„Alle Fehler in diesem Buch sind meine. Wolfgang Herrndorf macht keine.“ (aus der Danksagung des Autors)
TSCHICK. Nein, ich schreibe nicht über Tschick. Aber mit Tschick hat es für mich begonnen. Diese befreiende, leichte, tiefe Geschichte einer Jugend, die man sich selbst schreiben würde, wenn
man zurück auf Anfang spulen könnte. Wolfgang Herrndorf ist schon todkrank als er Tschick schreibt…mehr„Alle Fehler in diesem Buch sind meine. Wolfgang Herrndorf macht keine.“ (aus der Danksagung des Autors)
TSCHICK. Nein, ich schreibe nicht über Tschick. Aber mit Tschick hat es für mich begonnen. Diese befreiende, leichte, tiefe Geschichte einer Jugend, die man sich selbst schreiben würde, wenn man zurück auf Anfang spulen könnte. Wolfgang Herrndorf ist schon todkrank als er Tschick schreibt und beginnt zeitgleich mit seinem Blog „Arbeit und Struktur“, in dem er über drei Jahre ein wohl einzigartiges Zeugnis der letzten Lebens- und Schaffensjahre eines Künstlers verfasst. 2015, als ich ihm begegnete war er schon zwei Jahre tot. Nach der Lektüre von „Arbeit und Struktur“ habe ich um ihn getrauert, als wäre ein Freund gestorben.
Anlässlich des 10. Todestages lässt der Literaturredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ Tobias Rüther ihn mit der Biografie HERRNDORF wieder auferstehen. Ich bin aufgeregt. Wie wird die Begegnung verlaufen? Werde ich ihn wiedererkennen?
„Er kann das, was aus der Lektüre und dem Leben in seine Stoffe einfließt, so präzise zu Text formen, dass man die Übergänge nicht mehr sieht. Und zugleich Szenen schreiben, die für sich stark sind, die wirken ohne Kenntnis der Referenzen.“ (S.178)
Ich werde ihn neu entdecken. Ich werde den Kunststudenten, Maler, Zeichner und Illustrator Wolfgang Herrndorf kennenlernen, der als bildender Künstler begann, aus dem der Schriftsteller geboren wurde. Ich werde den Rebellen Herrndorf kennenlernen, der sich NIE darum scherte, was andere von ihm denken, immer gegen das Establishment gerichtet war, mit dem „Wunsch, zu den Außenseitern zu gehören, sich dann aber unter diesen Außenseitern auch wieder nur selbst als Außenseiter zu fühlen.“ (S.75). Ich werde mich noch stärker mit ihm verbunden fühlen, diese zwanghafte besessene Konsequenz verstehen, mit der er alles im Leben dem Schaffen, dem Denken, der Selbstüberprüfung untergeordnet hat.
„Im Leben des Künstlers Herrndorf ist alles ein einziger großer Text.“ (S. 259)
Tobias Rüther sei Herrndorf nie persönlich begegnet, aber man spürt: er liebt ihn. Er schreibt – und das glaub ich ihm sofort -, dass er bei der Todesnachricht geweint hat. Er stellt Herrndorf in seiner Distanziertheit dar, die er sowohl seinen Mitmenschen als auch sich selbst gegenüber bewahrt. Und doch stellt er ihn in die Mitte von Menschen, die ihm sehr liebevoll und wohlwollend zugetan sind, die ihm in die Seele schauen, auch wenn Herrndorf selbst ihre Existenz leugnet. Sehr detailversessen lässt er das Leben, von der Kindheit in Norddeutschland über Nürnberg bis Berlin und bis in seine letzten Stunden vor uns auferstehen. Man merkt ihm den Spaß an Herrndorfs Humor an, den er aufgreift, oft muss ich laut lachen. Er lässt uns mit dem Hasardeur, dem keine Kuh heilig ist über die Klingen springen. Er taucht tief in das Werk ein, sowohl in das darstellende als auch in das literarische, seziert, rezensiert, vergleicht und zeichnet nebenbei das Bild einer Wende der deutschen Literatur Anfang der 2000er, die in Berlin ihren Ursprung nahm.
Herrndorf ist wohl untrennbar mit seinem öffentlichen Sterben und der Frage verbunden, wie sein Schaffen und seine Popularität davon geprägt wurden. Natürlich verändert das Wissen um den nahen Tod ein Leben komplett und hat bei Herrndorf schließlich auch seine kreativste und erfolgreichste Schaffensphase eingeleitet. Und natürlich macht das Wissen darum auch etwas mit der Umwelt. Rüther hat diesen Aspekt einfühlsam und wertschätzend eingeordnet, aber nicht bewertet. Es ist eben dieses Leben. Von dem ich erneut Abschied nehmen muss. Um das ich erneut trauern muss. Das ich in mir trage, das mit mir verschmolzen ist mit all seinen Widersprüchen und Widerständen, die in mir ihr Werk tun. Ich spüre so viel von ihm in mir, dass es weh tut.
Ich kann nicht anders als Wolfgang Herrndorfs Werk zu empfehlen. Herrndorf war sehr öffentlichkeitsscheu, hat kaum Interviews gegeben, kaum Lesungen abgehalten. Man wird keinen besseren Eindruck von seiner Kunst und seinem Leben gewinnen als mit dieser Biografie. Auch dafür meine Empfehlung.