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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Familiengeschichte/n als Zerreißprobe des Lebens, abgründig, tiefsinnig, durchgeknallt, übermütig und voller bizarrer Überraschungen. Das ist der Stoff, aus dem die irischbritische Schriftstellerin Maggie O'Farrell ihre Romane webt. In Großbritannien ist die Autorin hochgeschätzt und mit vielen Preisen bedacht worden, bei uns führt sie eher ein Nischendasein. Im Gegensatz zum amerikanisch-englischen Sprachraum steht in Deutschland gehobene Unterhaltungsliteratur nicht hoch im Kurs. Maggie O'Farrell belehrt uns eines Besseren. Weit entfernt von biederer Betulichkeit, bilden ihre Familien einen Moloch von Verstrickungen. Ihre letzten beiden Romane führten in die Vergangenheit: "Judith und Hammet" (deutsch 2020) spielt in der Familie von William Shakespeare, "Porträt einer Ehe" (deutsch 2022) beschäftigt sich mit Lucrezia di Cosimo de' Medici, die mit dreizehn Jahren verheiratet wurde und mit sechzehn starb, ob ermordet oder natürlich gestorben, ist bis heute ungewiss.
Der nun übersetzte Roman "Hier muss es sein" erschien bereits 2016 in London, und lebt aus der Gegenwart, setzt ein in den Achtzigerjahren und reicht bis 2016. Jedes Kapitel ist per Überschrift genau fixiert: Welche Personen kommen vor, an welchem Ort befinden sie sich in welchem Jahr. Das springt munter durcheinander, sowohl zeitlich als auch örtlich - Irland, London, Indien, Schweden, Los Angeles, New York, China, Bolivien und wieder Irland. Zunächst beginnt der Roman ganz harmlos: "Ein Mann. Er steht auf der Stufe der Hintertreppe und dreht sich eine Zigarette. Das Wetter ist wechselhaft, wie so oft, der Garten glänzt saftig grün, die Äste sind schwer vom Regen, der weiterhin fällt. Der Mann bin ich." Wir befinden uns im letzten Winkel von Nordirland, weit abgeschieden von aller Welt, verbarrikadiert durch zwölf Gatter, die erst geöffnet werden müssen, um zu einem verwilderten, heruntergekommenen Anwesen zu gelangen. "Ich", das ist der etwa fünfzigjährige Amerikaner Daniel, der als Linguistik-Professor an der Universität Dublin lehrt.
In der gottverlassenen Gegend trifft er auf eine verwegene Frau, die er später heiraten wird, und schon drei Seiten weiter - ein rasanter Zeitraffer - teilt er mit: "Meine Frau, sollte ich anmerken, ist verrückt. Nicht im Sinne von Gehört-in-die-Klapse, sondern auf eine subtilere, gesellschaftsfähigere, weniger auffällige Weise. Sie denkt anders als andere Menschen (. . .). Hier die nackten Tatsachen über die Frau, die ich geheiratet habe. Sie ist, wie ich vielleicht erwähnt habe, verrückt. Sie ist eine Weltflüchterin. Sie ist offenkundig bereit, jeden mit dem Gewehr zu bedrohen, von dem sie befürchtet, er könnte ihr Versteck ausfindig machen."
Mann wie Frau tragen ein Geheimnis aus der Vergangenheit mit sich herum, und diese Begebenheiten funken immer wieder bedrohlich in ihre Beziehung. Die "verrückte" Frau ist die ehemals weltberühmte Schauspielerin Claudette Wells, die sogar einen Oscar erhalten hat. Sie ist extravagant und unberechenbar, war in erster Ehe verheiratet mit einem schwedischen Filmregisseur, der sie entdeckte und groß herausbrachte. Bei Dreharbeiten in Schweden ergriff Claudette mit ihrem gemeinsamen Sohn unerwartet die Flucht. Weg ist sie, spurlos verschwunden. Alle Welt soll glauben, sie und ihr Sohn wären ertrunken. Schließlich findet sie das einsame Haus in Irland, in dem sie Zuflucht sucht, abgeschottet von allen Menschen. Keiner darf sich ihr nähern, das Kind wird privat unterrichtet.
Auch Daniel hat eine gescheiterte Ehe hinter sich und lässt seine Frau mit zwei Kindern in den USA zurück. Nun versuchen sie ein neues Leben, Daniel ist verzaubert von Claudette, duldet all ihre Marotten und Exaltationen, und sie ziehen gemeinsam zwei eigene Kinder groß. Aus immer wieder neuer Perspektive erzählt O'Harrell, mal in der Ich-Form, mal stellt Claudette sich als "man" vor, oder ein auktorialer Erzähler mischt sich ins Gemenge der farbigen Familienereignisse.
Das komplizierte Zusammenleben funktioniert bis zu dem Zeitpunkt, an dem Daniel wegen einer Geburtstagsfeier seines ungeliebten Vaters nach New York reisen muss und im Autoradio vom Tod einer früheren heiß geliebten Frau erfährt. Von dieser Beziehung weiß Claudette nichts, er schweigt und verlängert seine Reise, um Nachforschungen anzustellen, denn eine tiefe Schuld schlummert in ihm. Als Daniel schließlich verspätet zu Hause wieder eintrifft, ist Claudette ein zweites Mal auf und davon. Wieder beginnt eine qualvolle Suche.
Maggie O'Farrell scheut keine Um- und Irrwege, das labyrinthische Geflecht ihrer Personenaufstellung in dramatische Szenen zu setzen. Als Leser muss man höllisch aufpassen, am Ball zu bleiben, denn die Schicksale verknäulen sich schnell und lösen sich nur langsam auf. Das alles erzählt die Autorin mit hintergründigem Witz und funkelndem Esprit. Ihre Übersetzerin, Kathrin Razum, folgt ihr dabei mit Geschmeidigkeit. Muss die Jagd auch noch in die Salzwüste im bolivianischen Hochgebirge führen? Eigentlich nicht. Aber die Autorin erfüllt eine unbändige Lust am Erzählen. Sie wirbelt ihre Figuren durcheinander, lässt die Zeit stillstehen oder beschleunigt sie temperamentvoll. Fast hinterlistig lässt O'Farrell Daniel räsonieren: "Wie anders hätte alles verlaufen können, wie winzig die Ursachen, wie gewaltig ihre Wirkung."
Nur das Ende überrascht in seiner Schlichtheit, so als ob das Leben doch einfach zu bewältigen wäre: "Wir müssen uns dem widmen, was vor uns liegt, nicht dem, was wir nicht bekommen können oder verloren haben. Wir müssen nach dem greifen, was erreichbar ist, und es festhalten, ganz fest." LERKE VON SAALFELD
Maggie O'Farrell: "Hier muss es sein". Roman.
Aus dem Englischen
von Kathrin Razum.
Piper Verlag,
München 2024.
544 S., geb., 24,- Euro.
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