Von einem Leben nach den Schrecken des Krieges. Hamburg, Juni 1945: Die Stadt liegt in Trümmern. Mittendrin leben Traute, Hermann und Jakob. Der nennt sich allerdings Friedrich, denn niemand soll erfahren, dass er Jude ist. Als Hermann ihm dennoch auf die Spur kommt, will er nichts mehr mit Jakob zu tun haben. Schuld, Wahrheit, Angst und Wut sind die zentralen Themen dieses Buchs, dessen jugendliche Hauptfiguren durch die Schrecken des Krieges und der Naziherrschaft miteinander verbunden sind. Und für die es doch immer wieder Lichtblicke gibt. Nach Dunkelnacht ein neuer Roman der Erfolgsautorin über Menschlichkeit und Hoffnung. - Jugendbuch ab 13 Jahren für Fans historischer Ereignisse. - Kirsten Boie schreibt mit viel Gefühl über die Kinder der Nachkriegszeit. - Der spannende und berührende Nachfolger von Dunkelnacht. - Ein großes Thema, zu dem Kirsten Boie anlässlich des 75. Jahrestags nach Kriegsende im Mai 2020 inspiriert wurde. - Kindheit und Jugend sind schwer genug, in Nachkriegszeiten müssen die Helden des Romans erst wieder lernen, was es heißt, zu vergeben und füreinander da zu sein. - Das Jugendbuch erzählt, was Frieden in den ersten Wochen nach dem Krieg bedeutete.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2022Streifzüge auf dem
Schwarzmarkt
Drei Jugendliche im Chaos der
Nachkriegszeit in Hamburg
Kirsten Boies neuer zeitgeschichtlicher Roman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“, spielt in Hamburg im Frühsommer 1945. Seit Kriegsende versucht die Bevölkerung unter englischer Besatzung zwischen Ruinen zu überleben, darunter drei Jugendliche: Jakob, dessen jüdische Mutter in einem der letzten Transporte nach Theresienstadt geschafft wurde (aber überlebte) – er wird von einem alten Mann versteckt und weiß noch nicht, dass der Krieg beendet ist. Als sein Helfer nicht mehr auftaucht, muss er sein Versteck in der Ruine verlassen, um nicht zu verhungern. Er trifft auf Traute, die Tochter eines Bäckers, und stiehlt ihr heimlich das Brot, das sie für die Jungs auf der Straße als Bestechung mitbringt. Ihre Freundinnen kamen durch Bomben um oder verschwanden in den Wirren des Krieges, und sie will einfach nur, weil sie einsam ist, mit den Jungen Fußball spielen. Unter ihnen Hermann, der immer noch seine HJ-Uniform trägt und sich um seinen Vater kümmern muss, der beinamputiert in seiner Verzweiflung der Familie das Leben schwer macht. Damit nimmt er ihm die Aussicht auf einen Neuanfang in den USA.
Diese Jugendlichen begegnen einander zufällig in einer Woche, Ende Juni 1945. Sie sind geprägt von ihren Kriegserfahrungen und Traumata und machen gemeinsam ihre besonderen Erfahrungen im Chaos der Hamburger Nachkriegszeit. Kirsten Boie lässt sie, ohne Einfluss der Erwachsenen, selbst erzählen – in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, in der sie die Möglichkeit als Erzählerin nutzt, den Jugendlichen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben.
Sie will für ihre Leser ihre eigenen Gefühle, ihre Erlebnisse jetzt, 70 Jahre später, lebendig machen, die sie schon 2003 in „Monis Jahr“ und 2010 in „Ringel Rangel Rosen“ beschrieben hat. „Bei mir verwandelt sich alles, was mich bewegt, schnell in Geschichten.“ In einem Interview erzählt sie, dass sie bei den Gesprächen der Erwachsenen „über den Krieg, die Bombennächte und die Hungerzeit“ zuhörte, aber damals nichts über die Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere die Schoah, in Hamburg erfuhr. Und darum spielt jetzt Jakob, als ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Hamburg, eine wichtige Rolle. Der, als er beim Versuch Essen zu stehlen, von den Kindern entdeckt wird, seine jüdische Identität verschweigt und sich mit Hermann anfreundet, der immer noch der NS-Ideologie anhängt. Erst als der die wahre Herkunft von Jakob erkennt – mit dem er bei Streifzügen auf dem Schwarzmarkt versucht, an Lebensmittel zu kommen –, mit der Realität der Judenverfolgung konfrontiert wird.
In Hermann schildert Kirsten Boie einen Vertreter des Fortlebens nationalsozialistischen Gedankenguts, das sie beunruhigt, besonders bei den heutigen Jugendlichen, „die in immer größerer Zahl und in immer jüngerem Alter eine Bewunderung für den Nationalsozialismus, sogar für den Zweiten Weltkrieg, entwickeln, weil sie sich in alterstypischen Grandiositätsfantasien als Eroberer und Herrscher der Welt sehen“. (ab 13 Jahre und Erwachsene)
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Kirsten Boie:
Heul doch nicht,
du lebst ja noch.
Oetinger 2022.
192 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schwarzmarkt
Drei Jugendliche im Chaos der
Nachkriegszeit in Hamburg
Kirsten Boies neuer zeitgeschichtlicher Roman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“, spielt in Hamburg im Frühsommer 1945. Seit Kriegsende versucht die Bevölkerung unter englischer Besatzung zwischen Ruinen zu überleben, darunter drei Jugendliche: Jakob, dessen jüdische Mutter in einem der letzten Transporte nach Theresienstadt geschafft wurde (aber überlebte) – er wird von einem alten Mann versteckt und weiß noch nicht, dass der Krieg beendet ist. Als sein Helfer nicht mehr auftaucht, muss er sein Versteck in der Ruine verlassen, um nicht zu verhungern. Er trifft auf Traute, die Tochter eines Bäckers, und stiehlt ihr heimlich das Brot, das sie für die Jungs auf der Straße als Bestechung mitbringt. Ihre Freundinnen kamen durch Bomben um oder verschwanden in den Wirren des Krieges, und sie will einfach nur, weil sie einsam ist, mit den Jungen Fußball spielen. Unter ihnen Hermann, der immer noch seine HJ-Uniform trägt und sich um seinen Vater kümmern muss, der beinamputiert in seiner Verzweiflung der Familie das Leben schwer macht. Damit nimmt er ihm die Aussicht auf einen Neuanfang in den USA.
Diese Jugendlichen begegnen einander zufällig in einer Woche, Ende Juni 1945. Sie sind geprägt von ihren Kriegserfahrungen und Traumata und machen gemeinsam ihre besonderen Erfahrungen im Chaos der Hamburger Nachkriegszeit. Kirsten Boie lässt sie, ohne Einfluss der Erwachsenen, selbst erzählen – in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, in der sie die Möglichkeit als Erzählerin nutzt, den Jugendlichen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben.
Sie will für ihre Leser ihre eigenen Gefühle, ihre Erlebnisse jetzt, 70 Jahre später, lebendig machen, die sie schon 2003 in „Monis Jahr“ und 2010 in „Ringel Rangel Rosen“ beschrieben hat. „Bei mir verwandelt sich alles, was mich bewegt, schnell in Geschichten.“ In einem Interview erzählt sie, dass sie bei den Gesprächen der Erwachsenen „über den Krieg, die Bombennächte und die Hungerzeit“ zuhörte, aber damals nichts über die Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere die Schoah, in Hamburg erfuhr. Und darum spielt jetzt Jakob, als ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Hamburg, eine wichtige Rolle. Der, als er beim Versuch Essen zu stehlen, von den Kindern entdeckt wird, seine jüdische Identität verschweigt und sich mit Hermann anfreundet, der immer noch der NS-Ideologie anhängt. Erst als der die wahre Herkunft von Jakob erkennt – mit dem er bei Streifzügen auf dem Schwarzmarkt versucht, an Lebensmittel zu kommen –, mit der Realität der Judenverfolgung konfrontiert wird.
In Hermann schildert Kirsten Boie einen Vertreter des Fortlebens nationalsozialistischen Gedankenguts, das sie beunruhigt, besonders bei den heutigen Jugendlichen, „die in immer größerer Zahl und in immer jüngerem Alter eine Bewunderung für den Nationalsozialismus, sogar für den Zweiten Weltkrieg, entwickeln, weil sie sich in alterstypischen Grandiositätsfantasien als Eroberer und Herrscher der Welt sehen“. (ab 13 Jahre und Erwachsene)
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Kirsten Boie:
Heul doch nicht,
du lebst ja noch.
Oetinger 2022.
192 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilman Spreckelsen verfolgt interessiert, wie drei Jugendliche in Kirsten Boies "Heul doch nicht, du lebst ja noch" mit dem Kriegsende 1945 zurechtkommen: Jakob, der untergetauchte Sohn einer Hamburger Jüdin, Hermann, der Hitlerjunge mit dem tyrannischen Vater und die Bäckermeistertochter Traute. Boie erzählt präzise aus wechselnden Perspektiven und verliert trotz vieler historischer Details niemals die Erlebnisse und Wahrnehmungen der Jugendlichen aus den Augen, versichert der Rezensent, der nur bewundern kann, in welch "meisterlichen Ton" Boie hier Dinge beim Namen nennt, ohne grell zu werden. Für Spreckelsen ein Roman, der deutlich macht, dass der Weg bis zur Aufarbeitung von Weltkrieg und Holocaust lang war, aber auch wie sich junge Menschen trotz ihrer Unterschiede verbinden konnten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2022Versehrte und Befreite
Hamburg im Sommer 1945: Kirsten Boies Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch" erzählt von Aufbruch und Hilflosigkeit in den Trümmern der Stadt.
Aus der Zeit, als im Mai 1945 nach knapp sechs Jahren der Krieg in Europa beendet war, sind zahlreiche Berichte überliefert, persönliche Erinnerungen und offizielle Dokumente, journalistische Reportagen, literarische Schilderungen oder auch nüchterne Bestandsaufnahmen der Zerstörungen. Sie sprechen von zerbombten Städten, von hungernden, verkrüppelten, entwurzelten Menschen auf der Suche nach Angehörigen, von Versuchen der Täter, sich reinzuwaschen, und von den Opfern des Nationalsozialismus, die Gerechtigkeit einfordern. Das Kriegsende erscheint so als ein gewaltiger Einschnitt, als Stunde null, als Moment, von dem an alles anders ist.
Was aber, fragt Kirsten Boie in ihrem gerade erschienenen Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch", wenn dieser Moment an einem vorbeigeht, wenn das Kriegsende gar nicht wahrgenommen wird?
Das klingt nach einer gewagten Konstruktion, die Boie aber durchaus plausibel macht: Jakob, ein Jugendlicher aus Hamburg, der wegen seiner jüdischen Mutter gegen Ende des Krieges untertauchen musste und sich noch sechs Wochen nach der deutschen Kapitulation im oberen Stockwerk eines halbzerbombten Hauses versteckt, weiß nichts von der Befreiung durch die Alliierten, weil er sich im hintersten Winkel der Ruine verbirgt - und weil der Tischlermeister, der ihn erst in seine eigene Wohnung aufgenommen und dann hierher gebracht hatte, ihm das Kriegsende verschweigt. Stattdessen schärft er ihm ein, mit keinem Zeichen seine Anwesenheit zu verraten. Nach allem, was er bis dahin erlebt hatte, kommt Jakob dieser Anweisung, ohne zu zögern, nach. Erst als der Tischlermeister Ende Juni 1945 bereits drei Tage ausgeblieben war und mit ihm die kümmerliche Verpflegung, wagt sich Jakob nachts auf die Straße.
Kirsten Boie erzählt ihren Roman aus drei Perspektiven, alle drei gehören jugendlichen Protagonisten an: Der überzeugte Hitlerjunge Hermann muss in der Familie die Tyrannei seines verbitterten Vaters über sich ergehen lassen, der im Krieg beide Unterschenkel verloren hat. Traute, die Tochter eines Bäckermeisters, lebt in vergleichsweise soliden Verhältnissen, kommt aber auch durch die Einquartierung einer aus Ostpreußen geflohenen Familie täglich mit dem Elend und den Verlusten der anderen in Berührung. Jakob schließlich musste sich einige Zeit allein durchschlagen, nachdem seine Mutter nach Theresienstadt gebracht worden war.
Was die drei Jugendlichen sechs Tage lang im Juni 1945 in Hamburg erleben, erzählt Boie, Jahrgang 1950, mit Blick auf die historischen Realien, ohne in den Details die Romanhandlung aus dem Blick zu verlieren - Kinderspiele in den Trümmern, Schwarzmarktgeschäfte, britische Soldaten und vieles mehr werden äußerst plastisch, grundieren aber die Darstellung der Jugendlichen mehr, als dass sie diese überlagerten. Zugleich erscheinen die drei als wandel- und beeinflussbare Individuen, nicht als Typen, an denen heutigen Lesern bestimmte Dispositionen schematisch gezeigt werden sollten.
Und während Boie in ihrem Roman "Dunkelnacht" (F.A.Z. vom 22. März 2021) auf beeindruckende Weise beharrlich nach den Ursachen und den Schuldigen eines in Bayern verübten Verbrechens in den letzten Kriegstagen fragte, geht es hier unausgesprochen darum, wie diejenigen, die als Kinder so oder so, als Opfer pädagogischer oder unmittelbarer physischer Gewalt dem Einfluss nationalsozialistischer Herrschaft ausgesetzt waren, sich zu denjenigen verhalten, die diese Herrschaft unterstützt oder geduldet haben - zum Beispiel ihren Eltern.
Für all das findet Boie einen meisterlichen Ton, der die Dinge beim Namen nennt und doch nicht grell ausstellt, der inmitten all der Schrecken sogar geradezu zart sein kann, wenn die Perspektive der Protagonisten das verlangt. Wenn etwa sein entsetzlicher Hunger den alleingelassenen Jakob aus seiner Ruine treibt und er durch einen unwahrscheinlichen Glücksfall an einen Brotlaib kommt, den er dann im Versteck unterbringt, heißt es: "Das Brot ist noch da und mit dem Brot eine kleine, neue Zuversicht."
Hilflosigkeit prägt diese Zeit, zugleich Geschäftigkeit und Aufbruch. Dass es bis zur Aufarbeitung noch ein weiter Weg war, zeigt Boies Roman deutlich. Aber auch, woran man unter den Jüngeren anknüpfen konnte, als er dann eingeschlagen wurde. TILMAN SPRECKELSEN
Kirsten Boie: "Heul doch nicht, du lebst ja noch". Roman.
Oetinger Verlag, Hamburg 2022. 176 S., geb., 14,- Euro. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hamburg im Sommer 1945: Kirsten Boies Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch" erzählt von Aufbruch und Hilflosigkeit in den Trümmern der Stadt.
Aus der Zeit, als im Mai 1945 nach knapp sechs Jahren der Krieg in Europa beendet war, sind zahlreiche Berichte überliefert, persönliche Erinnerungen und offizielle Dokumente, journalistische Reportagen, literarische Schilderungen oder auch nüchterne Bestandsaufnahmen der Zerstörungen. Sie sprechen von zerbombten Städten, von hungernden, verkrüppelten, entwurzelten Menschen auf der Suche nach Angehörigen, von Versuchen der Täter, sich reinzuwaschen, und von den Opfern des Nationalsozialismus, die Gerechtigkeit einfordern. Das Kriegsende erscheint so als ein gewaltiger Einschnitt, als Stunde null, als Moment, von dem an alles anders ist.
Was aber, fragt Kirsten Boie in ihrem gerade erschienenen Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch", wenn dieser Moment an einem vorbeigeht, wenn das Kriegsende gar nicht wahrgenommen wird?
Das klingt nach einer gewagten Konstruktion, die Boie aber durchaus plausibel macht: Jakob, ein Jugendlicher aus Hamburg, der wegen seiner jüdischen Mutter gegen Ende des Krieges untertauchen musste und sich noch sechs Wochen nach der deutschen Kapitulation im oberen Stockwerk eines halbzerbombten Hauses versteckt, weiß nichts von der Befreiung durch die Alliierten, weil er sich im hintersten Winkel der Ruine verbirgt - und weil der Tischlermeister, der ihn erst in seine eigene Wohnung aufgenommen und dann hierher gebracht hatte, ihm das Kriegsende verschweigt. Stattdessen schärft er ihm ein, mit keinem Zeichen seine Anwesenheit zu verraten. Nach allem, was er bis dahin erlebt hatte, kommt Jakob dieser Anweisung, ohne zu zögern, nach. Erst als der Tischlermeister Ende Juni 1945 bereits drei Tage ausgeblieben war und mit ihm die kümmerliche Verpflegung, wagt sich Jakob nachts auf die Straße.
Kirsten Boie erzählt ihren Roman aus drei Perspektiven, alle drei gehören jugendlichen Protagonisten an: Der überzeugte Hitlerjunge Hermann muss in der Familie die Tyrannei seines verbitterten Vaters über sich ergehen lassen, der im Krieg beide Unterschenkel verloren hat. Traute, die Tochter eines Bäckermeisters, lebt in vergleichsweise soliden Verhältnissen, kommt aber auch durch die Einquartierung einer aus Ostpreußen geflohenen Familie täglich mit dem Elend und den Verlusten der anderen in Berührung. Jakob schließlich musste sich einige Zeit allein durchschlagen, nachdem seine Mutter nach Theresienstadt gebracht worden war.
Was die drei Jugendlichen sechs Tage lang im Juni 1945 in Hamburg erleben, erzählt Boie, Jahrgang 1950, mit Blick auf die historischen Realien, ohne in den Details die Romanhandlung aus dem Blick zu verlieren - Kinderspiele in den Trümmern, Schwarzmarktgeschäfte, britische Soldaten und vieles mehr werden äußerst plastisch, grundieren aber die Darstellung der Jugendlichen mehr, als dass sie diese überlagerten. Zugleich erscheinen die drei als wandel- und beeinflussbare Individuen, nicht als Typen, an denen heutigen Lesern bestimmte Dispositionen schematisch gezeigt werden sollten.
Und während Boie in ihrem Roman "Dunkelnacht" (F.A.Z. vom 22. März 2021) auf beeindruckende Weise beharrlich nach den Ursachen und den Schuldigen eines in Bayern verübten Verbrechens in den letzten Kriegstagen fragte, geht es hier unausgesprochen darum, wie diejenigen, die als Kinder so oder so, als Opfer pädagogischer oder unmittelbarer physischer Gewalt dem Einfluss nationalsozialistischer Herrschaft ausgesetzt waren, sich zu denjenigen verhalten, die diese Herrschaft unterstützt oder geduldet haben - zum Beispiel ihren Eltern.
Für all das findet Boie einen meisterlichen Ton, der die Dinge beim Namen nennt und doch nicht grell ausstellt, der inmitten all der Schrecken sogar geradezu zart sein kann, wenn die Perspektive der Protagonisten das verlangt. Wenn etwa sein entsetzlicher Hunger den alleingelassenen Jakob aus seiner Ruine treibt und er durch einen unwahrscheinlichen Glücksfall an einen Brotlaib kommt, den er dann im Versteck unterbringt, heißt es: "Das Brot ist noch da und mit dem Brot eine kleine, neue Zuversicht."
Hilflosigkeit prägt diese Zeit, zugleich Geschäftigkeit und Aufbruch. Dass es bis zur Aufarbeitung noch ein weiter Weg war, zeigt Boies Roman deutlich. Aber auch, woran man unter den Jüngeren anknüpfen konnte, als er dann eingeschlagen wurde. TILMAN SPRECKELSEN
Kirsten Boie: "Heul doch nicht, du lebst ja noch". Roman.
Oetinger Verlag, Hamburg 2022. 176 S., geb., 14,- Euro. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Kirsten Boie ist es mit ihrem neuesten Roman gelungen, ein Thema der jüngeren deutschen Geschichte aus den wechselnden Perspektiven von den drei jugendlichen Protagonisten auf prägnant eindringliche, emotional berührende, abwägende, historisch fundierte und niemals überzogene Art darzustellen..." Jury-Begründung zum Friedrich-Gerstäcker-Preis 2022