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Eigentlich ist es immer gerade das, was ich als nächstes lesen will. Meist kommt irgend etwas dazwischen, das keinen Aufschub duldet, etwas Wichtigeres, Aktuelles, das ich mir unbedingt gleich vornehmen muß. Bei meinem Lieblingsbuch dagegen weiß ich ja schon, was drinsteht. Wozu es also nochmals lesen? Weil es mir jedesmal aufs neue fremd und aufregend und anders vorkommt. Vielleicht verhält es sich mit Büchern tatsächlich wie im Leben: Das wahrhaft Liebste ist so unwahrscheinlich, daß man nie aufhört, darüber zu staunen.
Bei der zweiten Lektüre war mir die erste ziemlich peinlich. Schon erstaunlich, dachte ich, wie mich dieses Seemannsgarn dermaßen fesseln konnte. Reiseabenteuer vor Urwaldkulisse - was man halt in jungen Jahren so mag. Doch wieso hätte ich es später wohl noch einmal lesen wollen, wären mir darin nicht so viele unbehagliche Momente düster in Erinnerung geblieben, die so gar nicht in das populäre Muster passen. Erst beim dritten Mal begriff ich: Diese irrsinnige Flußfahrt, von der hier erzählt wird, führt nicht ins Innere irgendeines fremden Kontinents, sondern geradewegs ins eigene Grauen, den blinden Fleck unserer Zivilisation. Beim vierten Lesen dann, ich war inzwischen besser informiert, sah alles anders aus. Wie hatte ich übersehen können, daß diese psychologische Parabel ihre schnöde Voraussetzung in der kolonialen Weltsicht hat, die den weißen Mann ins Zentrum und alle anderen an den Rand stellt? Kein Wunder, daß im zwanzigsten Jahrhundert große Autoren aus Afrika oder der Karibik diese befremdliche Geschichte vielfach neu und anders erzählt haben. Kein Wunder aber auch, daß ich mir den kurzen Text, der soviel Widerspruch herausfordert, immer wieder vornehme.
Erst neulich schien es mir dabei, als sei die zentrale Figur nur ein notdürftiger Platzhalter, der für uns einsteht, während alles Wichtige sich ganz am Rand vollzieht. Zum Beispiel gibt es da jene erstaunliche Stelle, wo der Held mitten im Urwald, in der schrecklichsten Einöde, ausgerechnet auf ein Buch stößt. Darin muß irgend etwas Entscheidendes gesagt sein, aber was genau, bleibt unklar. Eigentlich muß ich Joseph Conrads "Herz der Finsternis" demnächst dringend wieder einmal lesen.
TOBIAS DÖRING
Informationen zu "Unsere Besten - Das große Lesen", einer gemeinsamen Aktion von ZDF und F.A.Z., finden sich im Internet unter www.faz.net/lesen.
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