner Suche erkundet er erst das weltliche, zunehmend auch das religiöse Leben der Stadt: Hunde- und Hahnenkämpfe, Exhumationen und Hausschlachtungen üben eine rätselhafte Faszination auf ihn aus, zunehmend auch die afrokubanischen Kulte, denen man nicht nur in den Elendsvierteln anhängt. Ganz Santiago de Cuba scheint von etwas Dunklem beherrscht, über das zwar keiner reden will, auf dessen Spuren Broschkus nichtsdestoweniger immer häufiger stößt. Dass die gesuchte Frau damit in Verbindung stehen könnte, wird auch ihm bald klar; wie sehr sie freilich Werkzeug oder gar Inkarnation des Bösen ist, ahnt er nicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Im Schweinsmaul wartet eine neue Welt
Kuba kesselt: Matthias Politycki gönnt sich und Nietzsche eine Sause mit dem "Herrn der Hörner" / Von Sandra Kerschbaumer
Es ist ein Höllenspektakel: Schrille Blechbläser treiben den Gästen den Schweiß auf die Stirn. Ein Mann schlägt mit Lust auf einen Pferdeschädel ein, die Kiefer des toten Tieres rasseln. Dämmerig ist es, ganz im Gegensatz zum gleißenden kubanischen Licht vor der Tür der Kneipe, in die es Broder Broschkus verschlagen hat. Der Protagonist von Matthias Polityckis jüngstem Roman hält sich an seiner Bierdose fest, ein deutscher Urlauber in der Karibik, vor dem Wendepunkt seines Lebens. Denn nun sieht er zwei Frauen tanzen, selbstvergessen und anmutig. Eine Hand zieht ihn zu sich. Broschkus kann dem Rhythmus nicht folgen. Im Tanz sieht er die Augen der Frau: ein grüner Glanz und in der Mitte der Iris ein feiner Riß, ein fahler Fleck. Diese Augen kann Broschkus nicht vergessen. Sie sind wie dieses Buch: kraftvoll sinnlich mit einigen fahlen Stellen.
Der Autor des "Weiberromans", ein Mann von fünfzig Jahren, schildert in seiner über siebenhundert Seiten starken, üppig wuchernden Geschichte einen blassen Hamburger Prokuristen, der sein bisheriges Leben hinter sich läßt. Eine saturierte westeuropäische Existenz streift er ab, in der die Lust mit der Krawatte verschnürt und durch distinguiertes Auftreten gebändigt ist. Ein "Bügelfaltenleben". Der überlegene Erzähler lächelt darüber milde und führt dem Leser die Schwächen des armen Helden vor. Das macht den Roman witzig, und Politycki kann witzig sein, das hat er mit seinem "Weiberroman" bewiesen. Man könnte die wohlgeordnete deutsche Welt, die Broder Broschkus verläßt, mit Friedrich Nietzsche apollinisch nennen. Denn Matthias Politycki hat ihr all die Attribute verliehen, die der Philosoph in seiner "Geburt der Tragödie" mit diesem Begriff verband, als er ihn zu einem archetypischen Muster erklärte: das Streben nach Harmonie und äußerer Form, das Bekenntnis zu rationaler Kühle und Klarheit.
In seinem karibischen Leben, das für Broder Broschkus mit dem Blick in die grünen Augen beginnt, sucht er die dionysische Lust, den Rausch, das Irrationale. Wenn er durch die Straßen Santiago de Cubas streift, spürt er die allgegenwärtige Macht des Eros im wiegenden Gang der Prostituierten. Die faulige Üppigkeit mancher Ecken erinnert von Ferne an Venedig. Ebenso wie die zunehmende Schlaffheit des Flaneurs an einen dortigen Spaziergänger denken läßt, den die Hitze ebenso erschöpft. Dennoch zieht die Lust am Erschaudern Broschkus in die Markthalle, wo er ins Dunkle eines offenen Schweinsmauls starrt. Mit vernähten Augenlidern liegt der abgehackte Kopf auf dem Tresen. Die Schweine werden in dieser Stadt auf den Balkonen gemästet und auf der Straße geschlachtet, mit einem Stoß durch den Hals in das Herz.
Matthias Politycki schildert den kubanischen Alltag sehr genau. Ein halbes Jahr hat er dort recherchiert. Er schildert die Not der unzähligen Bettler, den Mangel in jedem Haushalt und erklärt beides mit der Starre von Castros System, vor allem aber mit der Wirtschaftskrise und der Verschärfung der amerikanischen Sanktionen in den neunziger Jahren. Das Leben ist ein Kampf, in dem es sich mit allen Mitteln und unerbittlich durchzusetzen gilt. Gewalt und Härte aber schrecken Matthias Politycki nicht, denn für ihn sind sie Ausdruck eines ursprünglichen Lebenswillens. Auch hier folgt der Autor Friedrich Nietzsche, indem er diesmal auf den "Zarathustra" anspielt, auf die vitalistische Lebensphilosophie, die den einzigen Sinn im Leben darin sieht, sich machtvoll zu behaupten. Nietzsches "Stunde des großen Mittags" wird in diesem Buch zur Leitformel.
Überhaupt arbeitet Politycki mit Wiederholungen. Nicht nur einzelne markante Formulierungen kehren wieder, sondern ganze Szenen und Episoden. Immer wieder tritt Broschkus auf ein totes Tier, eine Taube, eine Katze. Immer wieder stürzt er von einer Treppe. Solche Momente gehören zum jüngst gemeinsam mit einigen Kollegen nicht sehr folgenreich formulierten Anspruch des Autors, einen nicht nur gesellschaftlich "relevanten", sondern auch "inszenierten Realismus" zu vertreten, der aus der Mitte des Lebens heraus mimetisch erzählt, ohne auf kunstvolle Effekte zu verzichten. Hier fallen für Politycki Positionen zusammen, die er selbst im Laufe seines Werks vertreten hat. Begann er doch vor bald zwanzig Jahren mit avantgardistischem Erzählen, bevor er sich mehr und mehr dem Realismus verschrieb. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die Mischung drastischer Umgangssprache mit spielerischen Wortschöpfungen und dem artifiziellen Einsatz von Wortmaterial, das an das achtzehnte Jahrhundert erinnert: "Gehülfen" und "Bauernbursch" muß man in Sätzen "gewärtig" sein, in denen oftmals das Hilfsverb unscheinbar ausgespart bleibt.
Bezeichnenderweise beruft sich Politycki auf den frühen und den späten Nietzsche, wenn er der müden Dekadenz der westlichen Welt die ursprüngliche Vitalität Kubas entgegenstellt. Das mittlere Werk, in dem sich Nietzsches feinere Analysen der Moderne und ihrer Mechanismen finden, spart er aus. Hier weist der atmosphärisch mitreißende und spannende Roman dann auch fahle und durchsichtige Stellen auf. Denn wie schon ungezählte Schriftsteller und Intellektuelle vor ihm reagiert der Autor auf die Modernisierung der westlichen Welt mit dem Ruf nach dem eigentlichen, dem ursprünglichen, dem ungeschiedenen Leben. Je komplexer die Moderne, desto größer die Hoffnung auf einen Horizont, vor dem sich alle Zweifel lösen: Wir bräuchten "ein runderneuertes Wertesystem, eine runderneuerte Moral und - ich wage es kaum zu sagen - einen vollkommen neuen Glauben", hat Politycki jüngst gesagt.
Deshalb läßt der Autor seinen Helden auf Kuba einen neuen Gott suchen. In einem Winkel der katholischen Kathedrale findet sich eine Treppe, die hinab in ein Gewölbe führt. Hier riecht es nach Verfaulendem, nach Parfüm und scharfem Alkohol. Der verwunderte Blick des Protagonisten streift ein Stierhorn, aus einem Topf ragen Knochen, Federn und Äste. Der dunkle Geruch stammt von einem halb verwesten Hühnerkopf, um den tausend kleine Fliegen tanzen. Es sind die Spuren der Santería, einer Verschmelzung des katholischen Volksglaubens mit den spirituellen Wurzeln der westafrikanischen Sklaven, die über Jahrhunderte ins Land gebracht wurden. Verehrt werden die Heiligen der katholischen Kirche zugleich als Götter der Santería. Das raunt der Koch der kargen Kneipe, in der Broschkus längst zwischen den Kubanern sitzt.
Hinter der Kneipe mit dem Koch und dem alten Zigarrendreher Ernesto, hinter dem Treiben auf den Straßen der Stadt mit ihren rastalockigen Dieben und Eisverkäufern erschließt sich die Welt afrokubanischer Religiosität. Broschkus stößt auf weitere Spielarten, wie Voodoo und Palo Monte, ihn lockt die geheime Ordnung hinter den Dingen. Schritt für Schritt wird er eingeweiht, nicht nur in das Geheimnis der Frau mit dem Riß in der Iris. Auch andere tragen rätselhafte Zeichen einer dunklen Macht. Das "Dunkle" ist in allem: im Diesseits wie im Jenseits. Um dem mächtigen und titelgebenden "Herrn der Hörner" zu begegnen, bedarf es schließlich der Initiation und des Schutzzaubers. Ähnlich wie in der Geschichte eines anderen Herrn, dem der Ringe, auf den Politycki dann auch mit topographischen Karten und einem ironischen Appendix zu den Figuren und Göttern des Romans anspielt. Der Gesang schwillt auf und ab. Die Trommeln schlagen lauter und härter, dazwischen afrikanische Gebete. Die Augen werden Broschkus verbunden, dann wird er mit geweihtem Wasser übergossen. Äste schlagen ihm um die Ohren, bevor eine Klinge in seine Schulter dringt, ein vertikaler und ein horizontaler Schnitt, in die Brust, zwischen die Zehen, Daumen und Zeigefinger. Das Blut läuft aus den Wunden.
Der Erzähler lächelt jetzt nicht mehr über den Protagonisten. Matthias Politycki hat sich zuletzt in Zeitungsessays darüber geäußert, daß unsere Kultur all jenen unterlegen sei, die ein starker Wille beseele, die noch eine "Gewißheit jenseits des Wissens" kennen, ein "kathartisches Erschauern vor dem Jenseitigen". Auch wir bräuchten ein neues Fundament. Wie aber soll sich ein solcher Glaube, einmal verloren, restituieren lassen? Welche Kosten es mit sich bringen kann, wenn man die modernen Prozesse der Entmythologisierung und der Pluralisierung rückgängig machen will, haben die politischen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts gezeigt. Auch deren Relikte finden sich in dem Land, das Matthias Politycki so berauschend schön beschreibt: Kuba.
Matthias Politycki: "Herr der Hörner". Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005. 736 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kuba kesselt: Matthias Politycki gönnt sich und Nietzsche eine Sause mit dem "Herrn der Hörner" / Von Sandra Kerschbaumer
Es ist ein Höllenspektakel: Schrille Blechbläser treiben den Gästen den Schweiß auf die Stirn. Ein Mann schlägt mit Lust auf einen Pferdeschädel ein, die Kiefer des toten Tieres rasseln. Dämmerig ist es, ganz im Gegensatz zum gleißenden kubanischen Licht vor der Tür der Kneipe, in die es Broder Broschkus verschlagen hat. Der Protagonist von Matthias Polityckis jüngstem Roman hält sich an seiner Bierdose fest, ein deutscher Urlauber in der Karibik, vor dem Wendepunkt seines Lebens. Denn nun sieht er zwei Frauen tanzen, selbstvergessen und anmutig. Eine Hand zieht ihn zu sich. Broschkus kann dem Rhythmus nicht folgen. Im Tanz sieht er die Augen der Frau: ein grüner Glanz und in der Mitte der Iris ein feiner Riß, ein fahler Fleck. Diese Augen kann Broschkus nicht vergessen. Sie sind wie dieses Buch: kraftvoll sinnlich mit einigen fahlen Stellen.
Der Autor des "Weiberromans", ein Mann von fünfzig Jahren, schildert in seiner über siebenhundert Seiten starken, üppig wuchernden Geschichte einen blassen Hamburger Prokuristen, der sein bisheriges Leben hinter sich läßt. Eine saturierte westeuropäische Existenz streift er ab, in der die Lust mit der Krawatte verschnürt und durch distinguiertes Auftreten gebändigt ist. Ein "Bügelfaltenleben". Der überlegene Erzähler lächelt darüber milde und führt dem Leser die Schwächen des armen Helden vor. Das macht den Roman witzig, und Politycki kann witzig sein, das hat er mit seinem "Weiberroman" bewiesen. Man könnte die wohlgeordnete deutsche Welt, die Broder Broschkus verläßt, mit Friedrich Nietzsche apollinisch nennen. Denn Matthias Politycki hat ihr all die Attribute verliehen, die der Philosoph in seiner "Geburt der Tragödie" mit diesem Begriff verband, als er ihn zu einem archetypischen Muster erklärte: das Streben nach Harmonie und äußerer Form, das Bekenntnis zu rationaler Kühle und Klarheit.
In seinem karibischen Leben, das für Broder Broschkus mit dem Blick in die grünen Augen beginnt, sucht er die dionysische Lust, den Rausch, das Irrationale. Wenn er durch die Straßen Santiago de Cubas streift, spürt er die allgegenwärtige Macht des Eros im wiegenden Gang der Prostituierten. Die faulige Üppigkeit mancher Ecken erinnert von Ferne an Venedig. Ebenso wie die zunehmende Schlaffheit des Flaneurs an einen dortigen Spaziergänger denken läßt, den die Hitze ebenso erschöpft. Dennoch zieht die Lust am Erschaudern Broschkus in die Markthalle, wo er ins Dunkle eines offenen Schweinsmauls starrt. Mit vernähten Augenlidern liegt der abgehackte Kopf auf dem Tresen. Die Schweine werden in dieser Stadt auf den Balkonen gemästet und auf der Straße geschlachtet, mit einem Stoß durch den Hals in das Herz.
Matthias Politycki schildert den kubanischen Alltag sehr genau. Ein halbes Jahr hat er dort recherchiert. Er schildert die Not der unzähligen Bettler, den Mangel in jedem Haushalt und erklärt beides mit der Starre von Castros System, vor allem aber mit der Wirtschaftskrise und der Verschärfung der amerikanischen Sanktionen in den neunziger Jahren. Das Leben ist ein Kampf, in dem es sich mit allen Mitteln und unerbittlich durchzusetzen gilt. Gewalt und Härte aber schrecken Matthias Politycki nicht, denn für ihn sind sie Ausdruck eines ursprünglichen Lebenswillens. Auch hier folgt der Autor Friedrich Nietzsche, indem er diesmal auf den "Zarathustra" anspielt, auf die vitalistische Lebensphilosophie, die den einzigen Sinn im Leben darin sieht, sich machtvoll zu behaupten. Nietzsches "Stunde des großen Mittags" wird in diesem Buch zur Leitformel.
Überhaupt arbeitet Politycki mit Wiederholungen. Nicht nur einzelne markante Formulierungen kehren wieder, sondern ganze Szenen und Episoden. Immer wieder tritt Broschkus auf ein totes Tier, eine Taube, eine Katze. Immer wieder stürzt er von einer Treppe. Solche Momente gehören zum jüngst gemeinsam mit einigen Kollegen nicht sehr folgenreich formulierten Anspruch des Autors, einen nicht nur gesellschaftlich "relevanten", sondern auch "inszenierten Realismus" zu vertreten, der aus der Mitte des Lebens heraus mimetisch erzählt, ohne auf kunstvolle Effekte zu verzichten. Hier fallen für Politycki Positionen zusammen, die er selbst im Laufe seines Werks vertreten hat. Begann er doch vor bald zwanzig Jahren mit avantgardistischem Erzählen, bevor er sich mehr und mehr dem Realismus verschrieb. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die Mischung drastischer Umgangssprache mit spielerischen Wortschöpfungen und dem artifiziellen Einsatz von Wortmaterial, das an das achtzehnte Jahrhundert erinnert: "Gehülfen" und "Bauernbursch" muß man in Sätzen "gewärtig" sein, in denen oftmals das Hilfsverb unscheinbar ausgespart bleibt.
Bezeichnenderweise beruft sich Politycki auf den frühen und den späten Nietzsche, wenn er der müden Dekadenz der westlichen Welt die ursprüngliche Vitalität Kubas entgegenstellt. Das mittlere Werk, in dem sich Nietzsches feinere Analysen der Moderne und ihrer Mechanismen finden, spart er aus. Hier weist der atmosphärisch mitreißende und spannende Roman dann auch fahle und durchsichtige Stellen auf. Denn wie schon ungezählte Schriftsteller und Intellektuelle vor ihm reagiert der Autor auf die Modernisierung der westlichen Welt mit dem Ruf nach dem eigentlichen, dem ursprünglichen, dem ungeschiedenen Leben. Je komplexer die Moderne, desto größer die Hoffnung auf einen Horizont, vor dem sich alle Zweifel lösen: Wir bräuchten "ein runderneuertes Wertesystem, eine runderneuerte Moral und - ich wage es kaum zu sagen - einen vollkommen neuen Glauben", hat Politycki jüngst gesagt.
Deshalb läßt der Autor seinen Helden auf Kuba einen neuen Gott suchen. In einem Winkel der katholischen Kathedrale findet sich eine Treppe, die hinab in ein Gewölbe führt. Hier riecht es nach Verfaulendem, nach Parfüm und scharfem Alkohol. Der verwunderte Blick des Protagonisten streift ein Stierhorn, aus einem Topf ragen Knochen, Federn und Äste. Der dunkle Geruch stammt von einem halb verwesten Hühnerkopf, um den tausend kleine Fliegen tanzen. Es sind die Spuren der Santería, einer Verschmelzung des katholischen Volksglaubens mit den spirituellen Wurzeln der westafrikanischen Sklaven, die über Jahrhunderte ins Land gebracht wurden. Verehrt werden die Heiligen der katholischen Kirche zugleich als Götter der Santería. Das raunt der Koch der kargen Kneipe, in der Broschkus längst zwischen den Kubanern sitzt.
Hinter der Kneipe mit dem Koch und dem alten Zigarrendreher Ernesto, hinter dem Treiben auf den Straßen der Stadt mit ihren rastalockigen Dieben und Eisverkäufern erschließt sich die Welt afrokubanischer Religiosität. Broschkus stößt auf weitere Spielarten, wie Voodoo und Palo Monte, ihn lockt die geheime Ordnung hinter den Dingen. Schritt für Schritt wird er eingeweiht, nicht nur in das Geheimnis der Frau mit dem Riß in der Iris. Auch andere tragen rätselhafte Zeichen einer dunklen Macht. Das "Dunkle" ist in allem: im Diesseits wie im Jenseits. Um dem mächtigen und titelgebenden "Herrn der Hörner" zu begegnen, bedarf es schließlich der Initiation und des Schutzzaubers. Ähnlich wie in der Geschichte eines anderen Herrn, dem der Ringe, auf den Politycki dann auch mit topographischen Karten und einem ironischen Appendix zu den Figuren und Göttern des Romans anspielt. Der Gesang schwillt auf und ab. Die Trommeln schlagen lauter und härter, dazwischen afrikanische Gebete. Die Augen werden Broschkus verbunden, dann wird er mit geweihtem Wasser übergossen. Äste schlagen ihm um die Ohren, bevor eine Klinge in seine Schulter dringt, ein vertikaler und ein horizontaler Schnitt, in die Brust, zwischen die Zehen, Daumen und Zeigefinger. Das Blut läuft aus den Wunden.
Der Erzähler lächelt jetzt nicht mehr über den Protagonisten. Matthias Politycki hat sich zuletzt in Zeitungsessays darüber geäußert, daß unsere Kultur all jenen unterlegen sei, die ein starker Wille beseele, die noch eine "Gewißheit jenseits des Wissens" kennen, ein "kathartisches Erschauern vor dem Jenseitigen". Auch wir bräuchten ein neues Fundament. Wie aber soll sich ein solcher Glaube, einmal verloren, restituieren lassen? Welche Kosten es mit sich bringen kann, wenn man die modernen Prozesse der Entmythologisierung und der Pluralisierung rückgängig machen will, haben die politischen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts gezeigt. Auch deren Relikte finden sich in dem Land, das Matthias Politycki so berauschend schön beschreibt: Kuba.
Matthias Politycki: "Herr der Hörner". Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005. 736 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kerschbaumer ist begeistert. Atmosphärisch mitreißend und spannend fand sie diesen Roman. Nicht nur, weil er mit Witz die Geschichte eines Hamburger Prokuristen erzähle, der in Kuba seine saturierte, westeuropäische Existenz abstreift, sondern auch weil das karibische Land selbst "berauschend schön" beschrieben sei. Matthias Polityckis Protagonist suche in der Karibik "die dionysische Lust", so die Rezensentin, die hier eine Verwandtschaft zu Friedrich Nietzsche sieht. Denn Politycki berufe sich eindeutig auf dessen Früh- und Spätwerk, wenn er dem schlaffen Westen die "ursprüngliche Vitalität" entgegensetze. Formal interessant findet die Rezensentin auch die Sprache des Romans, aus ihrer Sicht eine Mixtur aus Umgangssprache und Wortspielen sowie Wendungen, die sie ans achtzehnte Jahrhundert erinnern. Allerdings hat der Roman ihrer Ansicht nach auch Schwächen, die ihr besonders dort auffallen, wo der Autor die Moderne durch das vermeintlich Ursprüngliche zu ersetzen sucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Das Ewig-Karibische
Zwischen Teufeln und Manschettenknöpfen: Matthias Politycki schickt ein deutsches Faust-Double nach Kuba
Von Jörg Magenau
Konsumzurückhaltung, Eigenheimzulage, Mehrwertsteuererhöhung: Die Zukunft stellt sich hierzulande als Verwaltungsfrage dar. Matthias Politycki hat unlängst mit einem flammenden Essay in der „Zeit” dagegen protestiert, das Leben von Prozentzahlen bestimmen zu lassen. Da sehnte er ein Selbstverständnis herbei, „das aus Verbrauchern wieder Menschen macht, Menschen, die ihr Glück jenseits von Renditeerwartungen und Steuervorteilen suchen.” Er scheute sich nicht, von „Werten” zu sprechen, von Glaube, Liebe, Hoffnung, diagnostizierte aber den baldigen Untergang des „weißen Mannes” und die hoffnungslose Unterlegenheit des „alten Europa” gegenüber all den virilen, lebensfrohen, dunkelhäutigeren Kulturen dieser Erde. Denn dort, so Politycki, gibt es noch das Authentische, Körperliche, Traditionsverhaftete. Echtes Leben: Blut statt Wein und Magie anstelle einer müde gewordenen Aufklärung.
Polityckis opulenter, funkelnder, sprachbesessener Roman „Herr der Hörner” gerät nach diesem Vorspiel in Gefahr, als bloßer Thesenroman gelesen zu werden. Schließlich geht es in diesem Buch um den Hamburger Bankier Dr. Broder Broschkus, der sich in den letzten Stunden eines Kuba-Urlaubs in ein Mädchen mit „honigfarbener Haut” vergafft. Nach ein paar Monaten in der Heimat beschließt er, Frau und Stieftochter zu verlassen und sich für immer nach Santiago, in den schwarzen Süden Kubas, zu begeben. Dort macht er sich auf die Suche nach der Schönen, die ihm drei Geldscheine mit rätselhaften Zeichen zugespielt hat.
Politycki erzählt vom Absturz seines Helden - oder vielmehr von seiner Errettung, je nach dem, aus welcher Perspektive man seine Abenteuer betrachtet. In grandioser Genauigkeit schildert er die Alltagswelt in Santiago, den Staub, die gelben Hunde, die Katzenkadaver, die strengen Gerüche, den Tag-und-Nacht-Lärm, die vielfältig verschwitzten Hemden, die Bettler vor der Kathedrale, die Schlangen vor den Geschäften, die überlaufenden Wassertanks auf den Dächern, die Menschen der Nachbarschaft, die unentwegt „mentiras” austauschen - ein Begriff, der mit „Lüge” unzutreffend übersetzt wäre. Vielmehr handelt es sich „um kleine Abweichungen von der Wahrheit, um sich für einen Moment über die alltäglichen Gewissheiten zu erheben und ein bisschen gute Laune zu erzeugen - so wie man sich im alten Europa Witze erzählt”. Spuren sozialistischer Ideologie finden sich nur noch in den Tüten des Erdnussverkäufers, die aus Buchseiten von Lenins Werken gefaltet sind.
Langsam, fast unmerklich, kommt unter der geschäftigen Oberfläche des Lebens eine Tiefendimension aus religiösen Geheimnissen und aus Gerüchten zum Vorschein. Widerstandslos ergibt sich der atheistisch und pazifistisch orientierte Deutsche dem Aberglauben, fühlt sich zum urwüchsigen Brauchtum der afrokaribischen Religionen hingezogen. Zunächst nähert er sich der eher heiteren Santería mit ihren 450 Heiligen an - das ist dem Katholiken nicht unvertraut. Dann verfällt er dem finsteren, blutigen Palo Monte. Beide Varianten des Glaubens sind Todeskulte. Nichts ist so echt, so herausfordernd wie der Tod.
Broschkus goutiert plötzlich blutige Hahnen- und Hundekämpfe. Fasziniert beobachtet er das Schlachten eines der fetten, schwarze Schweine, die von den Kubanern auf Balkons oder in Dachverschlägen gemästet werden. Er nimmt an Blutopferritualen teil, sammelt Knochen und Schädel von Toten auf dem Friedhof und hantiert mit Hühnerköpfen. „Das Helle vergeht, aber das Dunkle, das bleibt”, lautet der Leitsatz des Romans, und so ist es nicht verwunderlich, dass der „Herr der Hörner” sich als Teufel im karibischen Kostüm entpuppt.
Dr. Broder Broschkus ist ein touristisch infizierter Dr. Faust der globalisierten Welt, der bereit ist, seine Seele zu verpfänden, um „etwas Stärkeres als Logik, als Vernunft und Verstand” zu finden. Allerdings ist er ein schwacher Faust, der es zwar mit dem Teufel aufnimmt, aber nichts eigenes zu verteidigen hat. Von seinem früheren Leben erfährt man kaum etwas. Berufstätigkeit und Ehe fallen von ihm ab, als hätten sie nichts bedeutet. Darin liegt das zentrale Problem dieses Romans: Ein Konflikt um neue und alte Werte kann nicht entstehen, wenn die Verwandlung des Helden allzu reibungslos verläuft.
Broschkus bedingungsloser Bereitschaft zur Selbstauslöschung steht allerdings das strenge Formbewusstsein des Erzählers entgegen. Es konterkariert den traurigen Helden durch einen leichten, tänzelnden Tonfall, der bei allem Glänzen- und Blendenwollen, bei aller strotzenden Sprachpotenz, unüberhörbar ironisch bleibt. Politycki hat schon im „Weiberroman” einen Manierismus der Sprache aus Wortschöpfungen und kunstvoll integrierter Umgangssprache entwickelt. Im „Herr der Hörner” bewährt sich der artifiziell saloppe Stil als Methode, sich in der Welt zu behaupten: „Aber so genannte Schweinereien, die interessierten ihn nicht, die waren ihm bereits in seinem Bügelfaltenleben ein Graus gewesen. Allein um die Ästhetisierung der Begierde wars ihm gegangen - ein Geschlechtsakt so schön wie ein oval geschnittener Manschettenknopf - um Harmonie der Seufzer wars ihm gegangen, nicht um das kakophone Gequieke, wenn ein Finger in die falsche Körperöffnung geriet.”
Politycki geht es um die Ästhetisierung auch des Archaischen. Aber wenn sein Roman schließlich in einem bizarren Menschenopfer gipfelt, behält die Ironie die Oberhand. So sehr es den armen Helden hinabzieht in den Orkus von Blut und Magie, so unberührt heiter und formbewusst bleibt die Sprache des Romans. Die Stimme des „weißen Mannes” ist eben doch noch nicht verstummt. Die Dialektik der Aufklärung geht weiter, auch wenn Politycki ihr Ende proklamiert.
Matthias Politycki
Herr der Hörner
Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2005. 736 Seiten, 25 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Zwischen Teufeln und Manschettenknöpfen: Matthias Politycki schickt ein deutsches Faust-Double nach Kuba
Von Jörg Magenau
Konsumzurückhaltung, Eigenheimzulage, Mehrwertsteuererhöhung: Die Zukunft stellt sich hierzulande als Verwaltungsfrage dar. Matthias Politycki hat unlängst mit einem flammenden Essay in der „Zeit” dagegen protestiert, das Leben von Prozentzahlen bestimmen zu lassen. Da sehnte er ein Selbstverständnis herbei, „das aus Verbrauchern wieder Menschen macht, Menschen, die ihr Glück jenseits von Renditeerwartungen und Steuervorteilen suchen.” Er scheute sich nicht, von „Werten” zu sprechen, von Glaube, Liebe, Hoffnung, diagnostizierte aber den baldigen Untergang des „weißen Mannes” und die hoffnungslose Unterlegenheit des „alten Europa” gegenüber all den virilen, lebensfrohen, dunkelhäutigeren Kulturen dieser Erde. Denn dort, so Politycki, gibt es noch das Authentische, Körperliche, Traditionsverhaftete. Echtes Leben: Blut statt Wein und Magie anstelle einer müde gewordenen Aufklärung.
Polityckis opulenter, funkelnder, sprachbesessener Roman „Herr der Hörner” gerät nach diesem Vorspiel in Gefahr, als bloßer Thesenroman gelesen zu werden. Schließlich geht es in diesem Buch um den Hamburger Bankier Dr. Broder Broschkus, der sich in den letzten Stunden eines Kuba-Urlaubs in ein Mädchen mit „honigfarbener Haut” vergafft. Nach ein paar Monaten in der Heimat beschließt er, Frau und Stieftochter zu verlassen und sich für immer nach Santiago, in den schwarzen Süden Kubas, zu begeben. Dort macht er sich auf die Suche nach der Schönen, die ihm drei Geldscheine mit rätselhaften Zeichen zugespielt hat.
Politycki erzählt vom Absturz seines Helden - oder vielmehr von seiner Errettung, je nach dem, aus welcher Perspektive man seine Abenteuer betrachtet. In grandioser Genauigkeit schildert er die Alltagswelt in Santiago, den Staub, die gelben Hunde, die Katzenkadaver, die strengen Gerüche, den Tag-und-Nacht-Lärm, die vielfältig verschwitzten Hemden, die Bettler vor der Kathedrale, die Schlangen vor den Geschäften, die überlaufenden Wassertanks auf den Dächern, die Menschen der Nachbarschaft, die unentwegt „mentiras” austauschen - ein Begriff, der mit „Lüge” unzutreffend übersetzt wäre. Vielmehr handelt es sich „um kleine Abweichungen von der Wahrheit, um sich für einen Moment über die alltäglichen Gewissheiten zu erheben und ein bisschen gute Laune zu erzeugen - so wie man sich im alten Europa Witze erzählt”. Spuren sozialistischer Ideologie finden sich nur noch in den Tüten des Erdnussverkäufers, die aus Buchseiten von Lenins Werken gefaltet sind.
Langsam, fast unmerklich, kommt unter der geschäftigen Oberfläche des Lebens eine Tiefendimension aus religiösen Geheimnissen und aus Gerüchten zum Vorschein. Widerstandslos ergibt sich der atheistisch und pazifistisch orientierte Deutsche dem Aberglauben, fühlt sich zum urwüchsigen Brauchtum der afrokaribischen Religionen hingezogen. Zunächst nähert er sich der eher heiteren Santería mit ihren 450 Heiligen an - das ist dem Katholiken nicht unvertraut. Dann verfällt er dem finsteren, blutigen Palo Monte. Beide Varianten des Glaubens sind Todeskulte. Nichts ist so echt, so herausfordernd wie der Tod.
Broschkus goutiert plötzlich blutige Hahnen- und Hundekämpfe. Fasziniert beobachtet er das Schlachten eines der fetten, schwarze Schweine, die von den Kubanern auf Balkons oder in Dachverschlägen gemästet werden. Er nimmt an Blutopferritualen teil, sammelt Knochen und Schädel von Toten auf dem Friedhof und hantiert mit Hühnerköpfen. „Das Helle vergeht, aber das Dunkle, das bleibt”, lautet der Leitsatz des Romans, und so ist es nicht verwunderlich, dass der „Herr der Hörner” sich als Teufel im karibischen Kostüm entpuppt.
Dr. Broder Broschkus ist ein touristisch infizierter Dr. Faust der globalisierten Welt, der bereit ist, seine Seele zu verpfänden, um „etwas Stärkeres als Logik, als Vernunft und Verstand” zu finden. Allerdings ist er ein schwacher Faust, der es zwar mit dem Teufel aufnimmt, aber nichts eigenes zu verteidigen hat. Von seinem früheren Leben erfährt man kaum etwas. Berufstätigkeit und Ehe fallen von ihm ab, als hätten sie nichts bedeutet. Darin liegt das zentrale Problem dieses Romans: Ein Konflikt um neue und alte Werte kann nicht entstehen, wenn die Verwandlung des Helden allzu reibungslos verläuft.
Broschkus bedingungsloser Bereitschaft zur Selbstauslöschung steht allerdings das strenge Formbewusstsein des Erzählers entgegen. Es konterkariert den traurigen Helden durch einen leichten, tänzelnden Tonfall, der bei allem Glänzen- und Blendenwollen, bei aller strotzenden Sprachpotenz, unüberhörbar ironisch bleibt. Politycki hat schon im „Weiberroman” einen Manierismus der Sprache aus Wortschöpfungen und kunstvoll integrierter Umgangssprache entwickelt. Im „Herr der Hörner” bewährt sich der artifiziell saloppe Stil als Methode, sich in der Welt zu behaupten: „Aber so genannte Schweinereien, die interessierten ihn nicht, die waren ihm bereits in seinem Bügelfaltenleben ein Graus gewesen. Allein um die Ästhetisierung der Begierde wars ihm gegangen - ein Geschlechtsakt so schön wie ein oval geschnittener Manschettenknopf - um Harmonie der Seufzer wars ihm gegangen, nicht um das kakophone Gequieke, wenn ein Finger in die falsche Körperöffnung geriet.”
Politycki geht es um die Ästhetisierung auch des Archaischen. Aber wenn sein Roman schließlich in einem bizarren Menschenopfer gipfelt, behält die Ironie die Oberhand. So sehr es den armen Helden hinabzieht in den Orkus von Blut und Magie, so unberührt heiter und formbewusst bleibt die Sprache des Romans. Die Stimme des „weißen Mannes” ist eben doch noch nicht verstummt. Die Dialektik der Aufklärung geht weiter, auch wenn Politycki ihr Ende proklamiert.
Matthias Politycki
Herr der Hörner
Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2005. 736 Seiten, 25 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH