Manja ist 17 Jahre alt und lebt im Leipzig der 1980er Jahre. Ihre beste Freundin Maxie und sie schwänzen die Schule, brechen in Schrebergärten ein und treffen sich im Freibad oder auf dem Rummel mit Jungs, bis Manja im Zimmer des Vertragsarbeiters Manuel von der Volkspolizei erwischt wird und auf die Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten kommt. Eingewoben in den Roman sind auch Erlebnisse von Lilo, die in den 1940er Jahren an diesem Ort festgehalten wurde, da sie mit ihrem Vater für den kommunistischen Widerstand gearbeitet hat, und der Sozialarbeiterin Robin, die in den 2010er Jahren in diesem Haus – nun eine Unterkunft für Geflüchtete – tätig ist. Der Roman »Herumtreiberinnen« erzählt die Geschichten von drei jungen Frauen aus verschiedenen Zeiten und stellt die Frage, welchen Einfluss diese Zeit und die jeweilige Staatsform auf ihre Leben hatten. Ein Haus in der Leipziger Lerchenstraße ist das verbindende Element der drei Erzählstränge.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Nils Kahlefendt liest Bettina Wilperts Roman mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits wird die Geschichte der Protagonistin Manja, die wegen vermeintlicher Geschlechtskrankheiten in der DDR in eine Klinik zwangseingewiesen wird, mit großer Intensität und Eindringlichkeit bis zur Schmerzgrenze erzählt, lobt er. Andererseits verkommen die Nebenfiguren aus Sicht des Rezensenten zu fahlen Typen, erklärt er. Sowohl die Kommunistin im Untergrund während des Nationalsozialismus als auch die Sozialarbeiterin, die sich im Hier und Heute für Geflüchtete engagiert, werden rasch und mit wenig sprachlicher Empathie abgehandelt, bedauert der Rezensent, sodass deren Leben und Beziehungen Komplexität und Tiefe vermissen lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2022Wenn im Körper Chaos herrscht
Bettina Wilpert fasst ein heißes Eisen literarisch an: die Zwangseinweisung von Frauen in DDR-Kliniken wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten.
Du musst dich entscheiden", sagt die rebellische Maxi zu ihrer Freundin Manja: "Reisende oder Kosmonautin. Beides geht nicht." Bislang war die siebzehnjährige Oberschülerin Manja eher eine graue Maus. Als sie, wir befinden uns im heißen Juni 1983, mit dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Manuel schläft und bei einer Volkspolizei-Razzia in dessen Wohnheimzimmer aufgegriffen wird, kippt ihr Leben in die Katastrophe: Statt nach Hause verfrachten die Beamten das minderjährige Mädchen in die geschlossene Venerologische Station in Leipzig-Thonberg, Lerchenstraße.
Für die Ich-Erzählerin Manja, die zunächst nicht begreift, was ihr angetan wird, beginnt ein gut vierwöchiges Martyrium, dessen erste Stunden in schmerzender slow motion geschildert werden. Manja muss sich ausziehen, mit eisigem Wasser abspritzen und in einen grauen Anstaltskittel stecken lassen, ihre Haare werden geschoren, festgeschnallt auf einem Stuhl für gynäkologische Untersuchungen, wird ihr brutal ein Abstrich genommen. In dem Maße, wie es Manja in den folgenden Tagen körperlich besser geht, ihr Verstand sich schärft, tritt - "wie die Besatzung eines Schiffes" - das Personal der Station in den Blick: auf der einen Seite die sadistische Stubenälteste Berta oder der tyrannische Stationsarzt Dr. Höcks, auf der anderen Manjas Leidensgenossinnen wie Sascha, die zum Balaton trampen will und schon in Karl-Marx-Stadt von der Bahnpolizei "zugeführt" wird, oder die Prostituierte Marion, die für die Stasi schnüffeln soll und nach ihrem Ausstieg in die Lerchenstraße eingewiesen wird. Dem hierarchisch organisierten Terrorsystem auf der Station kann sich auch Manja nicht entziehen - als eine der Frauen gequält wird, wird sie zur Mittäterin.
Bettina Wilpert, deren 2018 im Verbrecher Verlag erschienener Debütroman "nichts, was uns passiert" unter anderem mit dem "aspekte"-Literaturpreis und dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet wurde, dockt mit "Herumtreiberinnen" eng an historische Fakten an: Tausende Mädchen und Frauen vom zwölften Lebensjahr an wurden zu DDR-Zeiten wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten in Kliniken zwangseingewiesen. Krank waren jedoch die wenigsten von ihnen. In einem System aus Gewalt und Demütigung sollten "Asoziale" und "Herumtreiberinnen" zu "sozialistischen Persönlichkeiten" geformt werden. Medizinhistoriker haben inzwischen Zeitzeugen interviewt und Patientenakten ausgewertet. Das Wirken gewissenloser Mediziner wie Gerd Münx, langjähriger Chef der "Tripperburg" in Halle/Saale, und die Traumata der Opfer haben Gerichte beschäftigt und sind Gegenstand von Monographien und Fachtagungen. Von Rehabilitierung, gar Entschädigung der einst Gequälten im größeren Maßstab kann keine Rede sein.
Das Vorbild für die Lerchenstraße des Romans findet sich in der Leipziger Riebeckstraße 63: In dem roten Klinkerbau war in den Achtzigerjahren eine der letzten geschlossenen Venerologischen Stationen im Süden der DDR untergebracht. Seit 2019 engagiert sich ein Initiativkreis mit Veranstaltungen und Ausstellungen für die Entwicklung eines lebendigen Erinnerungsorts. Die Geschichte des Areals ist geeignet, jeden Roman alt aussehen zu lassen: Als "Zwangsarbeitsanstalt zu St. Georg" 1892 eröffnet, entwickelte sich der Komplex in der NS-Zeit zur Verteilerstelle für Fremd- und Zwangsarbeiter, Zwischenstation für Juden auf dem Weg in die Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Polizeiersatzgefängnis für politische Gefangene. 1946 wurde hier auf Anordnung der sowjetischen Militäradministration ein "Fürsorgeheim" für Geschlechtskranke eingerichtet, ein Vorläufer der Venerologischen Station. Heute befindet sich auf dem Gelände unter anderem eine Unterkunft für Geflüchtete.
Verständlich, dass Wilpert ihre Lerchenstraße als Hotspot von Entmündigung, Zwang und Repression über die politischen Systeme hinweg zeichnen will. So verknüpft sie Manjas durch die Ich-Form durchaus Sogkraft entwickelnde Geschichte assoziativ mit zwei auktorial erzählten Nebensträngen. Doch weder für Lilo, die durch ihren Vater in den kommunistischen Widerstand gerät und im Januar 1945 im Keller der Lerchenstraße interniert wird, noch für die Sozialarbeiterin Robin, die dort siebzig Jahre später in der Geflüchtetenhilfe arbeitet, findet Wilpert eine angemessene Sprache. Durch Lilos Leben, immerhin fast zwanzig Jahre, werden wir im Schnelldurchgang gezerrt; Kindheit, Schule, politische Sozialisation und erste Lieben - das alles schnurrt sprachlich wenig ambitioniert, fast lustlos ab. Bezeichnend, wenn ein Satz grundlos im "u.s.w." auströpfelt oder die Beziehung eines kommunistischen Paars in finsteren Nazi-Zeiten wie im Anamnese-Block eines Psychiaters skizziert wird: "Zwischen den beiden lag Vertrautheit, obwohl sie sich nicht berührten oder interagierten . . ." Und Robin, die gern so wäre wie Carry Brownstein, Gitarristin der Riot Grrrl-Band Sleater Kinney, die in einer festen Affäre lebt und fürchtet, mit einer Schwangerschaft die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, ist eigentlich eine interessante, vielschichtige Figur - im Romankonstrukt wird sie zur Pappkameradin degradiert, die Patientinnenakten aus dem Jahr 1983 findet, sich im Geschichtsverein engagiert und am Ende ohnmächtig einer Abschiebung von Heiminsassen beiwohnen muss. Merke: Geschichte wiederholt sich.
Dass DDR-Volkspolizisten in den Achtzigerjahren wohl nur noch von Gerhard Löwenthal und westdeutschen Touristen "Vopos" genannt wurden und die erste Single der Sex Pistols eben nicht "Anarchy for the U.K." heißt - geschenkt. Die kleinen Schludrigkeiten fuchsen jedoch umso mehr, da Bettina Wilpert an anderer Stelle durchaus aufblitzen lässt, was sie kann. In einer nüchtern protokollierten, damit umso eindrücklicheren Sitzungsszene der "Gefährdetenkommission" beim Rat der Stadt etwa lässt sie uns den Schreibtischtäterinnen und -tätern über die Schulter schauen, die von "Ekelzulage" und "HwG-Listen" schwadronieren. Den weggesperrten Frauen gibt ein im Fortgang des Romans an Intensität zunehmender, alle Zeitebenen überblendender Chor "Wir, in der Lerchenstraße" Stimme. Die stärkste Szene des Romans zeigt die mit Schlafentzug isolierte Manja in einem Wachtraum von ihrer Freundin Maxie und Valentina Tereschkowa, der ersten Frau im Weltraum, die ihr als Gefährtin jenseits aller Propaganda-Überhöhung nahe rückt: "In ihrer Kapsel über der Erde kotzte Walja . . . Ihr Körper war Chaos. Die Schwerelosigkeit wirbelte Leib und Seele umeinander . . . Ich träumte, ich war wach." Nein, diese Manja wird nie mehr bloße "Reisende" sein, auch wenn sie das rational noch nicht erfassen kann.
Der Roman endet mit einer Selbstermächtigungsutopie, die einen Assoziationsraum bis hin zu Ulrikes Meinhofs Fernsehfilm über die autoritären Methoden der "Fürsorgeerziehung" in den frühen Siebzigern der alten Bundesrepublik öffnet. Wie in ihrem Debüt, das Theaterbühnen erobert hat und derzeit von der ARD verfilmt wird, geht Bettina Wilpert auch mit "Herumtreiberinnen" dorthin, wo es weh tut. Ihr Roman holt die Demütigungen und Traumatisierungen, die Frauen und Mädchen in der DDR durch ein politisch in Dienst genommenes "Gesundheitswesen" zugefügt wurden, aus der Schweigezone. Eine geglückte literarische Bearbeitung dieses Komplexes steht noch aus. NILS KAHLEFENDT
Bettina Wilpert:
"Herumtreiberinnen". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022. 265 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bettina Wilpert fasst ein heißes Eisen literarisch an: die Zwangseinweisung von Frauen in DDR-Kliniken wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten.
Du musst dich entscheiden", sagt die rebellische Maxi zu ihrer Freundin Manja: "Reisende oder Kosmonautin. Beides geht nicht." Bislang war die siebzehnjährige Oberschülerin Manja eher eine graue Maus. Als sie, wir befinden uns im heißen Juni 1983, mit dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Manuel schläft und bei einer Volkspolizei-Razzia in dessen Wohnheimzimmer aufgegriffen wird, kippt ihr Leben in die Katastrophe: Statt nach Hause verfrachten die Beamten das minderjährige Mädchen in die geschlossene Venerologische Station in Leipzig-Thonberg, Lerchenstraße.
Für die Ich-Erzählerin Manja, die zunächst nicht begreift, was ihr angetan wird, beginnt ein gut vierwöchiges Martyrium, dessen erste Stunden in schmerzender slow motion geschildert werden. Manja muss sich ausziehen, mit eisigem Wasser abspritzen und in einen grauen Anstaltskittel stecken lassen, ihre Haare werden geschoren, festgeschnallt auf einem Stuhl für gynäkologische Untersuchungen, wird ihr brutal ein Abstrich genommen. In dem Maße, wie es Manja in den folgenden Tagen körperlich besser geht, ihr Verstand sich schärft, tritt - "wie die Besatzung eines Schiffes" - das Personal der Station in den Blick: auf der einen Seite die sadistische Stubenälteste Berta oder der tyrannische Stationsarzt Dr. Höcks, auf der anderen Manjas Leidensgenossinnen wie Sascha, die zum Balaton trampen will und schon in Karl-Marx-Stadt von der Bahnpolizei "zugeführt" wird, oder die Prostituierte Marion, die für die Stasi schnüffeln soll und nach ihrem Ausstieg in die Lerchenstraße eingewiesen wird. Dem hierarchisch organisierten Terrorsystem auf der Station kann sich auch Manja nicht entziehen - als eine der Frauen gequält wird, wird sie zur Mittäterin.
Bettina Wilpert, deren 2018 im Verbrecher Verlag erschienener Debütroman "nichts, was uns passiert" unter anderem mit dem "aspekte"-Literaturpreis und dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet wurde, dockt mit "Herumtreiberinnen" eng an historische Fakten an: Tausende Mädchen und Frauen vom zwölften Lebensjahr an wurden zu DDR-Zeiten wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten in Kliniken zwangseingewiesen. Krank waren jedoch die wenigsten von ihnen. In einem System aus Gewalt und Demütigung sollten "Asoziale" und "Herumtreiberinnen" zu "sozialistischen Persönlichkeiten" geformt werden. Medizinhistoriker haben inzwischen Zeitzeugen interviewt und Patientenakten ausgewertet. Das Wirken gewissenloser Mediziner wie Gerd Münx, langjähriger Chef der "Tripperburg" in Halle/Saale, und die Traumata der Opfer haben Gerichte beschäftigt und sind Gegenstand von Monographien und Fachtagungen. Von Rehabilitierung, gar Entschädigung der einst Gequälten im größeren Maßstab kann keine Rede sein.
Das Vorbild für die Lerchenstraße des Romans findet sich in der Leipziger Riebeckstraße 63: In dem roten Klinkerbau war in den Achtzigerjahren eine der letzten geschlossenen Venerologischen Stationen im Süden der DDR untergebracht. Seit 2019 engagiert sich ein Initiativkreis mit Veranstaltungen und Ausstellungen für die Entwicklung eines lebendigen Erinnerungsorts. Die Geschichte des Areals ist geeignet, jeden Roman alt aussehen zu lassen: Als "Zwangsarbeitsanstalt zu St. Georg" 1892 eröffnet, entwickelte sich der Komplex in der NS-Zeit zur Verteilerstelle für Fremd- und Zwangsarbeiter, Zwischenstation für Juden auf dem Weg in die Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Polizeiersatzgefängnis für politische Gefangene. 1946 wurde hier auf Anordnung der sowjetischen Militäradministration ein "Fürsorgeheim" für Geschlechtskranke eingerichtet, ein Vorläufer der Venerologischen Station. Heute befindet sich auf dem Gelände unter anderem eine Unterkunft für Geflüchtete.
Verständlich, dass Wilpert ihre Lerchenstraße als Hotspot von Entmündigung, Zwang und Repression über die politischen Systeme hinweg zeichnen will. So verknüpft sie Manjas durch die Ich-Form durchaus Sogkraft entwickelnde Geschichte assoziativ mit zwei auktorial erzählten Nebensträngen. Doch weder für Lilo, die durch ihren Vater in den kommunistischen Widerstand gerät und im Januar 1945 im Keller der Lerchenstraße interniert wird, noch für die Sozialarbeiterin Robin, die dort siebzig Jahre später in der Geflüchtetenhilfe arbeitet, findet Wilpert eine angemessene Sprache. Durch Lilos Leben, immerhin fast zwanzig Jahre, werden wir im Schnelldurchgang gezerrt; Kindheit, Schule, politische Sozialisation und erste Lieben - das alles schnurrt sprachlich wenig ambitioniert, fast lustlos ab. Bezeichnend, wenn ein Satz grundlos im "u.s.w." auströpfelt oder die Beziehung eines kommunistischen Paars in finsteren Nazi-Zeiten wie im Anamnese-Block eines Psychiaters skizziert wird: "Zwischen den beiden lag Vertrautheit, obwohl sie sich nicht berührten oder interagierten . . ." Und Robin, die gern so wäre wie Carry Brownstein, Gitarristin der Riot Grrrl-Band Sleater Kinney, die in einer festen Affäre lebt und fürchtet, mit einer Schwangerschaft die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, ist eigentlich eine interessante, vielschichtige Figur - im Romankonstrukt wird sie zur Pappkameradin degradiert, die Patientinnenakten aus dem Jahr 1983 findet, sich im Geschichtsverein engagiert und am Ende ohnmächtig einer Abschiebung von Heiminsassen beiwohnen muss. Merke: Geschichte wiederholt sich.
Dass DDR-Volkspolizisten in den Achtzigerjahren wohl nur noch von Gerhard Löwenthal und westdeutschen Touristen "Vopos" genannt wurden und die erste Single der Sex Pistols eben nicht "Anarchy for the U.K." heißt - geschenkt. Die kleinen Schludrigkeiten fuchsen jedoch umso mehr, da Bettina Wilpert an anderer Stelle durchaus aufblitzen lässt, was sie kann. In einer nüchtern protokollierten, damit umso eindrücklicheren Sitzungsszene der "Gefährdetenkommission" beim Rat der Stadt etwa lässt sie uns den Schreibtischtäterinnen und -tätern über die Schulter schauen, die von "Ekelzulage" und "HwG-Listen" schwadronieren. Den weggesperrten Frauen gibt ein im Fortgang des Romans an Intensität zunehmender, alle Zeitebenen überblendender Chor "Wir, in der Lerchenstraße" Stimme. Die stärkste Szene des Romans zeigt die mit Schlafentzug isolierte Manja in einem Wachtraum von ihrer Freundin Maxie und Valentina Tereschkowa, der ersten Frau im Weltraum, die ihr als Gefährtin jenseits aller Propaganda-Überhöhung nahe rückt: "In ihrer Kapsel über der Erde kotzte Walja . . . Ihr Körper war Chaos. Die Schwerelosigkeit wirbelte Leib und Seele umeinander . . . Ich träumte, ich war wach." Nein, diese Manja wird nie mehr bloße "Reisende" sein, auch wenn sie das rational noch nicht erfassen kann.
Der Roman endet mit einer Selbstermächtigungsutopie, die einen Assoziationsraum bis hin zu Ulrikes Meinhofs Fernsehfilm über die autoritären Methoden der "Fürsorgeerziehung" in den frühen Siebzigern der alten Bundesrepublik öffnet. Wie in ihrem Debüt, das Theaterbühnen erobert hat und derzeit von der ARD verfilmt wird, geht Bettina Wilpert auch mit "Herumtreiberinnen" dorthin, wo es weh tut. Ihr Roman holt die Demütigungen und Traumatisierungen, die Frauen und Mädchen in der DDR durch ein politisch in Dienst genommenes "Gesundheitswesen" zugefügt wurden, aus der Schweigezone. Eine geglückte literarische Bearbeitung dieses Komplexes steht noch aus. NILS KAHLEFENDT
Bettina Wilpert:
"Herumtreiberinnen". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022. 265 S., geb., 25,- Euro.
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