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Sie hat zu viel gelesen, er zu viel erlebt: Corinna Schnabel erforscht die "Herzgegend"
Eine Studentin aus Hamburg namens Lou, aber trotz ihres Namens keine femme fatale, kommt in den siebziger Jahren nach London, um Exilstudien zu betreiben. Am Aldwych "passierte es", genauer: an der Kante des Zebrastreifens zwischen dem Waldorf Hotel und Bush House, Sitz des legendären BBC World Service, läuft ihr der Emigrant von einst, Ferdie L. Samson, in die Arme. Es ist Liebe auf den ersten Blick, Liebe zwischen den Generationen, zwischen junger Forscherin und ihrem in die Jahre gekommenen Studienobjekt: sie hat viel gelesen, er zu viel erlebt. Sie wirkt konfessionslos, er scheint verankert in seinem jüdischen Bewusstsein, mit dem er jedoch ironisch-verspielt umgeht und keineswegs orthodox. Sie macht seinen Nachnamen zum Vornamen, und er nennt sie meist nur Madam(e).
Vieles an diesem Roman berührt und verleitet deshalb dazu, seine Schwächen zu übersehen. Dabei sind die beträchtlich. Und doch gibt es ausgesprochen poetische Passagen in diesem Roman, phasenweise stellen sich Momente großer Verdichtung ein, oft verbunden mit der subtilen Beschreibung von Geräuschen, und die hellhörige Schilderung sprachlicher Eigenheiten Samsons wissen vor allem diejenigen zu schätzen, die jüdisch-deutsche Emigranten im Dauerexil erlebt haben. Die eine obligate Bettszene ist sinnlich-diskret beschrieben; diese Liebe wirkt glaubhaft, aber für einen ganzen Roman reicht sie nicht. Es ist eine Liebe allenfalls in Novellenstärke. Zu lang sind die Längen zwischendurch, zu wenig "geschieht", um es erlebnishaft-konventionell zu erzählen, zu wenig experimentell wird erzählt, um den Stoff durch seine Brechungen wirklich interessant zu machen.
Man gewinnt den bestimmten Eindruck, dass die Erzählerin der "Herzgegend" zweihundertsechzig Seiten lang "ich" sagen wollte, es sich aber verboten hat. Bei der Lektüre fragt man sich, ob dieser Text nicht besser ein langes Prosagedicht gewesen wäre mit Zeilen dieser Art: "Wie ein Buddha thronte St. Paul's über der City." Seit Rilke und T.S. Eliot wissen wir, dass das Aufzählen von Namen und Orten im Gedicht wirkungsvoll sein kann. Manche Prosaautoren jedoch, Corinna Schnabel gehört nach diesem Roman zu urteilen, zu ihnen, vertrauen gleichfalls darauf, dass bloße Namensnennungen genügend an Vorstellung evozieren können und dem Erzähler weitere Beschreibungen ersparen. Weit gefehlt. Dieses Verfahren gefährdet, was die Bezeichnung "Erzählung" verdient. Lässt sich aus reinen Aufrufungen nichts inhaltlich Beziehungsvolles gewinnen, dann sollten sie unterbleiben.
Die trotz meist kurzer Sätze langatmige bis zähflüssige Prosa gewinnt immer dann, wenn sie sich Selbstunterbrechungen gestattet. So anrührend das Thema des Romans auch ist, späte Liebe mit junger Partnerin als letzte Heimat im Exil, die Leerläufe auf dem Weg dorthin, in die "Herzgegend", bringen den Text um seine Wirkung.
RÜDIGER GÖRNER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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