Charkiw unterwegs – er evakuiert Kinder und alte Leute aus den Vororten, verteilt Lebensmittel, koordiniert Lieferungen an das Militär und gibt Konzerte. Die Posts in den sozialen Netzwerken dokumentieren seine Wege durch die Stadt und sprechen den Charkiwern Mut zu, unermüdlich, Tag für Tag. Der Tod ist allgegenwärtig, Freunde kommen um. Der Hass wächst. Als die Bilder von Butscha um die Welt gehen, versagt auch Zhadan die Stimme. »Es gibt keine Worte. Einfach keine. Haltet durch, Freunde. Jetzt gibt es nur noch Widerstand, Kampf und gegenseitige Unterstützung.«
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2022Chronik einer belagerten Stadt
Das neue Buch des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan "Himmel über Charkiw" ist ein Zeugnis davon, wie der Krieg Menschen verroht.
Die Kosakenfrisur mit der Strähne, die sich Serhij Zhadan am 15. März rasieren lässt, mitten im Krieg, mitten in Charkiw, ist noch zu erkennen, als wir uns Anfang Oktober im herbstlichen Frankfurt treffen. Der Mythos der Kosakenkrieger ist für die Ukraine in ihrem Befreiungskampf ein wichtiges Symbol. Gegenüber vom Hotel des Schriftstellers, der am 23. Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wird, befindet sich das ukrainische Konsulat. Blumen liegen vor dem verschlossenen Tor, blau-gelbe Kinderzeichnungen und ein Bild der heiligen Maria. "Auch wenn Krieg herrscht, die Hipster-Friseure haben geöffnet", hatte Zhadan an jenem Märztag bei Facebook gepostet mit einem Foto von sich. Anderthalb Stunden zuvor hatten noch die Sirenen über der Stadt geheult. Dass Charkiw an diesem Morgen "sonnig und leer" sei, notierte Zhadan. Drei Wochen ist es zu diesem Zeitpunkt her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Dieser Frühling in Charkiw tut weh.
Wie die Sprache mit dem Krieg ringt, darüber schreibt Serhij Zhadan nicht nur im Nachwort zu seinem neuen Buch "Himmel über Charkiw", das am Montag bei Suhrkamp erscheint. Die Sammlung von Facebook-Posts, die Zhadan seit geraumer Zeit verfasst und das Buch von Kriegsbeginn an versammelt, ist selbst der Beleg dafür. Das ist die Realität von Serhij Zhadan nicht erst seit dem 24. Februar, denn in Charkiw in der östlichen Ukraine "herrscht seit acht Jahren Krieg, der Westen hat es nur nicht wahrhaben wollen". Ernst und auf den Moment fokussiert sitzt der Achtundvierzigjährige in der geschäftigen Hotellobby. Er ist Schriftsteller und muss doch die Literatur, zumindest jetzt, beiseitelassen. Weil ihm angesichts des Kriegs die Sprache fehlt. Es ist, "als stocke dir der Atem, als bekämst du keine Luft, sodass die Worte verloren gehen, auseinanderfallen, unpassend erscheinen". Die Wut und das Gefühl der Ohnmacht sind überwältigend angesichts des Überfalls auf sein Land, aber auch, weil er kein Instrumentarium hat, das ihn begreifen lässt, was geschieht.
Die Realität von Zhadan übersteigt die Vorstellungskraft, und die Kriegswirklichkeit hat die fiktionale Welt verdrängt. So ist der Untertitel des Buchs "Nachrichten vom Überleben im Krieg" wörtlich zu nehmen. In "Himmel über Charkiw" verbietet sich, wofür dieser Autor berühmt ist: Metaphorik, Ambivalenz, Humor. Hier reihen sich vielmehr raue, ungeschliffene, aus dem Moment heraus verfasste Skizzen aneinander, die man in ihrer lakonischen Dringlichkeit atemlos verfolgt. Am Tag des Kriegsausbruchs berichtet er, wie er mit seinen Bandkollegen den ganzen Tag unterwegs war. "Jetzt kommen wir heim, denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien, und hier gehören wir hin." Vier Tage später ist der Krieg in der Stadt. "In Charkiw kracht es", schreibt Zhadan, "Freunde, geht nicht ohne Ausweis auf die Straße. Geht besser überhaupt nicht ohne Not raus." Am 1. März warnt er: "Charkiwer, gebt acht. Wenn ihr könnt, helft denjenigen, die Hilfe brauchen. Nahrung, Medikamente, Transportmöglichkeiten."
Zusammengenommen ergeben die Mitteilungen, Fotos und geteilten Links eine Chronik des Krieges und mehr noch eine Chronik der Strategien des Überlebens. Wie die Fokussierung zu emotionaler Verhärtung führt, auch das tritt hier zutage. Da ist bald kein Raum mehr für Ambivalenz, da gibt es irgendwann nur noch "die" und "wir". Da schreibt der aktuelle Friedenspreisträger, der in seinen Romanen mit literarischen Metaphern und vielschichtigen Bildern gegen eine eindeutige Perspektive angeht wie kaum ein anderer, nunmehr so: "Tod den russischen Invasoren", immer wieder auch "Die Russen sind Barbaren" oder "Monster". Was sich aus der Situation heraus erklären und auch begreifen lässt angesichts von tatsächlich monströsen Kriegsverbrechen der Invasoren, offenbart doch zugleich, dass alles Schreiben in einer solchen Situation ständig Gefahr läuft, eine in sich wohnende Eskalation in der Sprache mitzugehen. Denn aus den russischen "Barbaren" oder "Monstern" wird in Zhadans Blogeinträgen irgendwann "Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist" und der "zurück über die Grenze und ins Nichts geworfen" werden soll.
Menschen sind die Invasoren für den ukrainischen Autor spätestens an dieser Stelle nicht mehr. Begreifen lässt sich das überhaupt nur aus der Binnenlogik des Kriegs. Solche Worte, gewählt von einem, der um das Gewicht von Worten weiß, machen klar: Nach dem Ende des Krieges wird es unabsehbar lange brauchen, bis heilen kann, was er zerstört hat.
"Wir halten stand. Sie können unsere Häuser zerstören, aber nicht unsere Verachtung für sie. Unseren Hass." Wie soll man ihn auch nicht verstehen, diesen Hass, der sich Bahn bricht. Angesichts gefallener Soldaten, die Zhadan persönlich kannte. Angesichts der Frauen, die er zu den Beerdigungen ihrer Männer begleitet. Angesichts der Freunde, die als Zivilisten auf der Straße erschossen werden. Angesichts der Angst, die ukrainische Kinder aushalten müssen. Butscha, bombardierte Krankenhäuser, Kindergärten und Museen zerstört, das alles verarbeitet dieser Nachrichtenstrom in einem Buch, das nicht aus der distanzierten Beobachterposition heraus geschrieben ist, sondern aus unmittelbarer Teilhabe. Zhadan erfährt am eigenen Leib, wie er in Frankfurt erzählt, dass die Russen gekommen sind, um die ukrainische Identität zu zerstören, ihre Kultur, ihre Bildung. Während er das sagt, sitzt er reglos da. Sicher ist er auch müde, weil er am Vortag während einer Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung ausgiebig über den Krieg gesprochen hat und später am Abend mit seiner Band "Zhadan i Sobaky" ein Konzert gegeben hat. In Wahrheit hat ihn die Musik wohl eher abgelenkt von dem, was ihn seit Monaten nicht mehr loslässt.
Zhadan konnte schon eine Woche nach Kriegsausbruch nicht mehr lesen und schreiben. Die Texte zerfielen vor seinen Augen, sich zu konzentrieren wurde angesichts der Nachrichten unmöglich. "Der Krieg verschiebt die Perspektive", Metaphern werden angesichts zerschossener Wohnhäuser obszön und jegliche Literarisierung von Wirklichkeit für diesen großartigen Schriftsteller zweifelhaft. So kann er, statt Realität in Literatur zu verdichten, momentan einfach nur benennen, was er sieht, was er hört, was er denkt, er schreibt es hastig auf, ungeordnet, ohne literarisches Netz und doppelten Boden. Er ist im Krieg, und er tut alles, um mit seinen Mitteln den Widerstand zu organisieren
Charkiw, die Stadt, in der er seit seiner Studienzeit lebt, hat er auch in den schlimmsten Phasen immer nur kurzfristig verlassen, für Auftritte wie jetzt in Frankfurt oder zur Buchmesse. Zhadan ist der Autor, dessen Romane "Internat" von 2017 oder "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (2010) man lesen sollte, um zu verstehen, was in der Ukraine passiert. Tatsächlich besitzt manche Literatur diese erstaunliche Fähigkeit, als Speicher nicht bloß zurückzublicken, sondern Wissen auch zu antizipieren. Darum geht es im "Himmel über Charkiw" naturgemäß nicht mehr. Sondern darum, Medikamente für Krankenhäuser zu beschaffen, technische Geräte für die Front, Lebensmittel für die Alten, Kugelschreiber, Zahnpasta oder Filzstifte für die Kinder, die seit Monaten in der U-Bahn leben müssen. Vor allem aber zeigt "Himmel über Charkiw", wie Zhadan als Kommunikator agiert. Wie er über die sozialen Medien jeden Tag aufs Neue Verbindungen herstellt, um zu helfen, um sich auszutauschen, zu trösten, ermutigen und der Welt zu zeigen: "Wir geben nicht auf."
Wenn das Schreiben dem Tod widerspricht, wie er schreibt, weil der Wunsch, Gefühle und Bedeutungen festzuhalten sich nicht verträgt mit der Idee von Zerstörung und Vernichtung, so sind diese Nachrichten aus der Kriegszone genau das: ein Einspruch gegen das Verstummen. Entstanden, erklärt er, seien sie aus der Notwendigkeit, Gesichter und Namen, aber auch Stimmungen, Hoffnungen und Enttäuschungen wenigstens skizzenhaft festzuhalten. "Manche dieser Erinnerungen reichen weit zurück: "Ich weiß noch, wie mich Außenminister Steinmeier leicht gelangweilt nach der Lage in der Ukraine befragte", schreibt er über eine Begegnung 2014, die Serhij Zhadan nicht vergessen hat.
Die Notate lassen sich auch als Lebenszeichen für all die anderen da draußen lesen, bei denen der Krieg den Schmerz genauso auftürmt wie bei ihm. Wenn man wie in einer Liveübertragung den Posts folgt, Tag für Tag, Eintrag für Eintrag, gerät auch die Stadt zur Konstante, um die herum sich alles schart, in der man sich versteckt, die verwundbar ist und die so sehr geliebt wird von ihren Einwohnern, dass sie sie nicht verlassen. In dieser Timeline wird Charkiw zur Unbezwingbaren, zu einer Stadt, die leben will und nicht aufgibt.
Die Studentenstadt und Schauplatz der ukrainischen Avantgarde hat Zhadan schon früher zur Protagonistin gemacht. In der umkämpften Metropole kennt er jede Straße und registriert nun, wie sich nicht nur die Topographie durch den Krieg verändert, sondern immer wieder beschreibt er die Wolken über der Stadt in ihren stets neuen Formationen.
Der Himmel ist immerzu präsent. Und wird darüber doch so etwas wie eine Chiffre für all das, was über dieser Stadt hängt. Weil dieser Himmel nicht mehr nur Licht und Wärme bringt, sondern Raketen und also Tod und Zerstörung. Während seines letzten Bucheintrags vom 24. Juni ist es plötzlich eigentümlich ruhig in der Festungsstadt. "Es wird ganz und gar abendlich. Vor uns die Nacht. Absolute Stille. Wie sehr wünscht man sich, dass es bleibt. Ruht euch aus, Freunde. Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher." Sein Optimismus scheint unerschütterlich. SANDRA KEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das neue Buch des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan "Himmel über Charkiw" ist ein Zeugnis davon, wie der Krieg Menschen verroht.
Die Kosakenfrisur mit der Strähne, die sich Serhij Zhadan am 15. März rasieren lässt, mitten im Krieg, mitten in Charkiw, ist noch zu erkennen, als wir uns Anfang Oktober im herbstlichen Frankfurt treffen. Der Mythos der Kosakenkrieger ist für die Ukraine in ihrem Befreiungskampf ein wichtiges Symbol. Gegenüber vom Hotel des Schriftstellers, der am 23. Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wird, befindet sich das ukrainische Konsulat. Blumen liegen vor dem verschlossenen Tor, blau-gelbe Kinderzeichnungen und ein Bild der heiligen Maria. "Auch wenn Krieg herrscht, die Hipster-Friseure haben geöffnet", hatte Zhadan an jenem Märztag bei Facebook gepostet mit einem Foto von sich. Anderthalb Stunden zuvor hatten noch die Sirenen über der Stadt geheult. Dass Charkiw an diesem Morgen "sonnig und leer" sei, notierte Zhadan. Drei Wochen ist es zu diesem Zeitpunkt her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Dieser Frühling in Charkiw tut weh.
Wie die Sprache mit dem Krieg ringt, darüber schreibt Serhij Zhadan nicht nur im Nachwort zu seinem neuen Buch "Himmel über Charkiw", das am Montag bei Suhrkamp erscheint. Die Sammlung von Facebook-Posts, die Zhadan seit geraumer Zeit verfasst und das Buch von Kriegsbeginn an versammelt, ist selbst der Beleg dafür. Das ist die Realität von Serhij Zhadan nicht erst seit dem 24. Februar, denn in Charkiw in der östlichen Ukraine "herrscht seit acht Jahren Krieg, der Westen hat es nur nicht wahrhaben wollen". Ernst und auf den Moment fokussiert sitzt der Achtundvierzigjährige in der geschäftigen Hotellobby. Er ist Schriftsteller und muss doch die Literatur, zumindest jetzt, beiseitelassen. Weil ihm angesichts des Kriegs die Sprache fehlt. Es ist, "als stocke dir der Atem, als bekämst du keine Luft, sodass die Worte verloren gehen, auseinanderfallen, unpassend erscheinen". Die Wut und das Gefühl der Ohnmacht sind überwältigend angesichts des Überfalls auf sein Land, aber auch, weil er kein Instrumentarium hat, das ihn begreifen lässt, was geschieht.
Die Realität von Zhadan übersteigt die Vorstellungskraft, und die Kriegswirklichkeit hat die fiktionale Welt verdrängt. So ist der Untertitel des Buchs "Nachrichten vom Überleben im Krieg" wörtlich zu nehmen. In "Himmel über Charkiw" verbietet sich, wofür dieser Autor berühmt ist: Metaphorik, Ambivalenz, Humor. Hier reihen sich vielmehr raue, ungeschliffene, aus dem Moment heraus verfasste Skizzen aneinander, die man in ihrer lakonischen Dringlichkeit atemlos verfolgt. Am Tag des Kriegsausbruchs berichtet er, wie er mit seinen Bandkollegen den ganzen Tag unterwegs war. "Jetzt kommen wir heim, denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien, und hier gehören wir hin." Vier Tage später ist der Krieg in der Stadt. "In Charkiw kracht es", schreibt Zhadan, "Freunde, geht nicht ohne Ausweis auf die Straße. Geht besser überhaupt nicht ohne Not raus." Am 1. März warnt er: "Charkiwer, gebt acht. Wenn ihr könnt, helft denjenigen, die Hilfe brauchen. Nahrung, Medikamente, Transportmöglichkeiten."
Zusammengenommen ergeben die Mitteilungen, Fotos und geteilten Links eine Chronik des Krieges und mehr noch eine Chronik der Strategien des Überlebens. Wie die Fokussierung zu emotionaler Verhärtung führt, auch das tritt hier zutage. Da ist bald kein Raum mehr für Ambivalenz, da gibt es irgendwann nur noch "die" und "wir". Da schreibt der aktuelle Friedenspreisträger, der in seinen Romanen mit literarischen Metaphern und vielschichtigen Bildern gegen eine eindeutige Perspektive angeht wie kaum ein anderer, nunmehr so: "Tod den russischen Invasoren", immer wieder auch "Die Russen sind Barbaren" oder "Monster". Was sich aus der Situation heraus erklären und auch begreifen lässt angesichts von tatsächlich monströsen Kriegsverbrechen der Invasoren, offenbart doch zugleich, dass alles Schreiben in einer solchen Situation ständig Gefahr läuft, eine in sich wohnende Eskalation in der Sprache mitzugehen. Denn aus den russischen "Barbaren" oder "Monstern" wird in Zhadans Blogeinträgen irgendwann "Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist" und der "zurück über die Grenze und ins Nichts geworfen" werden soll.
Menschen sind die Invasoren für den ukrainischen Autor spätestens an dieser Stelle nicht mehr. Begreifen lässt sich das überhaupt nur aus der Binnenlogik des Kriegs. Solche Worte, gewählt von einem, der um das Gewicht von Worten weiß, machen klar: Nach dem Ende des Krieges wird es unabsehbar lange brauchen, bis heilen kann, was er zerstört hat.
"Wir halten stand. Sie können unsere Häuser zerstören, aber nicht unsere Verachtung für sie. Unseren Hass." Wie soll man ihn auch nicht verstehen, diesen Hass, der sich Bahn bricht. Angesichts gefallener Soldaten, die Zhadan persönlich kannte. Angesichts der Frauen, die er zu den Beerdigungen ihrer Männer begleitet. Angesichts der Freunde, die als Zivilisten auf der Straße erschossen werden. Angesichts der Angst, die ukrainische Kinder aushalten müssen. Butscha, bombardierte Krankenhäuser, Kindergärten und Museen zerstört, das alles verarbeitet dieser Nachrichtenstrom in einem Buch, das nicht aus der distanzierten Beobachterposition heraus geschrieben ist, sondern aus unmittelbarer Teilhabe. Zhadan erfährt am eigenen Leib, wie er in Frankfurt erzählt, dass die Russen gekommen sind, um die ukrainische Identität zu zerstören, ihre Kultur, ihre Bildung. Während er das sagt, sitzt er reglos da. Sicher ist er auch müde, weil er am Vortag während einer Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung ausgiebig über den Krieg gesprochen hat und später am Abend mit seiner Band "Zhadan i Sobaky" ein Konzert gegeben hat. In Wahrheit hat ihn die Musik wohl eher abgelenkt von dem, was ihn seit Monaten nicht mehr loslässt.
Zhadan konnte schon eine Woche nach Kriegsausbruch nicht mehr lesen und schreiben. Die Texte zerfielen vor seinen Augen, sich zu konzentrieren wurde angesichts der Nachrichten unmöglich. "Der Krieg verschiebt die Perspektive", Metaphern werden angesichts zerschossener Wohnhäuser obszön und jegliche Literarisierung von Wirklichkeit für diesen großartigen Schriftsteller zweifelhaft. So kann er, statt Realität in Literatur zu verdichten, momentan einfach nur benennen, was er sieht, was er hört, was er denkt, er schreibt es hastig auf, ungeordnet, ohne literarisches Netz und doppelten Boden. Er ist im Krieg, und er tut alles, um mit seinen Mitteln den Widerstand zu organisieren
Charkiw, die Stadt, in der er seit seiner Studienzeit lebt, hat er auch in den schlimmsten Phasen immer nur kurzfristig verlassen, für Auftritte wie jetzt in Frankfurt oder zur Buchmesse. Zhadan ist der Autor, dessen Romane "Internat" von 2017 oder "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (2010) man lesen sollte, um zu verstehen, was in der Ukraine passiert. Tatsächlich besitzt manche Literatur diese erstaunliche Fähigkeit, als Speicher nicht bloß zurückzublicken, sondern Wissen auch zu antizipieren. Darum geht es im "Himmel über Charkiw" naturgemäß nicht mehr. Sondern darum, Medikamente für Krankenhäuser zu beschaffen, technische Geräte für die Front, Lebensmittel für die Alten, Kugelschreiber, Zahnpasta oder Filzstifte für die Kinder, die seit Monaten in der U-Bahn leben müssen. Vor allem aber zeigt "Himmel über Charkiw", wie Zhadan als Kommunikator agiert. Wie er über die sozialen Medien jeden Tag aufs Neue Verbindungen herstellt, um zu helfen, um sich auszutauschen, zu trösten, ermutigen und der Welt zu zeigen: "Wir geben nicht auf."
Wenn das Schreiben dem Tod widerspricht, wie er schreibt, weil der Wunsch, Gefühle und Bedeutungen festzuhalten sich nicht verträgt mit der Idee von Zerstörung und Vernichtung, so sind diese Nachrichten aus der Kriegszone genau das: ein Einspruch gegen das Verstummen. Entstanden, erklärt er, seien sie aus der Notwendigkeit, Gesichter und Namen, aber auch Stimmungen, Hoffnungen und Enttäuschungen wenigstens skizzenhaft festzuhalten. "Manche dieser Erinnerungen reichen weit zurück: "Ich weiß noch, wie mich Außenminister Steinmeier leicht gelangweilt nach der Lage in der Ukraine befragte", schreibt er über eine Begegnung 2014, die Serhij Zhadan nicht vergessen hat.
Die Notate lassen sich auch als Lebenszeichen für all die anderen da draußen lesen, bei denen der Krieg den Schmerz genauso auftürmt wie bei ihm. Wenn man wie in einer Liveübertragung den Posts folgt, Tag für Tag, Eintrag für Eintrag, gerät auch die Stadt zur Konstante, um die herum sich alles schart, in der man sich versteckt, die verwundbar ist und die so sehr geliebt wird von ihren Einwohnern, dass sie sie nicht verlassen. In dieser Timeline wird Charkiw zur Unbezwingbaren, zu einer Stadt, die leben will und nicht aufgibt.
Die Studentenstadt und Schauplatz der ukrainischen Avantgarde hat Zhadan schon früher zur Protagonistin gemacht. In der umkämpften Metropole kennt er jede Straße und registriert nun, wie sich nicht nur die Topographie durch den Krieg verändert, sondern immer wieder beschreibt er die Wolken über der Stadt in ihren stets neuen Formationen.
Der Himmel ist immerzu präsent. Und wird darüber doch so etwas wie eine Chiffre für all das, was über dieser Stadt hängt. Weil dieser Himmel nicht mehr nur Licht und Wärme bringt, sondern Raketen und also Tod und Zerstörung. Während seines letzten Bucheintrags vom 24. Juni ist es plötzlich eigentümlich ruhig in der Festungsstadt. "Es wird ganz und gar abendlich. Vor uns die Nacht. Absolute Stille. Wie sehr wünscht man sich, dass es bleibt. Ruht euch aus, Freunde. Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher." Sein Optimismus scheint unerschütterlich. SANDRA KEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Tobias Lehmkuhl gibt zu bedenken, dass Serhij Zhadans hier versammelte Social-Media-Posts keinen literarischen Anspruch haben. Dafür ergeben sie laut Rezensent ein historisches Dokument, das zusammen mit den in den Band übernommenen Fotos durchaus Anschaulichkeit vermittelt, wenngleich nicht als oberstes Ziel. Das liegt laut Lehmkuhl in der Dokumentation eines Gemeinschaftsgefühls und einer Heimatliebe, wie sie die Leute von Charkiw und den Autor erfüllen. Als "affektive Botschaften" sind die Texte aus dem Krieg für Lehmkuhl zugleich Aufrufe zum Widerstand und zum Durchhalten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Alltag
einer
brennenden
Stadt
„Dies ist ein Vernichtungskrieg und
wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren“:
Ein Treffen mit Serhij Zhadan, dessen
Tagebücher aus Charkiw
schon jetzt zum Besten gehören,
was man aus der Ukraine heute lesen kann
Es herrscht immer ein gewisse Grundanspannung, wenn man als westlicher Journalist Serhij Zhadan gegenübersitzt. Hauptberuflich gibt dieser Mann Ska-Punk-Konzerte mit seiner Band
Zhadan und die Hunde. In seinem Zweitberuf als bedeutendster ukrainischer
Schriftsteller seiner Generation schreibt er Romane, in denen westliche Journalisten Nebenrollen als vertrottelte Gaffer
einnehmen, die ukrainischen Frauen hinterhersteigen und ahnungslose Fragen stellen.
In seinen frühen Gedichten hatte man auch schon den Eindruck, dass sich darin eine derbe, schlammige, besoffene Männlichkeit absichtsvoll absetzte von der parfümierten, selbstbezogenen Empfindsamkeit des Westens. Und auch heute noch rechnet man unwillkürlich jederzeit damit, dass er mitten im Satz aufsteht, um sich dem Partisanenkampf anzuschließen. Man muss seine Fragen schnell stellen, sonst ist er womöglich einfach weg.
Für Harold Bloom war der „strong poet“ jemand, der seine Künstlerperson aus der Angst erschuf, seinen literarischen Vorbildern zu ähnlich zu sein. Serhij Zhadan ist ein „strong poet“ auch in dem Sinne, wie man ein „strongman“ ist.
Eine Geschichte, die den interventionistischen Dichter Serhij Zhadan gut charakterisiert: 2018 nahm er einmal an einem deutsch-ukrainischen Autorentreffen in Mariupol teil und obwohl er der mit Abstand prominenteste Autor war, sagte er während des ersten Konferenztages kein Wort und verunsicherte die ganze Runde. Den zweiten Tag schwänzte er ganz und als er am dritten Tag gut gelaunt und erfrischt wieder an seinem Platz saß, kam raus, dass er an die Front gefahren war, um den Tag stattdessen mit ukrainischen Soldaten zu verbringen, die sich dort Russland entgegenwarfen und die ihn natürlich alle aus dem Fernsehen kannten. Bisschen Selfies machen, bisschen quatschen, bisschen traurige Lieder singen.
Im selben Jahr erschien auch „Internat“, der Roman, der ihn in ganz Europa bekannt machte. Es geht dort um einen Mann mittleren Alters, mittleren Charakters und mittlerer Ambition, der seine Feierabende am liebsten vor dem Fernseher verdämmert, aber eines Morgens vor die Tür tritt und von Soldaten und Checkpoints umgeben ist. Während der Besatzung, deren Ursprung nie näher erläutert wird, entdeckt er auf einmal Qualitäten an sich, mit denen er selbst am allerwenigsten gerechnet hätte: Wagemut, Tapferkeit, Widerstandsfähigkeit. Ihm kommt der Gedanke, dass er in der Nähe noch einen Neffen im Internat hat, und kämpft sich durch das wüste Land, um den Jungen rauszuholen. Der Roman ist nicht zuletzt eine listige Invertierung von Anton Tschechows Debüterzählung „Die Steppe“, in der ein Onkel seinen Neffen im Gegenteil ins Internat bringt – eine Rückabwicklung, wenn man so will, des russischen Kulturerbes auf ostukrainischem Boden.
Diese Selbsterfindung des Ukrainers aus dem Geist des Widerstands ist nicht zuletzt eine Parabel auf all jenes sich als ukrainisch Begreifende, das sich spätestens seit 2014 unter permanentem russischem Beschuss aus den Trümmern des Sowjetimperiums erhebt. Die Armee der Ukrainischen Volksrepublik sei eine Armee ohne Nation und ohne Volk gewesen, sagt Zhadan. Die Armee der heutigen Ukraine wisse beides hinter sich.
Zhadan ist im Donbass aufgewachsen, die Familie sprach Russisch. Als die russische Armee jetzt kürzlich sein Heimatdorf besetzte, hat sie eines seiner Gedichte überstrichen, das dort auf eine Wand gemalt war. Daran sehe man, so Zhadan, dass es ihnen darum gehe, alles Ukrainische von der Landkarte zu tilgen. Es sei ein völlig harmloses Gedicht gewesen. Aber es ist eben auch so: Etwas Politischeres als die ukrainische Sprache ist in der Ostukraine derzeit kaum denkbar. Seit Kriegsbeginn habe sich unter Charkiwern eine neue Redeweise entwickelt, sagt Zhadan: Die Leute hätten angefangen, Ukrainisch zu sprechen, um unmittelbar anzuzeigen, auf welcher Seite sie stehen. Und sie sparten in ihren Gesprächen bestimmte Themen aus. Niemals würde ein Charkiwer in einer privaten Unterhaltung die Stellungen ukrainischer Verbände laut aussprechen. Seit Monaten regnen jetzt schon die russischen Raketen von Belgorod aus auf Charkiw, um Mitternacht geht es meistens los. Wenn man eine Wohnung in einem der oberen Stockwerke habe, könne man die Raketen heranfliegen sehen, und habe dann zwei, drei Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen oder die Einschläge in einem anderen Viertel zu beobachten.
Der Suhrkamp Verlag hat jetzt Zhadans Kriegstagebuch der ersten fünf Kriegsmonate unter dem Titel „Himmel über Charkiw“ veröffentlicht, und was soll man sagen, es ist gleichzeitig das Traurigste und Erfreulichste, was es über diesen Krieg bislang zu lesen gibt. Zhadan führte dieses Tagebuch öffentlich auf seiner Facebook-Seite. Das bedeutet, dass er nicht nur Beobachtungen notiert, sondern gleichzeitig Spendenaktionen organisiert, Nachrufe auf Charkiwer Künstler schreibt, die an der Front gestorben sind, seinen Tausenden Lesern nach einer schlaflosen Nacht im Raketenregen Mut zuspricht. Als community worker ist er rund um die Uhr im Einsatz.
„Hallo allerseits“, so lakonisch hebt der erste Eintrag am 24. Februar an, dem ersten Kriegstag. Zhadan und die Band geben bekannt, dass sie nicht vorhaben zu fliehen, sondern nach Charkiw zurückkehren werden, „denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien und hier gehören wir hin.“ Die Konzerte seien zwar bis auf Weiteres abgesagt, aber jetzt gelte es, die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen: „Freunde, vergesst nicht: Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren.“
Vier Tage später heißt es: „Die Russen machen sich gar keine Vorstellung davon, was sie hier erwartet.“ Sie seien „gekommen, um uns von uns zu befreien“. Die Kultur habe in diesem Krieg eine vernichtende Niederlage erlebt und zwar die Kultur Dostojewskis und Tolstois: „Und ich kann nicht einmal Schadenfreude empfinden. Denn die Niederlage der Kultur bedeutet in der Realität – von Grad-Raketen verbrannte Zivilisten.“
Von Charkiw sind es nur 40 Kilometer zur russischen Grenze, deshalb sei der Irrtum weitverbreitet, dass es sich im Herzen um eine russische Stadt handele. Die Russen glaubten es, die EU glaube es und sogar viele Ukrainer glaubten es. Von Lwiw im Westen heiße es wiederum häufig, es handele sich eigentlich um eine polnische Stadt. Darin tritt das ganze Dilemma ukrainischer Staatlichkeit im Grunde schon hervor: Sie wird von allen Seiten als instabiles, vorübergehendes Phänomen betrachtet. In Wahrheit sei es so, sagt Serhij Zhadan, dass Lwiw im Westen und Charkiw im Osten den Bogen spannen, der die Ukraine zusammenhalte, „wie zwei Lungenflügel“ verhielten sich diese beiden Städte. Von dem Historiker Karl Schlögel stammt die Beobachtung, dass die Ukraine ein Europa im Kleinen sei. Ihre Nationalliteratur setzt auf den unterschiedlichsten Traditionen auf: Die Literatur, die im Westen entsteht, die Bücher von Juri Andruchowytsch und Tanja Maljartschuk, knüpft an die polnische und österreichische Tradition an, an Joseph Roth und Bruno Schulz. Auch Paul Celans Geburtsstadt Czernowitz liegt hier, auf Ukrainisch heißt sie Tscherniwzi.
Die Literatur im Osten ist sowjetischer, imperialer, utopischer. Es gab Zeiten, da hätte man die Poetiken von Serhij Zhadan und dem russischen Nationalisten Zakhar Prilepin durchaus in Beziehung gesetzt. Heute gibt Zhadan kostenlose Konzerte für ukrainische Soldaten und Prilepin ruft im russischen Staatsfernsehen dazu auf, nicht mehr so zimperlich mit ukrainischen Zivilisten umzugehen.
Es gibt irrsinnige Momente karger Schönheit in Zhadans Aufzeichnungen aus einer brennenden Stadt. Wenn er morgens Essen und Medikamente ausfährt, die er zuvor als Spenden eingetrieben hat, liegen die breiten Boulevards der Stadt postapokalyptisch leer und still da, und Zhadan erzählt davon, wie Cormac McCarthy es nicht besser könnte. Jeden Morgen steigt aus einem anderen Wohnviertel schwarzer Rauch auf. Auf den leeren Bürgersteigen huschen die „langen Schatten großer Ukrainer“ vorbei.
Er will das mit der Schönheit aber nicht hören. Es sei ein neues Geschichtsbewusstsein, dass da aufscheine, eine Neuerfindung der ukrainischen Nation. Wenn die Raketen in der Universität oder dem legendären Schriftstellerhaus „Slowo“ einschlagen, legten sie zwangsläufig die Erinnerungen an die ukrainischen Nobelpreisträger und Autorinnen frei, deren Geschichten von der sowjetischen Erzählung der Ausnahmestellung des russischen Volkes überschrieben worden waren. Der Kreis der Bedrohung schließe sich. Man werde sich klar darüber, dass man noch nie in einer freien Ukraine gelebt habe.
FELIX STEPHAN
Etwas Politischeres als die
ukrainische Sprache ist in der
Ukraine derzeit kaum denkbar
Die Ukraine sei ein
Europa im Kleinen, schrieb
der Historiker Karl Schlögel
Es gibt irrsinnige Momente
karger Schönheit in
Zhadans Aufzeichnungen
An einer Hauswand
haben die Russen
eines seiner
Gedichte übermalt
Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw.
Nachrichten vom
Überleben im Krieg.
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Jurij Durkot.
Suhrkamp, Berlin 2022. 239 Seiten, 20 Euro.
Die Frankfurter Buchmesse, zu der dieses Literatur-Spezial erscheint, ist der Ort für überraschende
Begegnungen – mit Menschen und mit Büchern. Wo aber bekommt man im Alltag die Lust aufs Lesen, Eindrücke,
Empfehlungen her? Buchhandlungen im ganzen Land und überall auf der Welt sind kleine Häfen für die Lesesehnsucht.
Auf den nächsten Seiten zeigt der SZ-Fotograf Friedrich Bungert einige der Schriftstellerinnen und Schriftsteller,
die uns in letzter Zeit beeindruckt haben, in deren Lieblingsbuchhandlungen in München, Wien und Berlin.
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einer
brennenden
Stadt
„Dies ist ein Vernichtungskrieg und
wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren“:
Ein Treffen mit Serhij Zhadan, dessen
Tagebücher aus Charkiw
schon jetzt zum Besten gehören,
was man aus der Ukraine heute lesen kann
Es herrscht immer ein gewisse Grundanspannung, wenn man als westlicher Journalist Serhij Zhadan gegenübersitzt. Hauptberuflich gibt dieser Mann Ska-Punk-Konzerte mit seiner Band
Zhadan und die Hunde. In seinem Zweitberuf als bedeutendster ukrainischer
Schriftsteller seiner Generation schreibt er Romane, in denen westliche Journalisten Nebenrollen als vertrottelte Gaffer
einnehmen, die ukrainischen Frauen hinterhersteigen und ahnungslose Fragen stellen.
In seinen frühen Gedichten hatte man auch schon den Eindruck, dass sich darin eine derbe, schlammige, besoffene Männlichkeit absichtsvoll absetzte von der parfümierten, selbstbezogenen Empfindsamkeit des Westens. Und auch heute noch rechnet man unwillkürlich jederzeit damit, dass er mitten im Satz aufsteht, um sich dem Partisanenkampf anzuschließen. Man muss seine Fragen schnell stellen, sonst ist er womöglich einfach weg.
Für Harold Bloom war der „strong poet“ jemand, der seine Künstlerperson aus der Angst erschuf, seinen literarischen Vorbildern zu ähnlich zu sein. Serhij Zhadan ist ein „strong poet“ auch in dem Sinne, wie man ein „strongman“ ist.
Eine Geschichte, die den interventionistischen Dichter Serhij Zhadan gut charakterisiert: 2018 nahm er einmal an einem deutsch-ukrainischen Autorentreffen in Mariupol teil und obwohl er der mit Abstand prominenteste Autor war, sagte er während des ersten Konferenztages kein Wort und verunsicherte die ganze Runde. Den zweiten Tag schwänzte er ganz und als er am dritten Tag gut gelaunt und erfrischt wieder an seinem Platz saß, kam raus, dass er an die Front gefahren war, um den Tag stattdessen mit ukrainischen Soldaten zu verbringen, die sich dort Russland entgegenwarfen und die ihn natürlich alle aus dem Fernsehen kannten. Bisschen Selfies machen, bisschen quatschen, bisschen traurige Lieder singen.
Im selben Jahr erschien auch „Internat“, der Roman, der ihn in ganz Europa bekannt machte. Es geht dort um einen Mann mittleren Alters, mittleren Charakters und mittlerer Ambition, der seine Feierabende am liebsten vor dem Fernseher verdämmert, aber eines Morgens vor die Tür tritt und von Soldaten und Checkpoints umgeben ist. Während der Besatzung, deren Ursprung nie näher erläutert wird, entdeckt er auf einmal Qualitäten an sich, mit denen er selbst am allerwenigsten gerechnet hätte: Wagemut, Tapferkeit, Widerstandsfähigkeit. Ihm kommt der Gedanke, dass er in der Nähe noch einen Neffen im Internat hat, und kämpft sich durch das wüste Land, um den Jungen rauszuholen. Der Roman ist nicht zuletzt eine listige Invertierung von Anton Tschechows Debüterzählung „Die Steppe“, in der ein Onkel seinen Neffen im Gegenteil ins Internat bringt – eine Rückabwicklung, wenn man so will, des russischen Kulturerbes auf ostukrainischem Boden.
Diese Selbsterfindung des Ukrainers aus dem Geist des Widerstands ist nicht zuletzt eine Parabel auf all jenes sich als ukrainisch Begreifende, das sich spätestens seit 2014 unter permanentem russischem Beschuss aus den Trümmern des Sowjetimperiums erhebt. Die Armee der Ukrainischen Volksrepublik sei eine Armee ohne Nation und ohne Volk gewesen, sagt Zhadan. Die Armee der heutigen Ukraine wisse beides hinter sich.
Zhadan ist im Donbass aufgewachsen, die Familie sprach Russisch. Als die russische Armee jetzt kürzlich sein Heimatdorf besetzte, hat sie eines seiner Gedichte überstrichen, das dort auf eine Wand gemalt war. Daran sehe man, so Zhadan, dass es ihnen darum gehe, alles Ukrainische von der Landkarte zu tilgen. Es sei ein völlig harmloses Gedicht gewesen. Aber es ist eben auch so: Etwas Politischeres als die ukrainische Sprache ist in der Ostukraine derzeit kaum denkbar. Seit Kriegsbeginn habe sich unter Charkiwern eine neue Redeweise entwickelt, sagt Zhadan: Die Leute hätten angefangen, Ukrainisch zu sprechen, um unmittelbar anzuzeigen, auf welcher Seite sie stehen. Und sie sparten in ihren Gesprächen bestimmte Themen aus. Niemals würde ein Charkiwer in einer privaten Unterhaltung die Stellungen ukrainischer Verbände laut aussprechen. Seit Monaten regnen jetzt schon die russischen Raketen von Belgorod aus auf Charkiw, um Mitternacht geht es meistens los. Wenn man eine Wohnung in einem der oberen Stockwerke habe, könne man die Raketen heranfliegen sehen, und habe dann zwei, drei Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen oder die Einschläge in einem anderen Viertel zu beobachten.
Der Suhrkamp Verlag hat jetzt Zhadans Kriegstagebuch der ersten fünf Kriegsmonate unter dem Titel „Himmel über Charkiw“ veröffentlicht, und was soll man sagen, es ist gleichzeitig das Traurigste und Erfreulichste, was es über diesen Krieg bislang zu lesen gibt. Zhadan führte dieses Tagebuch öffentlich auf seiner Facebook-Seite. Das bedeutet, dass er nicht nur Beobachtungen notiert, sondern gleichzeitig Spendenaktionen organisiert, Nachrufe auf Charkiwer Künstler schreibt, die an der Front gestorben sind, seinen Tausenden Lesern nach einer schlaflosen Nacht im Raketenregen Mut zuspricht. Als community worker ist er rund um die Uhr im Einsatz.
„Hallo allerseits“, so lakonisch hebt der erste Eintrag am 24. Februar an, dem ersten Kriegstag. Zhadan und die Band geben bekannt, dass sie nicht vorhaben zu fliehen, sondern nach Charkiw zurückkehren werden, „denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien und hier gehören wir hin.“ Die Konzerte seien zwar bis auf Weiteres abgesagt, aber jetzt gelte es, die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen: „Freunde, vergesst nicht: Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren.“
Vier Tage später heißt es: „Die Russen machen sich gar keine Vorstellung davon, was sie hier erwartet.“ Sie seien „gekommen, um uns von uns zu befreien“. Die Kultur habe in diesem Krieg eine vernichtende Niederlage erlebt und zwar die Kultur Dostojewskis und Tolstois: „Und ich kann nicht einmal Schadenfreude empfinden. Denn die Niederlage der Kultur bedeutet in der Realität – von Grad-Raketen verbrannte Zivilisten.“
Von Charkiw sind es nur 40 Kilometer zur russischen Grenze, deshalb sei der Irrtum weitverbreitet, dass es sich im Herzen um eine russische Stadt handele. Die Russen glaubten es, die EU glaube es und sogar viele Ukrainer glaubten es. Von Lwiw im Westen heiße es wiederum häufig, es handele sich eigentlich um eine polnische Stadt. Darin tritt das ganze Dilemma ukrainischer Staatlichkeit im Grunde schon hervor: Sie wird von allen Seiten als instabiles, vorübergehendes Phänomen betrachtet. In Wahrheit sei es so, sagt Serhij Zhadan, dass Lwiw im Westen und Charkiw im Osten den Bogen spannen, der die Ukraine zusammenhalte, „wie zwei Lungenflügel“ verhielten sich diese beiden Städte. Von dem Historiker Karl Schlögel stammt die Beobachtung, dass die Ukraine ein Europa im Kleinen sei. Ihre Nationalliteratur setzt auf den unterschiedlichsten Traditionen auf: Die Literatur, die im Westen entsteht, die Bücher von Juri Andruchowytsch und Tanja Maljartschuk, knüpft an die polnische und österreichische Tradition an, an Joseph Roth und Bruno Schulz. Auch Paul Celans Geburtsstadt Czernowitz liegt hier, auf Ukrainisch heißt sie Tscherniwzi.
Die Literatur im Osten ist sowjetischer, imperialer, utopischer. Es gab Zeiten, da hätte man die Poetiken von Serhij Zhadan und dem russischen Nationalisten Zakhar Prilepin durchaus in Beziehung gesetzt. Heute gibt Zhadan kostenlose Konzerte für ukrainische Soldaten und Prilepin ruft im russischen Staatsfernsehen dazu auf, nicht mehr so zimperlich mit ukrainischen Zivilisten umzugehen.
Es gibt irrsinnige Momente karger Schönheit in Zhadans Aufzeichnungen aus einer brennenden Stadt. Wenn er morgens Essen und Medikamente ausfährt, die er zuvor als Spenden eingetrieben hat, liegen die breiten Boulevards der Stadt postapokalyptisch leer und still da, und Zhadan erzählt davon, wie Cormac McCarthy es nicht besser könnte. Jeden Morgen steigt aus einem anderen Wohnviertel schwarzer Rauch auf. Auf den leeren Bürgersteigen huschen die „langen Schatten großer Ukrainer“ vorbei.
Er will das mit der Schönheit aber nicht hören. Es sei ein neues Geschichtsbewusstsein, dass da aufscheine, eine Neuerfindung der ukrainischen Nation. Wenn die Raketen in der Universität oder dem legendären Schriftstellerhaus „Slowo“ einschlagen, legten sie zwangsläufig die Erinnerungen an die ukrainischen Nobelpreisträger und Autorinnen frei, deren Geschichten von der sowjetischen Erzählung der Ausnahmestellung des russischen Volkes überschrieben worden waren. Der Kreis der Bedrohung schließe sich. Man werde sich klar darüber, dass man noch nie in einer freien Ukraine gelebt habe.
FELIX STEPHAN
Etwas Politischeres als die
ukrainische Sprache ist in der
Ukraine derzeit kaum denkbar
Die Ukraine sei ein
Europa im Kleinen, schrieb
der Historiker Karl Schlögel
Es gibt irrsinnige Momente
karger Schönheit in
Zhadans Aufzeichnungen
An einer Hauswand
haben die Russen
eines seiner
Gedichte übermalt
Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw.
Nachrichten vom
Überleben im Krieg.
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Jurij Durkot.
Suhrkamp, Berlin 2022. 239 Seiten, 20 Euro.
Die Frankfurter Buchmesse, zu der dieses Literatur-Spezial erscheint, ist der Ort für überraschende
Begegnungen – mit Menschen und mit Büchern. Wo aber bekommt man im Alltag die Lust aufs Lesen, Eindrücke,
Empfehlungen her? Buchhandlungen im ganzen Land und überall auf der Welt sind kleine Häfen für die Lesesehnsucht.
Auf den nächsten Seiten zeigt der SZ-Fotograf Friedrich Bungert einige der Schriftstellerinnen und Schriftsteller,
die uns in letzter Zeit beeindruckt haben, in deren Lieblingsbuchhandlungen in München, Wien und Berlin.
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»Der Himmel über Charkiw macht klar, dass Zhadan, der Mann mit den vielen Eigenschaften, durch diesen Krieg in mindestens einer Rolle gewachsen ist. Er ist ein Chronist des Krieges. ... Er ist aber auch einer, der die Moral hochhält. Wie die Faust in der warmen Wiener Luft.« Jurek Skrobala DER SPIEGEL 20221021