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Ein Streifzug durch 1400 Jahre Islam Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in Rechtssystemen, die sich auf die Scharia berufen. In den westlichen Medien zum Schreckgespenst und Nährboden für islamistischen Terror erklärt, breitet sich ihr Geltungsgebiet ungebrochen weiter aus. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Angstbegriff "Scharia"? Der Rechtshistoriker und mit Preisen ausgezeichnete Reiseautor und Journalist Sadakat Kadri nimmt uns in diesem lebendig und spannend erzählten Buch mit auf eine Reise durch mehr als 1400 Jahre Geschichte, Hunderte von Überlieferungen und sieben…mehr

Produktbeschreibung
Ein Streifzug durch 1400 Jahre Islam Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in Rechtssystemen, die sich auf die Scharia berufen. In den westlichen Medien zum Schreckgespenst und Nährboden für islamistischen Terror erklärt, breitet sich ihr Geltungsgebiet ungebrochen weiter aus. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Angstbegriff "Scharia"? Der Rechtshistoriker und mit Preisen ausgezeichnete Reiseautor und Journalist Sadakat Kadri nimmt uns in diesem lebendig und spannend erzählten Buch mit auf eine Reise durch mehr als 1400 Jahre Geschichte, Hunderte von Überlieferungen und sieben islamische Länder. Mit dem besonderen Blick für die Absurditäten der Geschichte, einzelne Schicksale und große Zusammenhänge führt er in die Scharia ein, schildert ihre Ursprünge, Funktionsweisen und Veränderungen, erzählt dabei aber auch umfassend die Geschichte des Islam. Nicht zuletzt stellt Kadri die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, die stets immer weniger von denen abhängen, die sie schreiben als von denen, die sie anwenden.
Autorenporträt
Sadakat Kadri wurde 1964 in London als Sohn sehr gläubiger indischer Muslime geboren. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in Harvard arbeitet er seit knapp 25 Jahren als Anwalt in New York und London. Als 2001, nur wenige hundert Meter von seinem Büro entfernt, die beiden Flugzeuge ins World Trade Center fl ogen, schrieb er gerade an seinem Buch über die Geschichte des Rechtsin der westlichen Welt. Die Berichterstattung in den folgenden Wochen und Monaten und die vielen Meinungen und Leitartikel zur Scharia veranlassten ihn, eine neue Geschichte des Rechts zu schreiben; die Geschichte der Scharia. Sadakat Kadri lebt in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2014

Wie die Scharia das tägliche Leben der Muslime ordnet
Mit unseren individualistischen Lebensentwürfen hat das islamische Recht wenig zu tun: Sadakat Kadri zeigt, warum wir unsere Vorurteile trotzdem prüfen sollten

Das islamische Recht, die Scharia, so schrieb einmal einer seiner größten Kenner, Joseph Schacht (1902 bis 1969), sei "eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Islams an die zivilisierte Welt". Doch wie kann das sein? Steht nicht gerade die Scharia für etwas ganz und gar Unzeitgemäßes mit ihren Straf-Bestimmungen über Auspeitschung und Steinigung, Amputation von Gliedmaßen, Enthauptungen und mit anderen drakonischen Restriktionen, die ein aufgeklärtes Bewusstsein nur mit Abscheu und Empörung zur Kenntnis nehmen kann; mit ihrer rigiden Sexualmoral, ihrer systematischen Benachteiligung, ja Unterdrückung der Frauen, mit ihrer Einschnürung des individuellen Freiheitsdrangs der Menschen zugunsten kollektiv angewandter Dogmen über ein "gottgefälliges" Leben?

Kein Zweifel: So erscheint die Scharia. Und trotzdem empfiehlt es sich, die unter dem Eindruck von Terrorismus, Dschihadismus und Fundamentalismus zustande gekommenen negativen und einseitigen Urteile ein wenig zu befragen. Das religiöse Recht des Islam ist weitaus älter als tausend Jahre, schleppt moralische Auffassungen vormoderner Art mit sich herum, wie sie sich auch im Alten Testament finden (in der westlich-säkularen Welt freilich weitgehend verschwanden), hat insgesamt jedoch eine Entwicklung durchgemacht, die sich zwischen einem furchterregenden Dogmatismus einerseits und einem bisweilen durchaus menschenfreundlichen Pragmatismus andererseits hin und her bewegte. Wie bei so vielen Sachverhalten, liegen die Dinge auch hier nicht ganz so einfach, wie viele es vermuten oder behaupten.

Der Verlag Matthes & Seitz hat vor etlichen Jahren schon das in der Nachfolge Bertrand Russells stehende, äußerst islamkritische Werk Ibn Warraqs "Warum ich kein Muslim bin" publiziert; dass er jetzt Sadakat Kadris "Himmel auf Erden" herausbringt, ist ein wichtiger Beitrag zur pluralistischen Islam-Diskussion im Westen - zumal über die Scharia, die zu weiten Teilen weniger ein Gesetzbuch als vielmehr die in vielen Jahrhunderten gewachsene islamische Lebensordnung darstellt und Grundlage der islamischen Weltkultur geworden ist.

Der Autor dieser umfassenden Tour d'Horizon durch die islamische Lebenswirklichkeit ist selbst Jurist. Der 1964 als Sohn indischer Muslime in London geborene Kadri arbeitet seit einem Vierteljahrhundert als Anwalt in London und New York. Sein Spezialgebiet sind die Menschenrechte. Den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 erlebte er in unmittelbarer Nachbarschaft des Tatorts hautnah mit. Die Berichterstattung über den Islam in den westlichen Medien nach diesem Jahrhundertverbrechen, insbesondere über die Scharia, veranlasste Sadakat Kadri zur selbständigen Recherche und zum Schreiben dieses Buches.

Trotz etlicher Anmerkungen ist es kein streng wissenschaftliches Werk. Kadri schildert den Islam, seine Entstehung und Etablierung, als große religiös-politische "Erzählung", wie sie von den Muslimen geglaubt wird und bis heute (nach-)wirkt. Für ein kritisches Bewusstsein muss da vieles offen und ungeklärt bleiben. Im ersten Teil erfährt der Leser die Umstände, unter denen der Islam von Mohammed gestiftet wurde, wie er sich ausbreitete zu einem Weltreich, das einer Struktur bedurfte, einer "Ordnung der Gesellschaft".

Der "Wüstenpfad zum Wasser", zur Tränke - dies die eigentliche Bedeutung des arabischen Wortes "al-schari'a" - wurde zu einer Ordnung, die sich in drei Jahrhunderten auf durchaus dynamische Weise in einem lebhaften, oft kontroversen Diskurs entwickelte. Quellen sind der Koran, die Hadithe oder Überlieferungen des Propheten, der Analogieschluss (qiyas) und der consensus omnium der Rechtsgelehrten (idschma). Kadri informiert über die vier orthodoxen Rechtsschulen, die sich etablierten, und erwähnt auch jene Auslegungen, die nicht standhielten und wieder verschwanden.

Fast von Beginn an waren die Diskussionen der Sakraljuristen in der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) ein Ringen zwischen Rationalisten, die alle Quellen für das menschliche Denken und Interpretieren öffnen wollten (wie die Mutaziliten) und von der Geschaffenheit ("Zeitlichkeit") des Korans ausgingen, sowie den Traditionalisten und "Literalisten", deren Verständnis auf exakt wörtlichen Interpretationen der Quellen beruhte. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die rigide Strafpraxis der Scharia nur einen vergleichsweise geringen Teil des islamischen Rechts ausmacht.

Kadri zeigt, dass die Strafpraxis zeitweise von Kautelen getragen war, die in der blindwütigen Raserei heutiger Fanatiker überhaupt nicht zum Tragen kommen und folgerichtig zu einem falschen Bild verführen. In den letzten vierzig Jahren ist die Scharia durch das - politisch bis terroristisch bedingte - Wüten von Eiferern in einer Weise verkürzt worden, die nicht allein die Strafpraxis betrifft, sondern auch viele zivile Belange. Das auch im Westen viele bewegende Thema der "Unzucht" und ihrer Bestrafung (man schaue auch hier in das Alte Testament!) erscheint in einem anderen Licht, wenn man weiß, dass auf diesem Gebiet der "Sünde" eigentlich nur gestraft werden kann, wenn vier erwachsene Augenzeugen "die Penetration beobachtet haben". Kadri folgert daraus, all diese Bestimmungen und Bedingungen dienten ursprünglich vielleicht eher dazu, die Verleumdung und "falsch Zeugnis" zu bestrafen respektive unmöglich zu machen als die "Unzucht".

Viele Diskussionen, etwa über das Wesen einer gerechten Herrschaft, erinnern durchaus an westliche Diskurse. So vertrat der Theologe und Philosoph al Ghazali vor annähernd tausend Jahren die Auffassung, die Muslime sollten auch einem ungerechten Herrscher gehorchen, denn dies sei "besser als Anarchie". Das ähnelt der Auffassung von Thomas Hobbes, dessen Leviathan die Aufgabe hat, den Wolf im Menschen zu zügeln (homo homini lupus), den Krieg aller gegen alle. Doch gab es auch gegenteilige Meinungen, die in der Geschichte des Islam auch praktiziert wurden.

Verhärtungen der Scharia fanden Unterstützung und Zuspruch unter dem Eindruck, die Muslime müssten sich gegen Fremde und deren Einflüsse behaupten. So wurde Ibn Taimiya mit seinen gegen die mongolische Fremdherrschaft nach den Verheerungen durch Dschingis Khan und Hülägü gerichteten "Mongolen-Fatwas" zum Einbläser fast aller späteren Fundamentalisten. Vor allem auch von Mohammed Ibn Abdal Wahhab, der im 18. Jahrhundert zum Gründer der wahhabitisch-freudlosen Scharia-Auslegung wurde, die bis heute in Saudi-Arabien herrscht - mit allen katastrophalen Weiterungen, die saudischer Einfluss und saudisches Geld heute zwischen dem Hindukusch und Mali oder Nigeria zeitigen.

In Iran kann der Fundamentalismus - die Schiiten haben freilich ihre eigene Rechtsschule - ebenfalls als "Abwehr" des Westens gedeutet werden. Liberal war die Scharia freilich auch in Iran niemals - dieses Wort sollte man ohnehin meiden, solange man nicht über die Moderne und ihre philosophischen Voraussetzungen spricht. Doch gab es auch Theologen, die ein großes Herz hatten; gerade die persische Literatur, doch auch die klassische arabische machen deutlich, was in früheren Zeiten geduldet wurde und was nicht. Es war erstaunlich und mit einer flexibel interpretierten Scharia durchaus zu vereinen. Mit modern-individualistischen Lebensentwürfen, wie wir in unseren Ländern sie inzwischen als normal empfinden, war und ist dies allerdings nicht kompatibel, so wenig wie die Scharia-Auslegungen der ägyptischen Muslimbrüder (Sajid Qutb) oder des indo-muslimischen Gelehrten Abul Ala al Maududi.

Im zweiten Teil ist Kadri der modernen Lebenswirklichkeit auf der Spur. In Ländern wie Indien, Iran, der Türkei oder Ägypten verfolgt er, wie sich die Gelehrten insbesondere mit Fragen des Zusammenpralls mit der (westlichen) Moderne, mit dem Thema Krieg (Dschihad), der religiösen Toleranz und der Strafpraxis, auseinandersetzen. Gerade die Unruhe, welche die islamischen Länder seit nun mehr als drei Jahren erfasst hat und die zu teilweise bürgerkriegsartigen, blutigen Erschütterungen führte, wird auch darüber entscheiden, wer in der Zukunft das Monopol der Auslegung - und damit der Veränderung der Scharia auf eine tragfähige Zukunft in der globalisierten Welt, die die Menschenrechte nicht ad acta legen wird - behält: Werden es die Traditionalisten und "hardliner" sein oder reformbereite Kräfte? Der Autor will und kann das natürlich nicht beantworten.

WOLFGANG GÜNTER LERCH

Sadakat Kadri: "Himmel auf Erden". Eine Reise durch die Länder der Scharia von den Wüsten des alten Arabien bis zu den Städten der muslimischen Moderne.

Aus dem Englischen von Ilse Utz. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2014, 320 S., geb., 22,90[Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Dirk Pilz erweckt zwar ein wenig den Eindruck, als sei der üble Ruf, den die Scharia bei uns genießt, ein Problem westlicher Ignoranz, aber das ist offenbar nicht die Sache des indischen Autors Sadakat Kadri. Der muslimische Anwalt beschreibt in seinem Buch die Geschichte der islamischen Rechtswissenschaft und ihren Wandel im Laufe der Zeit. Dabei betont er vor allem die Dynamik, der die Auslegung der Scharia immer unterworfen war. Hier erkennt der Autor laut Pilz den Knackpunkt des salafistischen Fundamentalismus: die Weigerung, Wandel und Vielfalt zuzulassen. Der Rezensent ist trotzdem nicht recht glücklich geworden mit diesem Buch. Er nennt es "theologisch unterernährt" und vermisst neben einigen zentralen islamischen Rechtsgelehrten auch die Kenntnisnahme neuerer deutscher Studien.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2014

Barmherzigkeit und barbarische Strafen
Der britische Jurist Sadakat Kadri bringt neue Perspektiven in die Debatte über die Scharia
Es dürfte keine Übertreibung sein, wenn man nach der Lektüre von „Himmel auf Erden“ feststellt, dass das Wort „Scharia“ für viele westliche Beobachter den Inbegriff dessen darstellt, was sie am Islam abstößt: Die willkürliche Vermischung von Religion mit Politik und Recht; barbarisch anmutende, sittenstrenge Strafen; Unzeitgemäßheit; Unreformierbarkeit. Für den gläubigen Durchschnittsmuslim gilt hingegen das glatte Gegenteil: Zeitlosigkeit; Herleitung aus höchsten Prinzipien; ausgeglichenes Verhältnis von Härte und Barmherzigkeit; das ganze Leben umfassend. Das Wort „Scharia“ ist daher für viele gläubige Muslime synonym mit Gerechtigkeit und gutem Leben. Aber beide Auffassungen, auch das wird bei der Lektüre klar, sind einseitige und verzerrte Wahrnehmungen eines hochkomplexen Gegenstandes. In dieser einander gegenüberstehenden Zuspitzung sind sie zudem ein Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts, einer Orientalistik im Dienst imperialer Interessen und von muslimischer Seite eines anti-imperialen Erwachens, einhergehend mit der Politisierung der Religion. Ist eine Vermittlung zwischen beiden Positionen überhaupt noch möglich?
  Nichts geringeres versucht das Buch des aus Indien stammenden britischen Juristen Sadakat Kadri, das in England ein großer Erfolg war und sogar vom Londoner Bürgermeister Boris Johnson empfohlen wurde. Mit gutem Grund. Nicht nur den Londoner Muslimen und Islamfeinden kann dieses Buch helfen, ideologisch verhärtete Positionen an die komplexe Realität anzugleichen. Kadri geht dabei zweigleisig vor: Zum einen – der erste Teil des Buchs – referiert er die Entstehungsgeschichte der islamischen Rechtsvorstellungen, zeigt ihre Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit auf. Die Scharia ist Menschenwerk, oder, um es für Gläubige annehmbarer auszudrücken: die Scharia ist immer aus konkreten historischen Konstellationen heraus interpretiert worden, sie ist das, was die Menschen aus Gottes Wille machen. Genau diese Erkenntnis, die in den Diskussionen muslimischer Rechtsgelehrter seit alters her als selbstverständlich mitgedacht war, ist vielen Muslimen im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts abhanden gekommen. Stattdessen hat sich die – gegen Ende des Mittelalters in einer Sonderströmung des arabischen Rechts entwickelte, von Ibn Taimiya (1263-1328) ausformulierte – Vorstellung herausgebildet, es könne einen unmittelbaren, gleichsam interpretationsfreien Zugang zur göttlichen Gerechtigkeit geben, wenn man die Scharia nur wörtlich nimmt. Dass diese chiliastische Vorstellung einen großen Reiz hat, ist umso verständlicher, wenn man bedenkt, zu welchen politischen und sozialen Zuständen das bisherige Verfahren menschlicher Vermittlung des Rechts in der Gegenwart geführt hat. Die Akteure dieser Vermittlung, die Rechtsgelehrten, hatten sich, da allzu oft im Dienste dubioser Mächte stehend, diskreditiert. Warum sollte man den Himmel auf Erden nicht direkt verwirklichen können, indem man einfach tut, was Gott sagt? Jeder religiöse Fundamentalismus funktioniert so; aber der muslimische stellt sich damit besonders quer zum modernen Rechtsverständnis.
  Den Versuch, die Scharia über sich selbst aufzuklären, beginnt Kadri mit einem zuweilen hektisch anmutenden Abriss der islamischen Geschichte. Er zeigt, dass die Scharia nicht gleich fertig mit der Lehre Mohammeds schon da war. Auf den Koran, dürr und widersprüchlich in seinen Rechtsvorstellungen, kann kein Rechtssystem gegründet werden. Daher kam es in den ersten zwei Jahrhunderten nach Mohammeds Tod (632) zur Entwicklung weiterer Rechtsquellen: den erst wild gesammelten, dann zum Kanon ausgesiebten Überlieferungen (Hadith) mit den Aussprüchen und Taten Mohammeds, ferner die zur Zeit des Propheten auf der arabischen Halbinsel gepflegte Rechtspraxis, der Analogieschluss, der Konsens der Rechtsgelehrten und als letztes, viel diskutiert, von Hardlinern verworfen, die selbständige Urteilsfindung durch Überlegung (Idjtihad) – das alles noch verkompliziert durch die vier Rechtsschulen mit ihren je unterschiedlichen Prioritäten, durch Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten, durch mehr oder weniger berücksichtigte lokale Traditionen von Nordafrika bis Indonesien und seit dem neunzehnten Jahrhundert auch durch moderne westliche Rechtsauffassungen. Dass angesichts dieses Wildwuchses die tabula-rasa-Lösung von Salafisten und Fundamentalisten attraktiv ist, sollte auch der abendländische Beobachter nachvollziehen können. Die Salafisten sind, wenn ein Vergleich mit dem Wildwuchs des deutschen Steuersystems erlaubt ist, die Paul Kirchhoffs des Islam.
  Sadakat Kadris Darstellung der islamischen Rechtsgeschichte im ersten Teil seines Buchs ist flott geschrieben, aber die eigentliche Stärke liegt im zweiten Teil, der Darstellung der Scharia in der Gegenwart. Hier bringt Kadri, selbst Jurist, zahlreiche neue Perspektiven ein. So unangenehm die Scharia sich ausnimmt, wenn man sie wörtlich umsetzen will, und so viele Bewegungen sich darauf berufen, so selten werden gerade die härtesten Strafen angewandt. Trotz der Scharia verzeichnen zum Beispiel die osmanischen Geschichtsbücher durch alle Jahrhundert nur eine einzige Steinigung durch Ehebruch. Und heute prägt zwar der salafistische Rechtsfundamentalismus den Diskurs, bestimmt die tatsächliche Rechtspraxis und Politik jedoch nur in Ausnahmefällen. Selbst in Ländern, in denen offiziell die Scharia gilt, wird, so berichtet Kadri, oft versucht, die härtesten Strafen (sogenannte Hadd-Strafen) zu vermeiden. Um einer wieder schwanger gewordenen Witwe den Vorwurf eines unehelichen Geschlechtsverkehrs und damit die Steinigung zu ersparen, wurde zum Beispiel in Nigeria die Rechtsfiktion erfunden, dass eine Schwangerschaft mehrere Jahre dauern könnte, so dass die Frau noch von ihrem vor Jahren verstorbenen Ehemann schwanger wäre. Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund der Überzeugung, dass die Herstellung absoluter Gerechtigkeit nicht Menschensache ist, sondern nur von Gott selbst bewerkstelligt werden kann. Daher erscheint es in der Regel besser, die ebenfalls im Koran gebotene Barmherzigkeit walten zu lassen, und genau das war, ohne die Ausnahmen leugnen zu wollen, in der islamischen Geschichte die vorherrschende Praxis.
  Zurecht stellt Kadri allerdings auch fest, dass es heutzutage nicht ausreicht, barbarische Strafen einfach weg zu interpretieren oder mit Rechtsfiktionen auszuhebeln: Die Muslime sollten sich dazu durchringen, sie grundsätzlich abzulehnen. Kadris Unterscheidung zwischen himmlischer und letztlich unerreichbarer und andererseits irdischer, das heißt menschlich-unvollkommener Gerechtigkeit bietet dafür eine gute Argumentationsgrundlage: Solange die Menschen nicht Gott und die Muslime nicht Allah spielen, besteht Hoffnung!
STEFAN WEIDNER
Kann man den Himmel auf
Erden nicht direkt verwirklichen?
Nur Gott kann absolute
Gerechtigkeit herstellen
  
  
  
Sadakat Kadri: Himmel auf Erden. Eine Reise auf den Spuren der Scharia. Aus dem Englischen von Ilse Utz. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014. 384 Seiten, 29,90 Euro.
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