Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Hamburg im Sommer 1945: Kirsten Boies Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch" erzählt von Aufbruch und Hilflosigkeit in den Trümmern der Stadt.
Aus der Zeit, als im Mai 1945 nach knapp sechs Jahren der Krieg in Europa beendet war, sind zahlreiche Berichte überliefert, persönliche Erinnerungen und offizielle Dokumente, journalistische Reportagen, literarische Schilderungen oder auch nüchterne Bestandsaufnahmen der Zerstörungen. Sie sprechen von zerbombten Städten, von hungernden, verkrüppelten, entwurzelten Menschen auf der Suche nach Angehörigen, von Versuchen der Täter, sich reinzuwaschen, und von den Opfern des Nationalsozialismus, die Gerechtigkeit einfordern. Das Kriegsende erscheint so als ein gewaltiger Einschnitt, als Stunde null, als Moment, von dem an alles anders ist.
Was aber, fragt Kirsten Boie in ihrem gerade erschienenen Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch", wenn dieser Moment an einem vorbeigeht, wenn das Kriegsende gar nicht wahrgenommen wird?
Das klingt nach einer gewagten Konstruktion, die Boie aber durchaus plausibel macht: Jakob, ein Jugendlicher aus Hamburg, der wegen seiner jüdischen Mutter gegen Ende des Krieges untertauchen musste und sich noch sechs Wochen nach der deutschen Kapitulation im oberen Stockwerk eines halbzerbombten Hauses versteckt, weiß nichts von der Befreiung durch die Alliierten, weil er sich im hintersten Winkel der Ruine verbirgt - und weil der Tischlermeister, der ihn erst in seine eigene Wohnung aufgenommen und dann hierher gebracht hatte, ihm das Kriegsende verschweigt. Stattdessen schärft er ihm ein, mit keinem Zeichen seine Anwesenheit zu verraten. Nach allem, was er bis dahin erlebt hatte, kommt Jakob dieser Anweisung, ohne zu zögern, nach. Erst als der Tischlermeister Ende Juni 1945 bereits drei Tage ausgeblieben war und mit ihm die kümmerliche Verpflegung, wagt sich Jakob nachts auf die Straße.
Kirsten Boie erzählt ihren Roman aus drei Perspektiven, alle drei gehören jugendlichen Protagonisten an: Der überzeugte Hitlerjunge Hermann muss in der Familie die Tyrannei seines verbitterten Vaters über sich ergehen lassen, der im Krieg beide Unterschenkel verloren hat. Traute, die Tochter eines Bäckermeisters, lebt in vergleichsweise soliden Verhältnissen, kommt aber auch durch die Einquartierung einer aus Ostpreußen geflohenen Familie täglich mit dem Elend und den Verlusten der anderen in Berührung. Jakob schließlich musste sich einige Zeit allein durchschlagen, nachdem seine Mutter nach Theresienstadt gebracht worden war.
Was die drei Jugendlichen sechs Tage lang im Juni 1945 in Hamburg erleben, erzählt Boie, Jahrgang 1950, mit Blick auf die historischen Realien, ohne in den Details die Romanhandlung aus dem Blick zu verlieren - Kinderspiele in den Trümmern, Schwarzmarktgeschäfte, britische Soldaten und vieles mehr werden äußerst plastisch, grundieren aber die Darstellung der Jugendlichen mehr, als dass sie diese überlagerten. Zugleich erscheinen die drei als wandel- und beeinflussbare Individuen, nicht als Typen, an denen heutigen Lesern bestimmte Dispositionen schematisch gezeigt werden sollten.
Und während Boie in ihrem Roman "Dunkelnacht" (F.A.Z. vom 22. März 2021) auf beeindruckende Weise beharrlich nach den Ursachen und den Schuldigen eines in Bayern verübten Verbrechens in den letzten Kriegstagen fragte, geht es hier unausgesprochen darum, wie diejenigen, die als Kinder so oder so, als Opfer pädagogischer oder unmittelbarer physischer Gewalt dem Einfluss nationalsozialistischer Herrschaft ausgesetzt waren, sich zu denjenigen verhalten, die diese Herrschaft unterstützt oder geduldet haben - zum Beispiel ihren Eltern.
Für all das findet Boie einen meisterlichen Ton, der die Dinge beim Namen nennt und doch nicht grell ausstellt, der inmitten all der Schrecken sogar geradezu zart sein kann, wenn die Perspektive der Protagonisten das verlangt. Wenn etwa sein entsetzlicher Hunger den alleingelassenen Jakob aus seiner Ruine treibt und er durch einen unwahrscheinlichen Glücksfall an einen Brotlaib kommt, den er dann im Versteck unterbringt, heißt es: "Das Brot ist noch da und mit dem Brot eine kleine, neue Zuversicht."
Hilflosigkeit prägt diese Zeit, zugleich Geschäftigkeit und Aufbruch. Dass es bis zur Aufarbeitung noch ein weiter Weg war, zeigt Boies Roman deutlich. Aber auch, woran man unter den Jüngeren anknüpfen konnte, als er dann eingeschlagen wurde. TILMAN SPRECKELSEN
Kirsten Boie: "Heul doch nicht, du lebst ja noch". Roman.
Oetinger Verlag, Hamburg 2022. 176 S., geb., 14,- Euro. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main