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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Literarischer Versuch über die Angst: Kerstin Preiwuß fühlte sich mit ihrem Zustand oft allein, dann kam die Corona-Pandemie
Eigentlich, so Kerstin Preiwuß, habe sie nie vorgehabt, über sich selbst zu schreiben, "die Liste meines Unglücks, die ich in Gedanken zu jeder Tag- und Nachtzeit herunterbeten kann, der Welt zu offenbaren". Jetzt hat sie es doch getan. Weil die Welt, heißt es in ihrem neuen Buch "Heute ist mitten in der Nacht", sich nun in dem Ausnahmezustand befinde, in dem sie, Preiwuß, schon immer lebe. Einem Zustand ständiger Angst, in dem man stets mit dem Schlimmsten rechnet. Ist das so?
Das Buch, eine Art Memoir, wenn man es denn überhaupt einer Kategorie zuordnen möchte, beginnt mit einem verhinderten Unfall: "Beinahe hätte uns der Bus erwischt." Es ist keine alltägliche, aber auch keine seltene Situation. Oft, und auch hier, wird in solchen Momenten "gerade noch mal gut gegangen" gesagt. Szenen dieser Art bleiben meist nicht lange im Kopf, bei Preiwuß schon, sie macht daraus eine Metapher für ihr Leben. Sie steht für das Unglück, das immer lauert und einen irgendwann einholen wird.
Die Autorin versucht, Gründe für ihre Angst zu finden. Ein Vergewaltigungsversuch, Todesfälle geliebter Personen. Eine komplizierte Beziehung zum leiblichen Vater, der ebenfalls stirbt, was Preiwuß trifft, obwohl er die Vaterrolle nie wollte. Sind es diese Erfahrungen, die ihr Angst machen? Vielleicht. Vielleicht war die Angst aber auch einfach immer da: "Ich bin wohl schon so auf die Welt gekommen, so ohne Vertrauen."
Der Ansatz, den Preiwuß mit ihrem Buch verfolgt, klingt vielversprechend: Lässt sich an der eigenen Angst, einer Angst, die so groß ist, dass man sie fast als pathologisch bezeichnen möchte, der Zustand einer Gesellschaft beschreiben? Schließlich ist es genau das, was Memoirs und gute autobiographische Texte oft ausmacht: die Relevanz des Privaten für die Allgemeinheit zu erkennen. Dass genau das in diesem Buch nur bedingt funktioniert, ist gewisserweise paradox, erzählt es doch von Dingen, die tatsächlich alle durchlebt haben. Aber genau die Stellen, in denen es um eine wirklich kollektive Erfahrung, den Lockdown und die Corona-Pandemie, geht, sind die schwächsten des Buchs. Warum ist das so? Die Situation, einen geliebten Menschen durch einen Unfalltod zu verlieren, einen sterbenden Cousin im Hospiz zu besuchen, werden nicht alle Leser kennen. Und sich der Autorin beim Lesen trotzdem näher fühlen. Näher jedenfalls, als beim Lesen zahlreicher Seiten über den Lockdown.
Zum einen, weil wir diese Zeit selbst erlebt haben, uns also möglicherweise weniger auf die Erinnerungen einer anderen Person einlassen können. Zum anderen, weil vieles von dem, das Preiwuß hier beschreibt, trotz zeitlicher Nähe schon so weit weg und nicht mehr sonderlich wichtig scheint. Die Entscheidung, ab wann man die lebensverlängernden Maßnahmen einstellt, die Preiwuß und ihre Mutter für den Stiefvater treffen müssen, wirft existenzielle Fragen auf. Die Feststellung, dass auf die Stoffmasken die FFP-2-Masken folgen, tut das nicht. Die Beobachtung hat eine chronistische Relevanz, aber sie erzählt nichts über uns oder unseren heutigen Zustand.
"Heute ist mitten in der Nacht" ist so zeitgemäß, dass es in Teilen schon veraltet scheint. Die Autorin ist sich dessen durchaus bewusst, kommt mehrfach auf diesen Punkt zu sprechen. Gleich zu Beginn heißt es: "Mein Anlass, das hier auszubreiten, ist längst vorbei." Das ist an sich nicht schlimm. Auch die familiären Ereignisse, die Preiwuß beschreibt, sind vergangen, es macht sie deshalb nicht weniger relevant. Das Problem ist ein anderes, Preiwuß beschreibt es selbst: "Normalerweise trete ich in Abstand zur Welt und beobachte sie aus den Augenwinkeln, ohne dass sie etwas merkt. Nun aber sind wir alle gleich in diesem zäh dahinfließenden Strom gefangen, und es ist nicht mehr davon auszugehen, dass etwas wert ist, erzählt zu werden. Die Relevanz ist nicht mehr spürbar." Warum, möchte man an dieser Stelle fragen, erzählt sie es dann trotzdem? An anderer Stelle schreibt sie: "Ich habe jetzt schon genug von allen öffentlichen Tagebüchern." Ein Gefühl, das man gut nachvollziehen kann. Und sich deshalb umso mehr wundert, wenn "Heute ist mitten in der Nacht" stellenweise an eines erinnert.
Auch fragt man sich, ob die Grundthese des Buchs - dass die Angst der Autorin nun die Gesellschaft erfasst hat - überhaupt trägt. Ja, die Weltlage ist bedrückend. Aber hat uns deshalb alle eine kollektive Angst erfasst, die bleiben wird? Gerade die Pandemie, der Krieg haben doch bewiesen, wie erstaunlich resilient viele Menschen sind. Ist nicht gerade einer der Kritikpunkte an unserer heutigen Gesellschaft, zu resilient zu sein, die eigene Freiheit, das eigene Wohlbefinden über die Menschen auf der Intensivstation oder das weltweite Klima stellen zu wollen und kommende Probleme auszublenden? "I want you to panic" waren Greta Thunbergs berühmte Worte.
Probleme auszublenden, kann man zumindest Preiwuß nicht vorwerfen. Kaum ein Schrecken, der in ihrem Buch nicht erwähnt wird. Denn neben Todesfällen, Corona und dem Krieg geht es auch um das Schreiben als Mutter, die ostdeutsche Identität und den rassistischen Anschlag in Rostock-Lichtenhagen. Über jedes einzelne dieser Themen könnte man Bücher schreiben. Zusammengenommen wirkt die Aufzählung erdrückend. Man findet kaum raus aus der Leidspirale.
Möglicherweise ist es aber genau das, was Preiwuß zeigen möchte, ihr Versuch, erfahrbar zu machen, wie es sich lebt in ständiger Angst. Und vielleicht muss man dieses Buch als genau das sehen: als Versuch. Auf einer der letzten Seiten schreibt Preiwuß: "So ist der Text bis hier, vorhersehbar und zugleich überholt, kann ich ihn nur in Gedanken aufrechterhalten und bin damit nicht auf der Höhe der Zeit, denn man sieht vielleicht erst Jahre später, was man abgebildet hat." Und tatsächlich mag es sein, dass sich diese Chronik, diese Momentaufnahme der vergangenen Jahre anders liest, wenn mehr Zeit verstrichen ist. Liest man sie jetzt, erscheint sie nah und fern zugleich. ANNA VOLLMER
Kerstin Preiwuß: "Heute ist mitten in der Nacht".
Berlin Verlag, Berlin 2023. 192 S., geb.., 22,- Euro.
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